Kapitel 26
AH-OHAH. Ich gähne. Nachdem Hunter gestern die Hälfte seines halbierten Wildschweins gegessen hat und ich dabei an Obelix denken musste, wobei der ja nicht bloß ein Viertel gegessen hätte, sondern mindestens ein ganzes, sind wir schlafen gegangen. Jetzt sollte er eigentlich in dem Zimmer neben mir liegen. Natürlich hat er sich das größte der zwei Zimmer ausgesucht. Mich wundert sowieso, dass die Hütte, in der wir nun eingezogen sind, Raum für zwei Schlafzimmer bietet. Nachdem ich zu einer Frau geworden bin, hatte ich wirklich alles erwartet - ein Bett, das sich Hunter und ich teilen müssen, zum Beispiel. Oder sowas in der Art. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass die Hütte oder die gesamte Welt, in der wir uns derzeit befinden, gegen uns arbeitet.
Ein Geruch nach etwas Verbrannten steigt mir in die Nase. Jetzt beeile ich mich aus dem Bett zu kommen. Ich springe aus dem Bett und laufe auf nackten Füßen - wohl bemerkt - in die Küche. Die Türen auf meinem Weg reiße ich dabei weit auf. Es ist mir egal. Wehe, der Jäger hat unsere Bude abgefackelt. Wo sollen wir denn dann leben? Oder wie sollen wir uns dann Geld zum Überleben verdienen? Gestern kam mir nämlich eine neue Idee: Wir suchen einfach Leute, die genügend Geld haben und uns dafür bezahlen könnten, dass sie in unserer Hütte Urlaub machen dürfen, um uns selbst über Wasser halten zu können. Oh bitte sag nicht, er hat meinen Plan nun in Brand gesteckt.
Plötzlich, da ich das Haus noch nicht ausreichend kenne, übersehe ich die eine Tür auf meinem Weg - und RUMS! Mein Schädel brummt und ich habe das Gefühl, das ganze Haus bebt bei meinem Zusammenkrachen mit der Tür. Vor Schmerzen reibe ich mir die Stirn. Das wird eine dicke, fette Beule. Warum muss es auch Türen geben? Wieso bin ich überhaupt hier in dieser verfluchten Welt? Wortwörtlich verflucht.
Die Tür, die mein Hirn zerstört hat, geht auf. Hunter steht mit vor der Brust verschränkten Armen vor mir und sieht auf mich herab.
„Was ist?", tue ich auf unwissend.
„Du hast dir den Kopf gestossen", seine gebieterische Position behält er bei.
„Als ob dich das interessiert", auch ich versuche mich mittels vor der Brust verschränkten Armen an dieser gebieterischen Art.
„Jay, ich bin kein Unmensch, selbst wenn du da anderer Meinung bist. Ob du es willst oder nicht, wir spielen hier ein verheiratetes Ehepaar. Gibt schließlich kein unverheiratetes Ehepaar, ne? Auch ohne unsere Scheinheirat würde ich erfragen wollen, wie es dir geht."
„Wirklich?", hake ich ungläubig nach.
„Wirklich", versichert er.
Da fällt es mir wieder ein. ER hat unser Haus in Brand gesteckt. Wahrscheinlich. Vermutlich. Denke ich mal. Ihr habt schon verstanden. „Was riecht hier so?" Bin ich vielleicht schon längst tot, aber mein Körper nimmt erst noch Abschied von meiner Seele, bevor meine Seele zum Himmel empor steigt oder wie?
„Ich habe uns Frühstück gemacht. Duftet doch lecker, oder?"
„Nicht wirklich, nein. Riechst du es nicht oder verarscht du mich jetzt?"
„Was denn? Riecht es nicht gut?", Hunter streckt seine Nase in die Höhe und versucht zu schnuppern. Dabei scheint er jedoch Probleme zu haben. Ob er krank ist?
„Also hast du zumindest nicht unser Haus abgefackelt", stelle ich klar.
„Nein, habe ich nicht. Der Rest Suppe köchelt auf dem Herd. Das Schwein bratet im Ofen. Verbrannt war bis eben nichts, aber riechen tue ich ebenso wirklich nichts. Stinkt es?"
