Kapitel 21

Am frühen, nein, am viel zu frühen Morgen werde ich wach. Noch halb im Schlaf taper ich die Treppenstufen runter. Ich gähne und reibe mir zugleich den Sand vom ole lukøje aus den Augen. ole lukøje hat in meiner Sprache eine ähnliche Bedeutung wie der Sandmann. Gestern Abend habe ich beschlossen, ich kann nicht andauernd in meinem Zimmer hocken, darum nehme ich mein Frühstück heute im Speisesaal an der großen Tafel ein. Mein Vorhaben in Anführungszeichen habe ich gestern mit einer der Mägde in diesem Schloss besprochen. Eben diese Magd von gestern läuft mir just in diesem Moment über den Weg. Ihre Schritte hallen durch den Flur, als sie an mir vorbei eilt. Auf einmal verklingen ihre Schritte, bis ich sie wieder in meine Richtung kommend vernehme. „Prinzessin Gerda, wollt Ihr Euer Frühstück einnehmen?"
„Aber gerne doch", antworte ich schläfrig lächelnd. Mit aller Macht muss ich mir ein weiteres Gähnen verkneifen.
„Was hättet Ihr denn gern? Einen Orangensaft? Ei? Eier?", rattert sie die Möglichkeiten runter, doch nach dem Plural eines Eis schalte ich ab.
„Eine Schale Cornflakes."
„Noch mehr? Wollt Ihr einen Kakao?"
„Ach, Fräulein Pedersen, Sie kennen mich einfach zu gut. Ich nehme mit Verleib einen Kakao, ja und dazu die Cornflakes. Bringen Sie es bitte für mich in den Speisesaal?"
„Kommt sofort. Wie gut, dass ich bereits alles fertig habe."
Si verschwindet kurz hinter der nächsten Ecke und überreicht mir ein Tablet mit meinem Frühstück. Sehr gesund - hust, hust, diese Ironie. Ich und gesund passt irgendwie so überhaupt nicht zusammen. Ich bedanke mich und biege hinter der nächsten Ecke in den Saal zum Speisen. Ich setze mich an den Tisch und fange an die volle Schale Cornflakes leer zu löffeln. Nach wenigen Minuten macht sich eine Person im Raum bemerkbar. Ich schrecke hoch. „Godmorgen, prinsesse Gerda. Wie geht es Euch?"
Meine Augen bleiben an dem Mann am anderen Ende des Tisches hängen. Er kommt mir bekannt vor. Die Stimme habe ich schon mal gehört und ihn bereits zu Gesicht bekommen, da bin ich mir ziemlich sicher. Es ist... Oh stimmt! Diesen Mann würde ich immer wieder erkennen! Das am Ende der Tischtafel ist mein Ersatzprivatlehrer. Mann, ist das ein langes Wort. Sicherlich gut als Wort für Galgenraten. „Herr Hanschristensen, Sie habe ich gar nicht hier erwartet. Was verschafft mir die Ehre?"
„Unterricht, ich soll deinen Lehrer vertreten für ein paar Tage. Es erstmal in Ruhe dein Essen."
„Danke", sage ich. Mit dem Kakao spüle ich den Bissen Essen runter. Dann verkneife ich mir ein aufstoßen, auch wenn ich zu gern täte, aber ich habe schließlich einen gewissen Stolz und obendrein Manieren.
„Ich kann währenddessen schon mal ein bisschen erzählen, wenn das okay für dich ist. Also ich möchte dir eine Liebesgeschichte auftischen, da ich seit dem letzten Mal weiß, dass du dich sehr für das Leben in einer richtigen Schule interessierst. Es gibt nicht nur den Abschlussball am Ende der Schule, sondern auch zahlreiche Aktionen, wie zum Beispiel um die Zeit vor Weihnachten. Das eine Jahr hat die Schule, an der ich war, einen Weihnachtsmarkt veranstaltet oder die älteren Schüler verkaufen Weihnachtsmänner, die sie dann in der Schule verteilen. Sowas gibt es ebenso für Valentinstag. An Valentinstag konnte man eine Rose kaufen oder warte, nein, nennen wir es lieber bestellen. Wir nennen diesen Jemand jetzt Finn. Dieser Finn kauft für seine Freundin Jonna eine Rose, von der sie bislang noch nichts weiß. Sie erfährt es erst, als direkt am Valentinstag Rosen verteilt werden und sie eine bekommt. Soweit das Prinzip verstanden?"
