Kapitel 32

Und was ist mit Ihrem Ausweis?"
Hunter brettert ein paar Groschen auf die Theke und hebt zum Abschied die eine Hand. Mit der anderen umfässt er meine. „Geht es morgen? Wird zwar schwer für meine Frau werden, solange auf ihre Bücher zu warten, aber das wird schon", dabei drückt er kurz meine Hand.
„Ja, das geht", antwortet die Bibliothekarin entnervt.
Unauffällig schnell zieht er mir den Mantel an. Ich schnüre mir die Schuhe. Zu guter Letzt setze ich mir noch die Mütze auf. „Vielen Dank, bis dann."
Gemeinsam verlassen wir die Bücherei. Gleichzeitig lassen wir endlich die Gruselfrau hinter uns. Der Jäger taxiert mich auf unseren Schlitten, doch ich will aufstehen.
„Bleib sitzen. Ich biete dir den Service, dich zu entspannen. Du brauchst dich nur zurücklehnen, dich von mir nach oben ziehen lassen."
„Sicher?", gehe ich sicher.
„Jo."
Also bleibe ich sitzen und lasse mich von ihm hochziehen. Unterdessen tippel ich mit den Fingern auf das Holz des Schlittens. Unbedingt will ich dieses Buch lesen. Hoffentlich hat es wichtige Informationen über diese Fehde.
„He, beruhig dich, okay? Du kannst es gleich lesen, versprochen."
Toll. Das beruhigt mich total.
Sobald wir unser Haus erreichen, stürme ich hinein. Dort lasse ich mich unter die Fensterbank fallen und ziehe das gelbe Buch hervor. Fürs Erste blättere ich einmal schnell durch. Bei einer Seite bleibe ich hängen. Liebes Tagebuch... Überall standen diese Worte. Es waren Tagebucheinträge. Unter jedem Text stand kein geringerer Name als Cruella. Besonders heftig fand ich einen Text, in dem sie beschrieb, wie ihr großer Bruder Cem starb. Man machte Roger dafür verantwortlich, welcher der leibliche Vater des Jungens war. Mein Großvater? Niemals. Er würde Anita nie betrügen, dafür liebt er sie zu sehr. Doch scheinbar ist es wahr. Womöglich geschah das alles vor der Zeit mit meiner Oma... Aber wie?? Wie passen diese Informationen alle zusammen? Auf der nächsten Seite lese ich dann etwas von einem Schuss und wie ein gewisser Florian zu Boden stürzt. Mein Vater... warum steht sein Tod in ihrem Buch? Bevor ich dem Geheimnis, dem großen Ganzen jedoch auf die Spur gehen kann, entnimmt mir Hunter das Buch und zieht mich im Zuge dessen auf die Beine. „Zieh dich erstmal aus", fordert er mich auf.
Wie gebannt starre ich auf das gelbe Buch in seinen Händen und gehorche. Einen Streit kann ich gerade nicht gebrauchen, sofern er weiterhin meine Familiengeschichte in den Händen hält. Auf Zack will ich mir meinen Mantel ausziehen, aber dieser will nicht so, wie ich will. Also hilft mir der Jäger kurzerhand aus der Kleidung für die Kälte draußen. „Mal langsam, kleines Reh."
Da ich mich nicht dagegen wehre und er mir erst das Buch geben wird, wenn ich halb nackt durch die Hütte renne, nimmt er mir als nächstes die Mütze ab, um mir folglich die Schuhe von den Füßen zu ziehen. Dann, als ich gerade nach dem Buch greifen will, drückt er mich gegen die nächstbeste Wand. Fordernd - glaube ich zumindest, dass man das so nennt - presst er seinen Mund auf meinen. Sein gesamter Körper hält mich an der Wand fest, sodass ich nicht entweichen kann. „Hunter...", keuche ich sprachlos und es klingt viel zu sehr nach einem Mädchen, anstatt nach einem Jungen.
„Jay, mein kleines Reh...", knurrt er.