„Nein, nein, alles gut. Doch, es stinkt grauenhaft. Und du sagst, du hast Frühstück gemacht? Suppe mit Schwein oder wie?"
„So ungefähr. Schwein für dich, Suppe für mich, ach ne andersherum."
„Zum Frühstück?", zweifle ich an seinem Verstand.
„Ja."
„Hast du dich erkältet?"
„Ne, wieso?"
„Du kannst nicht richtig riechen und dein Verstand setzt dir ziemlich zu", aus Spaß und zum Teil auch aus Ernst betaste ich seine Stirn. Diese ist zwar noch nicht glühend, dennoch ziemlich heiß. „Du solltest besser ins Bett."
„Ich lasse dich nicht alleine, wenn ich weiß, dass draußen eine Verrückte herumläuft, die hinter deinem Hund her ist und wahrscheinlich auch hinter dir. Kannst du vergessen."
„Danke", murmle ich, weil ich wirklich dankbar bin, unter seinem Schutz zu stehen. Andererseits kann ich mich selbst mehr oder weniger verteidigen und bin kein kleiner Junge mehr. Dennoch bedeuten seine Worte mir für die Sicherheit meines Hundes sehr viel. Er nickt nur. „Brauchst dich nicht zu bedanken, ist doch Ehrensache."
„Mache ich aber. Danke, wirklich. Jetzt sollten wir aber echt...", ich werde unterbrochen. Jemand klopft an der Tür. Sollte ich aus Gründen der Sicherheit wie Rapunzel nach einer Pfanne greifen? Was ist, wenn es Cruella ist? Oder Carlos, der die ganze Zeit auf der Seite seiner Schwester war? Oder Carlos, der unseren Standpunkt verpfiffen hat?
Mit langsamen, bedachten Schritten nähert sich Hunter der Tür. Mit einem gewissen Abstand folge ich ihm. Ebenso langsam wie er geschlichen ist, öffnet er nun die Tür. „Hallo, wer sind Sie?"
„Ich bin Frau Häkelchen. Und ihr seid Hunter und seine Frau Jay."
Oh Mist. Das habe ich glatt vergessen. Zum Glück, stehe ich noch weit genug entfernt, sodass man mich noch nicht sehen konnte. Auf leisen Sohlen schleiche ich zurück in mein Zimmer. Dort suche ich nach meiner Perücke. Ich schaue unter dem Bett, wühle in dem Schrank, verbreite ein riesiges Chaos. Wo ist sie, verdammt? Pongo. Mein Dalmatiner sitzt neben dem Bett auf der anderen Seite und sieht mich aus seinen blauen Augen an. Oh, dieser Schlingel. Er hat die Perücke in seinem Maul okay, das könnte Igitt werden, dieses vollgesabberte Ding aufzusetzen, aber was sein muss, muss sein. Also gehe ich auf ihn zu. Ich bin die Ruhe in Person. „Lass fallen, Pongo. Bitte."
Demonstrativ schüttelt er den Kopf - ja, das kann er. Leider kann er das. Mahnend sehe ich ihn an. „Was ist los?"
Ich sehe ihn an und verstehe sofort. Er macht sich bloß Sorgen um mich wegen Hunter und unserer Tarnung. Mein Hund weiß, was meinem Vater am wichtigsten war. Man selbst zu sein. Sich für keinen Menschen auf der Welt zu verbiegen. Gerührt tätschel ich seinen Kopf. „Danke, mein Freund. Du bist der Beste. Was würde ich nur ohne dich machen, hm? Trotzdem musste mir die Perücke wiedergeben. Wenn wir zurück im Märchenwald sind, verbrenne ich sie eigenhändig, versprochen. Dort werde ich wieder ich selber sein. Solange musst du mir jedoch vertrauen und mir das Ding zurückgeben. Haben wir uns verstanden? Bitte."