„Ja", mampfe ich. Okay, nein, keine Prinzessin. Und definitiv nicht sexy. Fürs nächste Mal merken: Runterschlucken, bevor man spricht. An Valentinstag verteilen die Schulen Rosen. Alles Roger, Roger. Oder wie geht das? Ich gucke eindeutige zu viele Filme.
„Es war also einmal kurz vor Valentinstag. Mein bester Freund Nielas hatte eine Rose gekauft, jedoch wusste niemand etwas davon, denn er hatte es keinem verraten. Warum auch? Es ist seine eigene Entscheidung. Keiner wusste, dass er eine gekauft hatte und niemand wusste somit, für wen die Rose war. An Valentinstag flatterte Amor zur Tür hinein. Nebenbei lief ein romantisches Liebeslied. Ich glaube, es war Love me like you do von Ellie Goulding. Jedenfalls bekam mein anderer Kumpel Theyge auf einmal ganz unerwartet eine Rose. Wir alle fragten uns, woher sie kam. Diese Rose. Wer hatte sie ihm gekauft? Die Mädchen, die in Frage kamen, verneinten allesamt. Wer also könnte es gewesen sein? Wir waren nicht auf die Idee gekommen, es könne auch ein Junge sein. Doch am Ende des Tages löste der mysteriöse Käufer das Mysterium auf. Es war..."
„NIELAS!", rate ich laut.
„Falsch, äh richtig. Woher...? Egal, du bist zu intelligent dafür. Trotzdem würde ich die Geschichte gerne zu Ende bringen, danke." Bei den nächsten Worten wird seine Stimme geheimnisvoll: „Nielas stand am Ende des Tages vor der Tür von Theyge und lüftete das Geheimnis, packte all seinen Mut zusammen, stellte sich auf die Zehenspitzen, da Theyge sehr viel größer war und küsste ihn auf den Mund. Schüchtern, wie er war, beendete er den Kuss, aber Theyge zog Nielas wieder zu sich und drückte ihm seine Lippen auf den Mund. Der Kuss wechselte von liebevoll-sanft zu stürmisch-heiß. Sie hielten ihre Beziehung jedoch geheim, bis eines stürmischen Tages der ganzen Sache auf die Sprünge kam. Ich habe sie küssend unter der Tribünen gefunden und dieser Moment hat leider fast deren Beziehung ruiniert, da Theyge behauptete, er wurde von Nielas geküsst und wollte das eigentlich nicht. Darum entschuldigte er sich zum nächsten Valentinstag mit einer Rose bei Nielas. Natürlich wusste auch dies wieder niemand, erst als Nielas eine Rose bekam. Theyge hatte aber nicht einfach eine billige Rose gekauft, sondern eine riesige Überraschung gekauft, um ihm einen Heiratsantrag zu machen. Nachdem Amors Gehilfin die Rose verteilt hatte, begann die Überraschung. Amor höchstpersönlich kam in den Raum und schoss einen Pfeil auf Nielas. An jenem Pfeil war ein Ring befestigt. Alle schauten gespannt zwischen den zwei Jungs hin und her, bis der Applaus das schmatzende Geräusch der aufeinander stoßenden Lippen übertönte. Nielas hatte ja gesagt. Und jetzt rate mal, wer der Hochzeitsplaner wurde."
„Du. Ich meine Sie. Sie waren der Hochzeitsplaner und zugleich bestimmt der Trauzeuge beider Männer, oder? Aber warte, ging das überhaupt schon? Wie alt waren die zwei?"
„Immer langsam. Die zwei waren zu dem Zeitpunkt achtzehn und siebzehn. Unter achtzehn hätten sie eine Unterschrift der Eltern gebraucht, darum haben sie noch fast zwei Monate gewartet, bis Theyge auch achtzehn war. Jepp, ich war Hochzeitsplaner, Trauzeuge, der Junge für alles. Die Hochzeit war ein Traum gewesen, jeder musste weinen."
„Du ebenfalls?", hake ich nach.
„Natürlich, Männer können genauso heulen wie Frauen. Außerdem sind es meine besten Freunde. Was lernen wir daraus, Prinzessin?"