Mit den Händen gleitet er unter mein Kleid, wobei er es dabei irgendwie schafft, mich dabei nicht einmal aus den Augen zu lassen. „Das wollte ich schon tun, seit wir in der Bücherei waren", kommt es von ihm.
Ich nicke nur, weil ich unfähig bin, etwas anderes zu sagen oder ihm gar zu widersprechen. Das... Mein Gott... das löst irgendwas in mir aus. Gefühle, die ich nur noch nie zuvor kannte und wieder dieser Gedanke, dass ich ihn kenne von irgendwoher. Bei meinen geliebten Eichhörnchen... Was hat das um des Eichhörnchens Himmel zu bedeuten? Was bedeuten diese Gefühle? Mein Unterleib fühlt sich ganz komisch an. Also nicht komisch komisch, aber halt komisch im Sinne von ungewohnt, aber nicht schlecht. Versteht ihr, was ich meine? Oh Mann, oh Mann. Ich verstehe mich selbst nicht mal mehr. Mein ganzer Körper kribbelt, doch nicht wie kleine Schmetterlinge, sondern eher wie dunkle, garstige, partysüchtige Schmetterlinge. Oder wie Eichhörnchen, deren kleine Füßchen über meinen Körper tippeln. Das ist einfach nur unglaublich eichhörnchenmäßig bombastisch, dass ich es nur zu erklären weiß. Wie auch immer. Es sind unbeschreiblich tolle Gefühle, die da eine Achterbahnfahrt durch meinen Körper machen. Doch spätestens jetzt wird mir klar, dass mich Hunter nie wieder gehen lassen wird.
Diesmal landen seine Lippen wieder auf meinen, aber es ist schroffer als beim ersten Mal. Trotzdem gefällt es mir, was mir ein Stöhnen entlockt. „Dieses Stöhnen möchte ich heute nur zu gerne noch ein paarmal von dir hören, Süßer."
Während ich nichts mit mir anzufangen weiß, streichelt er meinen Bauch unter dem Kleid und legt seine kratzigen - durch den Bart sowie die Eiseskälte - Lippen an meinen Hals, wo er nach einem Moment der Stille anfängt zu saugen, wodurch mein Körper ungewöhnliche Bewegungen macht. Er beugt sich ihm entgegen, will mehr. Aber will ich mehr? Mein Körper vielleicht. Aber bin ich schon bereit? Nein. Ich kann das nicht. Noch nicht. Doch was macht man in so einer Situation? Es versuchen zu sagen? Ein Ding der Unmöglichkeit, wenn man meinen Körper bedenkt, der mir, seinem eigentlichen Besitzer, nicht mal mehr gehorcht. Ihn aufzuhalten? Wie? Ich will ihn schließlich nicht verletzen. Gerne hätte ich S.E.X., aber ich weiß nicht, ob mit ihm und ob jetzt und... Heiliger Eichhörnchenmist, bin ich überfordert! „Hunter... ich... bitte..."
Plötzlich klingelt es und ich - zwischen Wand und dem Jäger wie ein Sandwich eingequetscht - erleide einen halben Herzinfarkt. Zum Glück nur einen halben.
Genervt lässt er mich endlich wieder frei atmen. Hunter sieht meine Schnappatmungen, als er auf dem Weg zur Tür ist, doch grinst darüber nur schelmisch. Als er die Tür öffnet und zur Seite tritt, weiß ich, dass wir Besuch haben. Im nächsten Moment springt mir mein Hund in die Arme. Ein lachender Jules folgt ihm. Dahinter kann ich noch Tascha erkennen, denn dann versperrt mir Pongo bereits die Sicht. Freudig schleckt er mich ab, aber als er mein Gesicht küsst, verändert sich sein Freude. Kann ein Hund das spüren, wenn man jemanden vorher geküsst hat? Als hätte er diese Frage gehört, nickt er. Oh mein Gott, wie peinlich. Wahrscheinlich riecht er nur den Duft von Hunter auf und an mir.
Jules zieht mich auf die Beine, nachdem ich meinen Hund nochmal gestreichelt habe. „Hallo, Jay. Wie geht es dir?"
„Ganz gut."