Und wirklich. Pongo lässt die Perücke los. Vor dem Fall auf den Boden fange ich diese auf und setze sie mir auf. Dann sage ich zu meinem Hund, er soll brav hier auf mich warten, ich käme gleich zurück. Eilig verlasse ich das Zimmer und will zur Tür laufen, was in einem Kleid kein Leichtes ist, - wie machen die Frauen das? - doch Hunter steht nicht mehr dort. Er läuft einer Frau hinterher, die in unsere Hütte eingetreten ist. Mit Einladung? Verwundert darüber, wer das ist, laufe ich zu den beiden. Der Jäger hebt ahnungslos die Arme. „Wer ist sie?", flüstere ich,
„Keine blasse Schneeflocke", raunt er zurück.
„Wie bitte?"
„Ich habe mich an Weihnachtssprache versucht. Keine Ahnung, sollte das bedeuten."
Ich räuspere mich, sodass ich zum Einen ihre Aufmerksamkeit habe und zum Anderen eine hellere Stimme erzeugen kann. „Ist das Ihr Haus?"
„Ach was, nein. Es ist euers. Ich wollte euch nur etwas zeigen. Kommt her, kommt her!", mit einem freundlichen Lächeln winkt uns die alte Dame mit den grauen, zu einem langen Zopf geflochtenen Haaren, dem grünen Kleid mit dem bunten Muster und der überdimensionalen Brille zu sich.
Unsicher sehe ich zu ihm. Was wird das hier? Sie bückt sich und holt etwas aus dem Ofen hervor. Komisch, es riecht gar nicht mehr nach Verbranntem. Die ältere Dame befördert eine Weihnachtsgans ans Tageslicht. Wir machen große Augen. „Was haben Sie mit meinem Wildschwein gemacht?", empört sich der Jäger.
„Dein Wildschwein... Du meinst, das verkohlte Ding? Das wolltest du doch nicht wirklich essen?"
Hunter legt seine Hand auf ihre Schulter. „Frau Häkelchen, richtig? Wir danken, aber wir müssen Sie bitten, zu gehen."
„Nur wegen dem Schwein?"
„Sie hat recht. Nur wegen dem Schwein? Fragst du dich nicht, woher sie die Gans hat? Mich interessiert das schon."
Die Frau schaut abwechselnd von mir zu ihm. Ein Schmunzeln legt sich auf ihre Lippen. „Sie trauen sich aber viel, Miss. Wäre ich noch verheiratet, hätte ich mich nicht so äußern dürfen."
„Meine Frau und ich, wir sind noch nicht lange verheiratet, müssen Sie wissen. Wir sind gerade noch in der Gatte-erzieht-seine-Gemahlin-Phase. Geben Sie ihr noch ein paar Tage und meine Frau wird wunderbar brav sein."
Ohne die Dame hätte ich ihm auf den Fuß getreten. Über diese Worte bin ich echt erzürnt. Das muss ich mir nun wirklich nicht gefallen lassen, dafür, dass ich mir überhaupt schon so viel gefallen lasse. Das geht echt zu weit. Sobald sie weg ist, werde ich Klartext mit meinem Mann reden.
„Sagen Sie, wie hat das funktioniert mit dem Ofen?"
„Wissen Sie, Sie können auch dort unten Essen gehen, aber sie brauchen sich auch einfach nur Ihr Essen wünschen und am Ofen stehen, gewagt sein, ihn zu öffnen und tada, der Ofen erfüllt Ihnen jeden Wunsch. Das ist toll, oder? Wobei ich lieber selber backe. Und noch eine Sache, die Regale werden nie leer."
„Wirklich?", Unglaube schwimmt in seiner Stimme mit.
„Ja, versuchen Sie es."
Um mich abzuregen und zugleich irgendwas anderes zu tun zu haben, knie ich mich vor den angeblich magischen Ofen. Vorher bitte ich als anständige Ehefrau bei meinem Gatten um Erlaubnis. Als ich die Erlaubnis zu seinem Glück erhalte, bücke ich mich und denke an Pizza. Da habe ich nach diesem Morgen total Lust drauf, selbst wenn das für mich im Normalfall kein Frühstück ist. Was ist momentan schon normal hier? Nach Ermutigung der Dame öffne ich den Ofen und hole zu meinem Erstaunen eine richtige Pizza heraus. Krass. Das hat tatsächlich funktioniert. Wie kann das sein? Hunter schubst mich beinahe zur Seite, wodurch ich taumel, mich die Dame jedoch abfängt und er die Augen schließt, um sie und den Ofen im Anschluss zu öffnen. Meiner köstlich duftenden Pizza folgt daher eine Calzone. „Was sind das für Gerichte?"