„Was wir daraus lernen...? Na ja, dass es wahre Liebe wirklich gibt und es ist egal, wie alt man ist. Es gibt beispielsweise Gerüchte, dass Schneewittchen bereits mit Felix verheiratet war, als sie noch Kinder waren und sie Hochzeit zusammen gespielt haben. Angeblich kannten sich die zwei von früher aus ihrer Kindheit, konnten sich jedoch nicht mehr daran erinnern", schwärme ich davon, wovon ich insgeheim träume. Ich möchte diese Art der Liebe. Dieses Vertrauen, das über Jahre gewachsen ist, dieses Verliebtsein wie am ersten Tag, diese Liebe, diesen Zusammenhalt, all das ist es, wovon ich träume, ich hätte es auch. Genauso eine Ehe wünscht sich doch jemand.
Er neigt den Kopf. „Eigentlich wollte ich auf was anderes hinaus, nämlich dass wir definitiv zu viel Liebe in unserer Welt haben, zu viele Happy-Ends", behauptet er bestimmt.
„Haben Sie was gegen Happy-Ends?"
„Nein, überhaupt nicht." In der Sekunde, in der sich mein Ersatzprivatlehrer auf den Stuhl neben mir plumpsen lässt, geht die Tür auf und eine andere Magd räumt in einer Zeit unter einer Minute den Tisch zum Lernen frei. „Wollen wir heute hier lernen?" Herr Hanschristensen macht es sich in seinem Stuhl bequem, verschränkt die Arme hinter seinem Kopf. Er ist noch ein junger Lehrer, den ich auf höchstens Mitte dreißig schätze.
„Können wir machen. Ich habe eben das Siezen vergessen, tut mir leid."
„Nicht schlimm." Unser Gespräch wird je für beendet erklärt, als er in seiner Ledertasche kramt und Stifte sowie Hefte herausholt. Oh Backe, das sieht mir nach Mathematik aus. Igittigitt. Muss er mir das antun? Mathe ist nicht gerade meine Stärke, aber vielleicht kann er mir da ja so weiterhelfen, dass ich endlich und endgültig verstehe. Ich glaube, Mathe und Physik sind die Fächer, die zwischen mir und meinem Abitur stehen. So ein Scheiß. Wofür braucht man diesen Mist? Mathematik kann ich vielleicht noch nachvollziehen, doch nicht Physik.
Herr Hanschristensen legt einen Zettel auf den Tisch, auf dem in fetten Buchstaben TEST steht. Super. Kann der Tag noch besser werden? Ich Asse meinen Kopf auf den Tisch fallen und greife von der Position aus nach einem Bleistift. Danach setze ich mich wieder normal hin und sehe mir die Aufgaben an. Die h-Methode, die angewendet werden muss. Doppelt super. Erst hämmere ich mir den Stift gegen die Stirn, bis mich der Lehrer mit seinem Blick bittet, es zu lassen, dann entscheide ich mich dafür, auf dem Ende des Stiftes zu kauen. „Gerda...", knurrt er. Verwirrt sehe ich hoch. Mein Lehrer steht auf und ab da kapiere ich gar nichts mehr. Seine Lippen liegen auf meinen, seine Zunge verlangt Einlass, seine Hand wandert meinen Körper hinauf. Es fühlt sich gut an, doch ich werde das Gefühl nicht los, dass es irgendwie nicht stimmt. Dass es nicht richtig ist. Mein Lehrer sieht zwar heiß aus, aber er ist nicht das, was ich möchte, was ich brauche. Glaube ich. Trotzdem lasse ich ihn machen. Ich lasse mich von meinem Lehrer küssen, dessen Vorname mir nicht einmal bekannt ist. Halt warte. Ich wiederhole diesen Satz in Gedanken erneut. Ich kenne seinen Vornamen nicht einmal... Ich drücke ihn von mir. Jetzt ist er es, der mich verwirrt sein. Als Antwort für den Korb, den ich ihm gegeben habe, frage ich ihn, wie er heißt. Er antwortet, er heiße Sven. Na gut. Von mir aus kann er mich wieder küssen. Es sind zwar nicht die Gefühle, die ich mir erhofft habe bei meinem ersten Kuss, aber schlecht fühlt es sich nicht an. Außerdem wer weiß, ob es andernfalls je jemanden geben wird, der mich küssen will. „Darf ich...?", in seinen Augen steht die eine