„Das ist schön. Wir haben uns gerade fast selbst eingeladen, ich hoffe das war okay."
„Klar." Ich schaue zu Hunter, der wie ausgewechselt aussieht. „Wir wollten eh etwas essen. Mögt ihr nicht mitessen?"
„Nein, tut euch keinen Zwang an. Ich glaube, wir sind heute sehr ungelegen gekommen."
„Nicht doch", verneint er. Überhaupt nicht ungelegen. Hätte zwar gerade meine Jungfräulichkeit verloren, aber es war wirklich der perfekte Moment, da ich so eine Unterbrechung gefunden hatte.
„Sicher? Du bist ziemlich rot im Gesicht und ganz ehrlich, ich will nicht wissen, was ihr bis eben so getrieben habt", witzelnd bewegt er seine Augenbrauen.
„Nein, nein, das haben wir nicht getan", wehre ich ab. Hilflos schaue ich zu meinem Schein-Ehemann. Doch was macht er? Natürlich. Mir nicht helfen. Stattdessen sagt er allen Ernstes: „Es ist das, wonach es aussieht. Ich und meine Frau hätten gerade den weltbesten Sex gehabt."
Während sich die beiden noch ein bisschen weiter doofe Sprüche an den Kopf werfen, legt Tascha kopfschüttelnd ihren Arm um meine Schultern. „Jungs", dazu macht sie eine wegwerfende Handbewegung.
Dankeschön. Ursprünglich bin ich auch ein Junge, dennoch meine ich: „Männer" und sie lacht.
„Ah, ich hoffe, es stört nicht, dass meine Wichtel vor der Tür Wache stehen."
„Deine Wichtel? Es gibt wirklich Wichtel? In der Realität???", irritiert warte ich auf eine Antwort.
„Natürlich gibt es die. Was denkst du denn? Der Weihnachtsmann, also ich, kann all diese Geschenke nicht alleine wuppen. Glaubt mir, ich habe es versucht. Tausendmal. Na gut, ein bisschen weniger. Soooo lange bin ich schließlich noch nicht im Dienst. Aber die fünf sind nicht für die Geschenke zuständig, sondern für meine Sicherheit. Manchmal frage ich mich, warum das sein muss. Diese strengen Regelungen existieren seit das mit meinem Bestefar, meinem Großvater, passiert ist. Sagt es ihnen nicht, aber es ist manchmal echt witzig, wie sie mich beschützen, auch wenn sie so winzig sind. Felix, Niklas und Jannis sind in den nicht ernsten Momenten die trotteligsten Deppen. Gut, dass sie mit Tom und Joelle in einem Team sind. Die beiden sind die Bosse und zu fünft machen sie Job super. Falls die drei mal nicht auf den Chef hören, kommt der Boss, beziehungsweise die Bossin und spätestens dann gehorchen alle. Partys mit den sind am besten", beschreibt der Weihnachtsmann mit einem jugendhaften Lächeln.
„Das kann ich bezeugen."
„Holt sie doch rein."
„Wir würden gerne Wichtel hautnah kennenlernen."
„Außerdem sind wir gastfreundlich", ergänze ich, damit der Mann in dem roten Mantel nichts allzu schlimmes von uns denkt. Wir lügen ohnehin genug.
„Wirklich lieb von euch, Leute, aber sie bleiben besser draußen. Jules hier hat bereits einen getrunken und das wird noch krasser, wenn die dabei sind", wirft Tascha in den Raum. Ganz die Vernünftige. Der Weihnachtsmann sieht sie verwundert an, so als würde er sie mit den Augen fragen wollen, wie sie auf diesen absurden Gedanken, dass er Alkohol trinken würde, käme. Achselzuckend sieht sie zu ihm. „Vielleicht weil die drei Affen dich entgegen den Erwartungen von Tom und Joelle mit einer eigenartig aussehenden Flüssigkeit gefügig und völlig gaga gemacht haben?"
„Davon müsst ihr uns gleich erzählen. Vorher wünscht ihr euch bei meiner reizenden Frau etwas zu essen."