„Ist das ein Scherz? Sie wissen nicht-"
Ich unterbreche ihn. „Das ist eine Pizza und das sowas in der Art. Nur fettiger. Hier, nehmen Sie ein Stück. Es wird Ihnen schmecken."
Skeptisch betrachtet sie das Gericht. Ich versuche sie erneut zu ermuntern, es zu probieren. Letzten Endes nimmt sie das einzelne Stück entgegen und beißt rein. Genüsslich verputzt sie nach dem ersten Bissen das einzelne Stück Pizza in einem Happen. „Das schmeckt gut. Pizza, sagt ihr, heißt das? Dass ich das nochmal erleben darf, hätte ich nicht gedacht."
Erst jetzt wird mir nochmal richtig bewusst, was hier gerade passiert ist. Der Ofen bringt auf magische Weise das Gericht herbei, das man sich wünscht. Das ist unfassbar unglaublich. Das ist der Wahnsinn. Ich bin genau genommen deswegen immer noch ziemlich baff. Wie ist sowas möglich? Das nenne ich wahre Magie. Obwohl ich in der Märchenwelt lebe, hatte ich bis jetzt noch nie Magie um mich herum gespürt. Zwar habe ich von Zeit zu Zeit an Magie geglaubt, aber sie wirklich, wirklich erlebt hab ich nicht. Wow... Magie... Sie existiert. Sie existiert wirklich.
Die Frau nimmt meinen Blick auf und lächelt. „Es geht dir wie mir. Wir haben beide gerade ein Wunder erlebt. Du hast den Ofen kennengelernt und ich, ich habe ein neues Gericht probieren dürfen, was ich gar nicht für möglich gehalten hatte, wo ich doch schon alle Rezepte aus aller Welt kenne."
Das einzige Wort, was mir dabei durch den Kopf geht, ist Magie. Immer wieder. Magie. Magie. Und nochmal Magie. Und abgedrehter Wahnsinn. Das sind zwei Wörter, aber egal. Magie und Wahnsinn. Wahnsinn und Magie. Magie und... und so weiter und so fort.
„Woher wissen Sie das eigentlich?", Hunter deutet auf unsere Umgebung, als er fragt.
„Jungchen, ich bin in dieser Welt großgeworden, habe Jules, auch bekannt als Weihnachtsmann, zu einem erwachsenen Mann herangezogen. Ich habe ihm Kekse gebacken und mit ihm zusammen Kekse gebacken. Ich habe für ihn kleine Plüschtiere gehäkelt, Klamotten genäht... all das. Er ist wie mein Sohn oder mein Enkel. Das ist meine Welt und ich freue mich, euch willkommen zu heißen."
„Warum sind Sie dann hier, wenn ich fragen darf? Ich dachte, das wäre eine von vielen Welten des Weihnachtsmannes. Wohnt er in dieser hier oder in einer eigenen? Wie kann ich mir das vorstellen?"
„Da hast du gut zugehört. Jules lebt mit seinen helfenden Elfen in einer anderen, größeren Welt. Die tausend anderen Weihnachtswelten, also mitunter die, in der wir gerade leben, existieren unter seiner Obhut. In eurer Welt sind wir in einer - wie nennt man das bei euch nochmal? - Schneekugel. Ich bin hier, weil ich das wollte. Als Jules klein war, haben wir hier zusammen gelebt. Er besuchte mit anderen eine Schule. Sobald er das achtzehnte Lebensjahr erreicht hatte, wurde er von seinem Großvater zu sich geholt und in seinen Beruf als nächster Weihnachtsmann eingeführt. Ich hätte mitgehen dürfen, aber ich bin hier geblieben. Ich habe auf jemanden gewartet..."
Auf wen? Das hätten meine Schwestern gefragt. Zu dritt wollen sie immer alles über heimliche Beziehungen wissen. Doch ich bin anders, weswegen ich die Frage, die mir bereits auf der Zunge liegt, nicht stelle. Dafür übernimmt das jedoch mein Ehemann, bei dessen tiefer Stimme, mein Herz ganz eigenartig klopft: „Auf wen haben Sie gewartet?"