Frage geschrieben, die ich ihm mit einem Nicken beantworte. Im nächsten Moment setzt er sich auf seinen Stuhl zurück, nur um mich auf seinen Schoß zu ziehen. Mh, das fühlt sich weiterhin gut an, nicht schlecht. Oder rede ich mir das bloß ein? Er ist mein Lehrer... Doch dieser Gedanke kommt mir wohl etwas sehr spät. Seine Zunge dringt in meinen Mund ein. Mir kommt ein leichter Würgereiz, den ich zu unterdrücken schaffe, aber beim nächsten Stoß seiner Zunge kehrt der Reiz zu Würgen zurück. Ich könnte mich wehren, wenn ich wollte, aber will ich denn? Will ich das wirklich? Ich rede mir ein, dass es daran liegt, dass es mein erster Kuss ist. Ganz bestimmt ist das der Grund. Wieder wandert seine Hand über meinen Rücken, diesmal landet sie auf einmal auf meiner Brust, umschließt diese. Nach meinem Geschmack geht mir der Kuss gerade extrem viel zu schnell. Hilfe! Oder nicht? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ich will, ob ich das will oder nicht. Ich bin heillos überfordert, als er mein T-Shirt nach oben zieht und sein Gesicht in meinem Dekolleté vergräbt, als ich urplötzlich von ihm weggezerrt werde. Die grünen Augen meines Bruders blitzen mir wütend entgegen. Ich habe leider keine grünen Augen, sondern blaue, dennoch sehe ich ihn ebenso angriffslustig an. Was habe ich bitte getan? „Du Drecksschwein, lass die Finger von meiner Schwester!", brüllt er durch den Saal. Als er sich versichert hat, dass ich ja in einer Ecke stehe, stürzt er sich auf den Lehrer. Eins... zwei... drei... Der erste Schlag fällt, der Lehrer landet einen Treffer, Kay fällt zu Boden. Bam. Erste Runde geht an den Lehrer mit dem Sixpack. Oh Scheiße, der hat ja wirklich ein Muskelpacket. Und der hat mich geküsst? Echt jetzt? Und mir hat es nicht gefallen? Ich bin definitiv krank in der Birne. Die nächste Runde beginnt mit einer Stolperfalle, die mein Bruder meinem Lehrer mit seinem Bein stellt. Jetzt kabbeln sie sich am Boden, versuchen den jeweils anderem mit einem Faustschlag k.o. zu schlagen. Mir reicht's. Der Geduldsfaden hat sich in Luft aufgelöst. Ich kann verdammt nochmal für mich selber kämpfen! Darum begebe ich mich mitten ins Geschehen, um zu versuchen, Kay aus dieser dümmlichen Lage zu reißen. Ich ziehe an seinem Arm, als er sich aufrichtet und ich seinen Kopf mit voller Wucht am Kinn abbekomme. Sein Dickschädel tut verdammt weh, autsch. Zu allem Übel hat er es noch nicht mal bemerkt, kämpft stattdessen lieber weiter, bis Sven ihm in die Magengrube tritt. Kay spuckt Blut, schmeißt sich jedoch wieder auf Sven. Sven versucht einen Treffer, der ihm nicht gelingt. Die zwei sind derbe schwach. Jedes kleine Mädchen ist treffsicherer als die beiden. Dennoch gehe ich lieber nicht nochmal dazwischen. Den Job übernimmt stattdessen Mille für mich, sobald sie zur Tür hereinkommt und ihre Hände zusammenschlägt. Ihr Freund alias mein Bruder und der Ersatzprivatlehrer gefrieren zu Eis. „Was hast du wieder angestellt, Gerda?"
„Ich?!"
„Ja, DU!", wettert sie. „Du bist ja immer die liebe, kleine Gerda, dabei machst du genauso viel Ärger wie jeder andere Mensch! Also, was ist passiert?"
„Ich mache Ärger? Aaa, ja, klar. Wer war es, der Kay zu einem Eisblock gemacht hat, als er noch klein war und jetzt mit ihm vögelt? Oh warte, das kann ich gar nicht sein, denn ich bin zum einen seine Schwester, die niemals mit ihm Sex haben würde, selbst im Traum nicht und zum anderen habe ich keine Fähigkeiten, die alles in meiner Nähe zu Eis erstarren lassen! Ich bin auch keine blöde Eishexe, eine Zicke, ja vielleicht, aber keine blöde Kuh wie du!!!"