Bei meiner reizenden Frau... Ts, dass ich nicht lache. Alles an dieser Aussage ist falsch. Reizend? Hm, vielleicht. Meine? Nich in meinem Wissen. Frau? Nein, eigentlich nicht, wenn man erstens bedenkt, was da unten, nun ja, baumelt und zweitens... habe ich gerade keine treffenden weiteren Gründe. Aber ich kann bestätigen, dass ich eigentlich definitiv eine Junge war und bin.
„Genau. Was mögt ihr?"
„Ein Bier bitte und etwas Gutes aus eurer Welt. Was möchtest du gerne mal wieder essen, Schatz?", besitzergreifend legt Jules den Arm um Taschas Taille. Diese schüttelt jedoch nur den Kopf. „Lass das, Ju!" Dann wendet sie sich an mich: „An sich ist es mir egal, aber vielleicht hättet ihr ja ebenfalls Lust auf einen richtig guten Döner."
„Au jo, das klingt fantastisch", äußert sich mein Mann.
„Geil, einfach geil!", gibt der Mann in dem roten Mantel - ja, diesen trägt er wirklich - seinen Senf dazu.
Natascha springt auf und folgt mir, nachdem sie es angekündigt hat, in die Küche. „Das wegen Jules tut mir leid. Die Wichtel haben ih irgendwas gegeben. Ich schwöre, ich habe nichts damit zu tun."
„Das habe ich auch nicht angenommen. Wie gefällt es dir hier in... snjór?"
„Ist das echt die wichtigste Frage für dich?"
„Mitunter eine der vielen Fragen, die mir durch den Kopf schwirren", erwidere ich. Was sollte ich sonst für Fragen stellen? Wir sind uns fremd, da fragt man nicht gleich alles sofort. Das wäre ja unhöflich, dennoch lägen mir genug Fragen auf der Zunge. Wie zum Beispiel, aus welcher Welt sie kommt. Oder wie sie hergekommen ist? Wie lange sie wohl schon hier ist? Ob sie den Weihnachtsmann liebt? Wie dieser so ist? All das und noch viel mehr. Hm, klingt ein bisschen wie aus dem Kinderfilm mit „Bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter". Bei dem Gedanken muss ich grinsen. Danach habe ich früher immer gedacht, meine Spielzeuge könnten mit mir sprechen. Ich habe mich sogar absichtlich kurz auf sie drauf gesetzt, in der Hoffnung, sie würden reden, was sie selbstredend nicht taten, weshalb sie mir nach kürzester Zeit leid taten, also beließ ich es einfach dabei.
„Na gut. Obwohl ich anfangs womöglich ein kleiner Grinch war, fand ich es erst Scheiße und total bescheuert. Ich meine, wer erwartet denn, dass wenn man ein Mädchen anfährt, diese dann für eine Nacht bei sich aufnimmt und schlussendlich in den Armen des Weihnachtsmannes landet. Genau, niemand, doch eben das erwartete mich."
„Du hast jemanden angefahren?", frage ich ungläubig.
„Ja, unabsichtlich. Wirklich unabsichtlich. Allmählich glaube ich, dass sie das geplant hat. Ich, der Weihnachtsmuffel, verliebt sich in den Weihnachtsmann. Ich sage dir, das hat Fjella von Anfang an hinterlistig geplant. Achso, Fjella ist Jules' Schwester."
„Bist du denn verliebt?", stelle ich die alles entscheidende - vielleicht nicht ganz so drastisch - Frage. Trommelwirbel... Ihre Antwort daraufhin:  „Nein. Was? Ich doch nicht. Du? Du bestimmt, ja, sonst hättest du Hunter nicht geheiratet."
„Ich hoffe, du hast selbst gemerkt, wie unpassend deine Aussage ist, wenn du um den heißen Brei unsicher drum rum redest."