Sie kichert und wird rot. „Auf den Weihnachtsmann."
„Auf Jules?", mische ich mich dann doch ein. Wenn die Frage schon gestellt wurde, kann ich wenigstens interessiert mitwirken.
„Nein, um Gottes Willen! Auf seinen Großvater. Wir waren hier verabredet, nachdem er seinen Enkel fertig ausgebildet hatte. Leider ist er nie gekommen. Mittlerweile heißt es, er sei tot, doch ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Wenn alles weg ist, Liebe und Vertrauen, Glück und das Gute, ist da noch die Hoffnung, die bleibt. Ich werde solange hoffen, bis man Beweise für seinen Tod hat. Bestimmt könnt ihr mich verstehen, so verliebt wie ihr ausseht."
Schwungvoll drehe ich mich zu dem Jäger um. Wir sehen verliebt aus? Die Dame sieht unsere Blicke. „Ich sehe die Liebe, wenn sie vor mir steht", erläutert sie.
Wenn sie wüsste...
„So, es hat mich gefreut, eure Bekanntschaft zu machen, Jungs, aber ich habe noch was zu erledigen. Kommt doch gerne mal bei mir vorbei, ihr müsst unten im Tal nur nach dem Weg fragen. Wir können Plätzchen essen oder die heutige Köstlichkeit, wie ihr wollt. Ich würde mich freuen, meine beiden Burschen."
Jungs? Burschen? Ich stelle doch gerade ein Mädchen dar. Oder liege ich falsch in der Annahme? Hat sie es herausgefunden? Werden wir jetzt brennen für unsere Lüge? Was wird passieren? Was soll ich machen? Ich traue mich nicht in Hunters Augen zu sehen. Als seine Gattin habe ich versagt. Ich habe in allem versagt. Unsere Reise zurück nach Hause ist jetzt ein Ding der Unmöglichkeit. Wir werden sterben. Unser Ende ist geschrieben. Es gibt kein Happy-End für keinen von uns und das ist alles meine Schuld. „Jungs?", stellt der Jäger die alles entscheidende Frage.
„Oh Backe, habe ich euch beide als Jungs betitelt? Es tut mir schrecklich leid, Macht der Gewohnheit. Könnt ihr mir verzeihen?"
„Nein."
Natürlich können wir das. Mit hochgezogenen Augenbrauen sehe ich Hunter an. Wir sollten die Möglichkeit, nicht jetzt sofort zu sterben, nutzen. Mit Freundlichkeit, zur Not aufgesetzter Höflichkeit.
„Natürlich, verzeihen wir Ihnen."
„Hab Dank, liebes Kind. Und bitte nennt mich doch Immy. Noch eine letzte Sache, bevor ich euch erst in ein paar Tagen bei mir zu Hause erwarte, im Garten könnt ihr trotz dem Schnee, Samen pflanzen, um Gemüse anzubauen."
Wir bedanken uns bei ihr und begleiten sie zur Tür. Dort dreht sie sich noch einmal zu uns um. „Ich finde, ihr seid ein tolles Paar. In meinen Augen wäre es egal, ob ihr beides Jungs oder beide Mädchen seid, eure Liebe würde alles überstehen, da bin ich mir sicher. Gut, dass ihr euch gefunden habt. Denkt an meine Worte: Irgendwann ist es zu spät. Der Tod kommt manchmal schnell und unvorhersehbar", mit einem traurigen Lächeln geht sie nach draußen. „Wisst ihr, was ich mich nur wundere?"
„Ne, wissen wir nicht." Hunter muss unbedingt mit diesem Jugendslang aufhören. Besonders in dieser Welt.
„Warum ihr euch noch nicht geküsst habt. Ihr müsst euch nicht für eure Liebe schämen."