Mille bläst ihre Nase auf. Ein Zeichen dafür, dass sie versucht ruhig zu bleiben, ohne es auf die Reihe zu bekommen. Gleich wird sie sich auf mich stürzen. Ob das verbal oder handgreiflich passiert, ist mir noch unklar. Statt auf mich loszugehen, klatscht sie mit den Händen. Die, bis sie kam, raufenden Jungs werden aus dem Eis befreit. Sven fällt auf den Boden und sieht sich überrascht um, daher gehe ich zu ihm. Mein Bruder wird von seiner Freundin zur Tür raus gezerrt. Mein Lehrer fröstelt ein bisschen, als er mich ansieht. Entschuldigend sehe ich ihn an. Er greift nach meiner Hand. „Das tut mir leid, Gerda."
„Schon okay", murmel ich. Da ich nicht weiß, ob ich jemals wieder die Chance dazu haben werde, versuche ich mich an einem verführerischen Wimpernklimpern.
„Nichts ist okay, ich hätte dich nicht küssen dürfen. Du bist meine Schülerin. Aber... als du in deinem Schlafanzug vor mir saßt, ohne BH und auf deinem Stift gekaut hast... Ich begehre dich, Gerda und dennoch hätte das niemals passieren dürfen. Und ich finde Happy-Ends übrigens nicht schlecht, nur wollte ich eins für dich und mich." Warte, was? Ein Happy-End für dich und mich? Was geht denn in seinem Kopf ab? Wir kennen uns noch nicht mal wirklich und... und ich weiß, was ich gesagt habe, aber das nehme ich alles zurück. Das klingt nach einem dermaßen schnulzigen Spruch, dass ich glaube, er ist ein Aufreißer, der in meinem Bett landen will, warum auch immer. Meine Hände balle ich zu Fäusten, um ihn nicht an die Gurgel zu gehen. Er ist es nicht wert. Er sieht das scheinbar anders und küsst mir auf die Wange. Tief... durchatmen... Er verschwindet sicher gleich.
„Du bist gefeuert!!", bölkt mein Bruder von draußen von der Tür her.
„Ich gehe besser, meine Prinzessin." Er drückt mir noch einen Kuss auf die andere Wange, dann klettert er aus dem Fenster in den tiefen Schnee draußen.
Die Tür geht auf. Kay starrt mich finster an, die Arme vor der Brust verschränkt. In Gedanken zähle ich von zwanzig runter, bevor er austickt. Aber um das allen - mir eingeschlossen - zu ersparen, liste ich seine Worte gar nicht erst auf. Sobald er eine Pause einlegt, um zu schlucken, nutze ich meine Chance. Ich schreie ihn an. „Was sollte das, Kay? Ich kann bestens auf mich alleine aufpassen, wie oft noch? Ich benötige keinen großen Bruder, der nur dann erscheint, wenn er gerade Bock dazu hat. Weißt du, wann ich dich gebraucht hätte? Als unsere Eltern tot waren, als ich kurz davor entführt zu werden, da hätte ich dich gebraucht. Das hier hätte ich ebenso alleine hinbekommen. Ich bin nicht mehr die kleine, verletzliche Gerda. Ich bin stärker als du, also ja, ich bin mir sicher, ich hätte es besser geregelt. Genauso wie alles! Ich kann mein Leben alleine regeln. Einen doofen großen Bruder brauche ich nicht. Lass mich einfach in Ruhe, kapisch?!" Mit diesen Worten lege ich einen super genialen Abgang hin, indem ich mich zusätzlich noch wegdrehe, durch die Tür in den Flur rausche, um die Tür hinter mir knallen zu lassen. Rums und die Tür ist zu. Ich nenne es den besten Abgang meines Lebens. Polternd laufe ich die Treppen nach oben in mein Zimmer. Dort angekommen stopfe ich ein paar Sachen in einen Rucksack. Dann ziehe ich mich um. Ein dicker Pullover, eine Strumpfhose und darüber eine Latzhose, zu guter Letzt noch dicke Socken über die normalen Socken. Jetzt nur noch die Schuhe und die Jacke. Mit einem Pfiff bestelle ich Flocke zu mir. Sie krabbelt in meinen Rucksack. Ich setze mir den Rucksack