Natascha stemmt die Hände in die Seiten. Die ganze Zeit über - neben einer Frau in meinem Alter - werde ich das Gefühl nicht los, dass sie es ahnt. Und irgendwie hoffe ich sogar, dass sie etwas ahnt, denn das würde beweisen, dass ich erstens nicht verrückt bin und zweitens vom Charakter her ein Junge. Also flehe ich eigentlich innerlich, dass sie es bemerkt, dass sie eine Ahnung hat, wer ich sein mag, beziehungsweise was für ein Geschlecht ich bin. „Ich glaube, das Essen ist fertig", lenkt sie ungerührt ab.
Grinsend schüttel ich den Kopf. „Was denn?", dazu wirft sie die Hände diesmal in die Luft.
„Nichts", beschwichtige ich. Danach hole ich die Döner aus dem Ofen raus. Gestern habe ich ein paar Samen in die Erde gesetzt, für den Fall, dass wir keinen Ausweg finden und hier leben müssen. Die Samen hat Pongo für mich gefunden gehabt. Gleich danach hatte ich sie in die Erde gepflanzt. Entweder werden wir sie brauchen oder sie warten auf einen neuen Besitzer, sofern wir es doch schaffen sollten.
Unterdessen holt Tascha vier Teller für uns aus dem Schrank, wo wir Döner draufpacken. Stillschweigend gehen wir in den Nebenraum, in dem es sich die Jungs bereits mit einer Flasche Bier - der Name des Bieres, welcher auf der Pulle steht, lautet Gut'sGesöff - bequem gemacht haben. Als sie uns sehen, prostet Jules uns zu. Bei meinen guten Eichhörnchen, ich kann es immer noch nicht fassen, dass der Weihnachtsmann in meinem Haus zu Gast ist. Früher habe ich stets an ihn geglaubt, dann wurde es weniger, aber es war nie weg, weil wir Kinder im Märchenwald, dass wir für andere nur Fantasie waren genauso wie der Weihnachtsmann, weshalb wir, die ja wussten, dass es uns gibt, weiterhin an den gutmütigen Mann voll von Weihnachtszauber geglaubt haben. Während wir die Teller und der Förmlichkeit halber das Besteck auf dem Tisch an jedem Stuhl verteilen, plaudern die Jungs - oder Männer, wie auch immer - unbeirrt weiter. keiner der beiden kommt auf die Idee, uns zu helfen. Nachdem Hunter aber meinen finsteren Blick aufgeschnappt hat, steht er auf und will zumindest andeuten zu helfen, obwohl er Jules dabei nicht aus den Augen lässt. Mit den Augen verfolge ich das Ganze. Dass er mit einem anderen Mann spricht, lässt mich völlig unverblümt. Es interessiert mich nicht. Wieso sollte es auch? Ich würde ebenso gerne mit dem Weihnachtsmann plaudern. Und vielleicht wieder mit Hunter alleine sein... Aber was wäre wohl passiert, wären die zwei nicht gekommen? Hätte ich das wirklich noch gewollt? Zeit mit Hunter alleine, nachdem was er mir mir vorgehabt hätte? Oh Mann, das ist mir eindeutig zu viel. Mein Kopf brummt minimal. ich schüttel meinen Kopf, wie als würde ich somit meine abstrusen Gedanken loswerden. Erst da bemerke ich, wie mein Mann mich aus dem Augenwinkel beobachtet. Bevor ich den nächsten Teller abstellen kann, nimmt er ihn mir ab, dreht mich einmal im Kreis zu sich an seine Brust und wieder zurück, um daraufhin den Teller selbst abzustellen. „Wie habt ihr euch nun kennengelernt?", frage ich, um die Runde etwas aufzulockern.