Mit diesen Worten geht die ältere Dame nun wirklich, mit Bedacht macht sie sich auf den Weg nach unten. Einmal guckt sie noch zu uns und diesen Moment nutzt mein Gatte aus, um mich vor ihren Augen zu küssen. Erst will ich ihn wegstoßen, doch zu meiner riesigen Überraschung gefällt mir der Kuss sogar echt gut. Vielleicht liegt es daran, dass ich es zum ersten Mal richtig hinbekomme, mich in eine Rolle hineinzuversetzen, diese vernünftig ohne Schüchternheit zu spielen, um mich vor dem Tod zu retten. Oder aber... ich stehe auf einen Mann, den ich kaum kenne und ach ja, ich bin ja eigentlich auch ein Mann. Hoppala! Was geht denn mit meinen Gedanken ab? Nun klopft nicht mehr nur mein kleines Herz, sondern ebenso gehen die Gefühle auf meinen gesamten Körper ein. Überall, an jeder noch so kleinen Stelle kribbelt es. Ich habe das Gefühl, mein Körper würde gleich in Flammen aufgehen, meine Beine werden weich wie Pudding und ich klammere mich aus Zwecken meiner sowie seiner Sicherheit wie ein Ertrinkender an ihn. Irgendwie habe ich das Gefühl, mich an etwas zu erinnern, von dem ich bis eben nichts wusste, aber der Gedanke ist schnell wieder verflogen. Doch so kurzfristig und überraschend unser Kuss begonnen hat, so fix beendet er ihn wieder. Trotzdem lässt mich mein Ehemann nicht mehr wieder gehen, indem er seine Arme von hinten um meine Mitte schlingt. Das Kribbeln will, trotz der Beendigung des Kusses, nicht mehr verstummen. Lächelnd sieht Immy immer noch zu uns. „Sie hat keine Ahnung, wofür der Name Immy steht, oder?"
„Wofür steht er denn?", möchte ich wissen. „Meine Mutter wird nämlich von ihren Freundinnen so gennant als Abkürzung vom Namen Imke."
„Irgendwie nicht wirklich eine Abkürzung. Na ja, frage mich nicht, woher ich das weiß, aber der Name Immy steht für Jungfrau."
„Woher weißt du das?", frage ich dann doch. Die Neugier siegt.
„Weil ich immer gerne nach Namen recherchiert habe, was ihre Bedeutung ist. Ich weiß beklopft, oder?"
„Nicht unbedingt, nein. Was bedeutet mein Name?"
„Jay..."
„Ja, so heiße ich."
„Keine Ahnung, woher ich das weiß, denn ich erinnere mich nicht daran, zuvor einen Jay gekannt und über seinen Namen recherchiert zu haben, aber es gäbe zwei Bedeutungen. Einmal könnte dein Name für einen Sieger oder den Stieg sein, aber auch für einen Eichelhäher."
„Interessant."
Wir schauen wieder in Richtung Tal, doch Frau Häkelchen ist noch nicht fort. Sie steht weiterhin auf der Anhöhe nur wenige Meter von uns entfernt. Manchmal, selbst wenn ich diese Frau noch nicht gut kenne, erscheint sie mir allzu gruselig. Wir winken ihr noch etwas unbeholfen, zumindest tue ich das, spüre jedoch auch, dass Hunter hinter mir seinen einen Arm bewegt. „Weißt du, Immy, wer die Frau von deinem Jules ist?", fragt Hunter, seine Brust hebt und senkt sich.
Die Dame kommt wieder näher. Sie ist mir sympathisch. Dennoch. Gruselig. „Welche Frau? Meint ihr seine Schwester?"
„Sie hieß Natascha, ist vor ihm abgehauen. Heißt seine Schwester so?"
„Nein. Eine Natascha kenne ich nicht. Beim nächsten Mal werde ich ihn fragen. Komisch, dass er mir davon nichts erzählt hat. Er erzählt mir sonst alles. Na vielleicht hatte er das ja noch vor und ich reagiere gerade etwas über. Danke fürs Bescheidgeben, ihr Lieben. Ich werde dann mal gehen." Und ja wirklich - sie geht. Wir bleiben noch einen Moment lang draußen stehen, um uns zu vergewissern, dass sie sie sicher bei sich zu Hause ankommt. Komisch, komisch, diese Welt. Und magisch.
Allmählich begeben wir uns zurück in unsere Hütte. Dort donnere ich los: „Wie kannst du es wagen?"
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