auf den Rücken, nachdem ich meine Kuscheljacke anhabe. Mir schnürt sich die Kehle zu bei dem Gedanken, an das, was ich vorhabe. Ich öffne das Fenster und setze mich auf die Fensterbank. Als ich mir einigermaßen sicher bin, das durchzuziehen, schwinge ich mich über das Fenster. Scheiße, ist das kalt. Besser ich lenke mich damit ab, wie arschkalt es ist, anstatt mir um die Höhe sorgen zu machen. Bloß nicht runter gucken, bloß nicht runter gucken... bloß nicht... Faen, ich habe hinunter gesehen. Das ist viel zu hoch. Warum muss mein Zimmer nur so hoch sein? Darauf war ich nicht vorbereitet. Okay, Atmung, beruhige dich. Ich schaffe das schon irgendwie. Wenn ich mir beim Sturz in die Tiefe was brechen sollte, habe ich wenigstens einen triftigen Grund, meinem Bruder aus dem Weg zu gehen. Vielleicht kann ich dann wieder bei Anna einziehen. Oder ich überlebe den Sturz nicht... Hoffen wir, dass es „nur" bei der ersteren Variante bleibt. Ein Zurück gibt es nicht mehr, deshalb schlucke ich den Kloß runter, ignoriere das Jammern meines Polarfuchses. „Wir haben es gleich geschafft", beruhige ich sie, versuche es jedenfalls. Flocken Aufprall würde wenigstens durch den Schnee unter uns und die ganzen Sachen in meinem Rucksack gemildert werden. Gedanklich höre ich bereits die Rufe von Kay, daher klettere ich schneller die Hauswand runter. Gar nicht so leicht, wenn man bedenkt, dass die Wand vollkommen aus Eis besteht. Ich hätte mir lieber ein Seil an mein Bett binden sollen und daran herunter klettern soll, aber wie immer bin ich nicht sonderlich schlau vorgegangen. Dann passiert es - ich rutsche ab, verliere den Halt. Ich rudere mit den Armen und will schreien, als mich der Wind erfasst und sicher auf dem Boden absetzt. Wow, was war das denn? Ich drehe mich in alle Richtungen. Mich sollte nichts mehr überraschen, ich lebe in einer Märchenwelt voll mit Magie, magischen Wesen und Magieforschern. Das Rundumpaket sozusagen. Trotzdem wüsste ich gerne, wie das möglich ist. War das... Findus? Der geheimnisvolle Briefeschreiber? Hat er mich gerettet? Wie hat er doch gleich gesagt? Er ist quasi der Winter. Ob er das war? Ich drehe mich immer noch um meine eigene Achse, in der Hoffnung jemanden zu entdecken, der mich gerettet haben könnte.
Ich überlege... Nein... Oder? Ist das möglich? Wer weiß. Einfach weil mir gerade danach ist, es auszuprobieren, schreibe ich eine Nachricht in den Schnee. Findus? Warst du mein Retter? Dabei fällt mir auf, dass mir die Finger abfrieren, weil ich natürlich die Handschuhe vergessen habe. Wieder mal sehr intelligent, Gerda.
Neben meiner Nachricht erscheint plötzlich die Antwort: Ja. Geht es dir gut? - F.
Ich bejahe seine Frage und bedanke mich für seine Hilfe. Ich habe einen Schutzengel, der den Winter beherrscht. Der Winterengel. Passt doch. Findus, der Winterengel. Ist das zu fassen? Ich, einen Schutzengel? Wow. Wow. Genial! Da ich nicht weiß, wo er sich befindet, strahle ich mit meinem besten Lächeln in den Himmel und bewege meine Lippen zu einem weiteren Danke, dann mache ich mich auf meinen Weg durch den Schnee. Flocke, die meinen Takten scheinbar nicht mehr über den Weg traut, springt aus meinem Gepäck heraus. Lachend stapfe ich durch die schneeweiße Wunderwelt. Mein Winterengel. Statt des Sturmes von den Tagen vorher, schneit es leicht. Eine Schneeflocke bleibt glitzernd auf meiner Nase liegen. Das nenne ich wahre Magie. Flockenzauber. Schneewunder.

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