„Meine Schwester hat mich reingelegt. Eigentlich hieß es, ihr wäre etwas passiert, also bin ich los, um sie zu holen und dann sollte ich auch noch neben ihr Tascha mitnehmen. So kam es dann, dass ich zwei Nervensägen an der Backe hatte. Das war ein Graus, ich sag's euch", als er endet, beziehungsweise als ich das Gespräch für mich als beendet erklärt habe, weil ich seine Worte fies finde und sie nicht meinem Bild von einem netten Weihnachtsmann entsprechen, sehe ich zu Natascha, der es nicht anders ergeht. Ohne ein Wort zu verlieren, geht sie. Einen kleinen Moment später hören wir, wie die Tür knallend ins Schloss fällt. Auf eine Reaktion hoffend schaue ich von der Richtung, wo unsere Haustür liegt, zu dem Mann im weißen Pullover, einer roten Hose und braunen Stiefeln und zurück. Da von ihm noch immer keine Reaktion kommt, balle ich meine Hände zu Fäusten und ergreife das Wort. So habe ich mir meinen Weihnachtsmann nie vorgestellt. Na gut, in meiner Vorstellung gehörte er zu einer Frau, die meist Mrs Clause hieß und das war's auch schon wieder, aber ich habe ihn mir definitiv nie so arschig, wie er sich jetzt gerade benimmt, ausgemalt. „Jules, willst du ihr nicht nachlaufen? Ich dachte, du magst sie und ich dachte auch, ein Weihnachtsmann muss Güte zeigen und für einen da sein, egal ob Junge oder Mädchen, Mann oder Frau, Arm oder reich, dick oder dünn. Ich hatte ständig gehofft, die Geschichte um den Weihnachtsmann sei war. Dass er's Irrlicht alle gut behandelt oder es wenigstens versucht. Ich dachte so viel, doch anscheinend waren das alles nur doofe Hoffnungen, die du nie erfüllen kannst. Bist du wirklich der Weihnachtsmann oder nur eine miserable Fälschung, eine große blöde Mogelpackung? Weil dann würde ich dich gerne wieder eintauschen! Millionen, Milliarden von Kindern glauben an dich, doch du bekommst es nicht mal auf die Reihe, einer Frau hinterherzulaufen und sich bei ihr zu entschuldigen. Mir ist egal, ob ich jetzt ein böses Kind war. Wenn du der neue Weihnachtsmann bist, möchte ich nicht mehr an ihn glauben und ich habe geglaubt."
Ihr müsst es euch so vorstellen, dass ich den Text eigentlich schreien wollte, mich dann aber für die nicht so aggressive Version entscheiden hab, damit der scheinbar betrunkene Jules es wirklich versteht und es in seine Birne sickert und nicht mehr entweicht.
Jules ist längst verstummt. Von Zeit zu Zeit blinzelt er ungläubig mit den Augen. Tja, der schüchterne Jay hat doch noch was auf dem Kieker. Selbst mein Ehemann ist für einen kurzen Augenblick sprachlos. „Ich bin keine Fälschung, ich bin echt und... aber...", er lässt den Kopf hängen. Vielleicht war ich etwas zu hart zu ihm, aber er war ja nicht erst eben so blöd zu Tascha. Schon vorher war er nicht der netteste. Womöglich soll mir das nur zeigen, dass ich doch zu alt für den Weihnachtsmann bin und deswegen so enttäuscht? Wer weiß, ich weiß es nämlich nicht.
„Spuck es aus, was du sagen willst! Magst du sie? Liebst du sie? Dann solltest du um sie kämpfen und nicht dauernd solche Sprüche lassen!"
„Ich weiß nicht..."
Ich rüttle ihn einmal kräftig. Am liebsten will ich ihm eine verpassen. „Ja oder nein? Das kann doch nicht so schwer sein! Bist du denn von allen guten Geistern verlassen worden? Enttäusch mich nicht, Weihnachtsmann!!"
„Ja?"
„Was Ja?!"
„Ja, ich mag sie, verdammt. Ich... ich mag sie sogar sehr, aber das ist verrückt. Solange kenne ich sie schließlich noch nicht. Und ich, ich habe keine Erfahrungen mit Frauen und... auch nicht mit Menschen. Ich... habe keine Ahnung, was ich tun soll... Meine Elfen haben mir wohl etwas in meinen Kakao geschüttet, was womöglich das negative von den unartigen Kindern gewesen ist. Ich weiß, das ist keine wirkliche Entschuldigung, aber es tut mir echt leid, weil ich euch alle behandelt habe. Dieses Zeig hat mir die Sinne benebelt. Nur gut, dass es nicht die ganze harte Dosis war, sonst wäre ich fast ein Jahr so gewesen. Die werden was von mir zu hören bekommen, wenn ich Tascha nach Hause gebracht habe."
„Wohin nach Hause?", möchte ich sicherheitshalber erfahren.
„Zu mir nach Hause. Könnt ihr mir sagen, was ich tun soll? Bitte. Und mir nebenbei das alles verzeihen?", der Mann in rot ist so verzweifelt, dass er seinen Kopf auf die Hände gebettet hat und sein Blick stur geradeaus geht.
Hunter will gerade was sagen, da unterbreche ich ihn: „Wir können dir verzeihen, wenn du Tascha jetzt hinterherrennst und dich gefälligst entschuldigst."
Erst sieht er mich böse an, dann aber nickt er zustimmend. „Kleiner Tipp, Ju, sag das mit den zu wenig Erfahrungen nicht, ist besser so."
Unser Weihnachtsmann springt auf - mein Herz heilt allmählich von dem zuvor eher mangelnden Charakter des Weihnachtsmannes - und läuft ohne Jacke nach draußen. Der Held in glänzender Rüstung. Na, wohl eher in roter Rüstung. Nach einem Moment der Stille kommt er zurück und holt eine Jacke. „Für Tascha." Denn sie hat ihre vergessen. Sobald ich Hunters Blick auf mir spüre, drehe ich mich von der Tür weg zu ihm. Dieser kommt bedrohlich auf mich zu. Kurz vor mir bleibt er stehen und reckt das Kinn in Richtung Tür. „Was meinst du, wie lange sie brauchen, um zusammenzukommen?"
„Weiß ich nicht."
„Wollen wir wetten?"
„Ich wette nicht", murre ich.
„Schade. Ich meine, wir haben nicht lange gebraucht, um zusammenzukommen, nicht wahr?"
„Falsch, das ist was völlig anderes. Wir haben noch nicht mal einen Tag gebraucht, stimmt, aber erstens ist das nicht nur unnormal, sondern zweitens nur Schein."
„Diese Meinung teile ich überhaupt nicht", brummt er. Im nächsten Moment packt er mich an der Taille und drückt mich gegen die nächstbeste Wand, um dort anzufangen, wo wir vorhin aufgehört haben. Seine Lippen landen brennend auf meinem Hals. Ich keuche. Und keuche nochmal. Dann werde ich mir der Situation bewusst und versuche ihn von mir schieben. „Hunter, du... musst... aufhören. Bestimmt kommen sie... gleich zurück... bitte."
Doch natürlich nützt alles Flehen und Betteln bei ihm nicht. „Ach komm schon, du willst es doch auch."
„Nein."
Ab da lässt er zum Glück von mir ab, doch als ich seinen verletzten Gesichtsausdruck auffange, wird mir klar, dass ich ihm so einiges doch noch erklären sollte. Wie zum Beispiel, dass mir der Gedanke Sex zu haben Angst macht, weil ich noch Jungfrau bin. Oder dass ich nicht weiß, ob ich bereit bin oder ob ich auf Männer, speziell Männer wie ihn stehe. Das alles weiß ich noch nicht und vorerst würde ich diesen Gefühlen erst gerne gründlich auf den Grund gehen. Gründlich auf den Grund gehen... Na ja egal. Ihr wisst was ich meine, das ist die Hauptsache.
Wie passend, dass just in dem Moment unsere beiden Gäste zurückkehren. Beide haben sie rote Wangen und ich vermute schon, sie haben sich geküsst, aber Tascha deutet ein unscheinbares Kopfschütteln an. Wenigstens trägt sie die Jacke und nicht er. Es tut mir leid, aber ich habe mit meinen Schwestern genug Liebesfilme gesehen, um zu wissen, wie man ein Gentleman ist und wie nicht. Der Frau eine Jacke geben, sofern ihr kalt ist, ist das Beste, - und zugleich Romantischste - was wir Männer machen können.
Als wäre nichts vorgefallen, begeben wir uns zu Tisch und fangen mit dem Essen an. Weil ich nicht weiß, wie Mädels ihren Döner essen, versuche ich es mit Messer und Gabel, werde dafür jedoch nur von allen komisch angestarrt, weshalb ich es lasse. Alle am Tisch essen ihren Döner ohne Besteck, also tue ich es ihnen gleich. „Danke", schmatzt Jules.
„Wofür?", mampft mein Schein-Gatte hingegen.
„Dafür dass ihr mir verzeiht und das Essen und all das. Woher kommt ihr jetzt eigentlich? Ihr seid ja nicht aus dieser Welt, oder? Tut mir leid, das war wieder nicht so nett."
„Stimmt, wir sind nicht aus dieser Welt", gebe ich zu.
„Aus welcher seid ihr? Bloß aus einer anderen Weihnachtswelt, nein, oder? Ihr kommt ganz woanders her."
„Wir kommen aus... nun ja. So verrückt es klingen mag, aber aus einer magischen Welt."
Jetzt wird er hellhörig, denn er rückt mit seinem Stuhl noch näher an den Tisch heran. Aufmerksam sieht er zwischen uns beiden hin und her. „Sagt schon, welche Welt", drängt er.
„Die..."
„Märchenwelt", bringt Hunter meinen Satz zu Ende. Dankbar lächel ich ihm zu.
Ich hätte erwartet, dass die zwei überrascht drein schauen, doch dem ist nicht so. Vielleicht weil beide bereits an etwas vollkommen absurdes gewöhnt sind. Die Weihnachtswelt ist schließlich ebenfalls nicht normal.
„Warte, im ernst? Ohne Witz?"
„Ohne Witz."
„Krass. Kennt ihr alle Märchenfiguren, jede einzelne persönlich? Meine Lieblingsmärchenfiguren sind Peter Pan, Robin Hood - wegen seiner Tugend, den Menschen zu helfen - und Pinocchio. Kennt ihr die?"
„Na ja, schon irgendwie. Manchen begegnet man auf der Straße. Man kann sich die Märchenwäldner, die eine eigene Geschichte haben, so vorstellen wie Prominente aus der Menschenwelt. Sie leben wie normale Menschen oder Lebewesen unter uns, aber viele sind durch ihr Märchen berühmt geworden. Peter Pan kenne ich. Der ist Vater von vielen, vielen Kindern und versteht sich dabei sehr gut mit seinem Bruder Hook", erkläre ich.
„Käpt'n Hook? Echt jetzt? Das ist der Hammer. Die zwei sind Brüder. Soso", an Tascha gewandt, sagt er: „Ist das zu fassen? Es gibt sie wirklich."
„Pinocchio hat nach meinem Wissen Frau und Kinder", überlege ich laut. „Über Robin Hood ist mir nichts bekannt. Dir?", würde ich gerne von Hunter erfahren.
„Robin Hood... Der... Ne, zu dem weiß ich nichts, sorry."
Von einer Sekunde auf die nächste verhält er sich ganz seltsam. Unruhig rutscht er auf seinem Stuhl hin und her und starrt an die Decke. Was er wohl hat? Kennt er Robin Hood besser, als er vorgibt? Verbindet er etwas mit dem Helden aus dem Sherwood Forest? Nur was? Das würde mich interessieren.
Mahnend sieht Natascha Jules an. Besser er hält lieber die Klappe, doch dieser tut es selbstredend nicht. „Ach komm schon, tu nicht so. Man sieht, dass du uns anlügst. Was weißt du über ihn?", drängt er daher.
Der Jäger springt auf und geht schnellen Schrittes davon. Am Tisch kehrt Stille ein. Durch die hastige Bewegung und das darauffolgende heulende Leidklagen von dem Weihnachtsmann, weiß ich, dass sie ihn getreten haben muss. Ich entschuldige mich - und nebenbei meinen Ehemann gleich mit - und folge ihm. Die Türen plus das Knarzen unseres Holzbodens verraten mir, wo er hingegangen ist. Unten bei Pongo im Keller lehnt er an einer Wand. Wortlos stelle ich mich neben ihn. „Was ist los? Magst du darüber reden?"

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