9. Boris: Visionen

Obwohl Silas erst vor zwei Tagen das Haus verlassen hatte, kam es mir so vor, als hätte ich ihn Jahrzehnte nicht gesehen, als er plötzlich vor mir stand. Ich hatte so eine Erleichterung gespürt, so ein Glück und zugleich eine Trauer, die kaum in Worte zu fassen war. Natürlich hatte das alle anderen verwirrt, ich verstand es ja selbst nicht. Doch, wenn ich an meine Vision von vor zwei Tagen dachte, dann wurde alles so viel logischer.

In der Zukunft musste Silas gestorben sein, genau wie in der Vision, die ich hatte, seit ich 16 war. Da mein Bewusstsein irgendwie mit meinem zukünftigen vermischt worden war, spürte ich die Trauer, die ich seitdem in mir trug. Für mich war es quasi so, als sei Silas schon lange tot, obwohl ich wusste, dass er am Leben und in Sicherheit war. Zumindest jetzt.

In mir war gerade alles durcheinander, so als hätte ein Sturm gewütet und nichts an seinem Platz gelassen. Ich wusste, was Realität war und was Zukunft, doch ich hatte Schwierigkeiten damit, es voneinander zu trennen.

Es dauerte ziemlich lange, bis ich mich beruhigte. Erst, als Charlie zu mir kam, seine Hand meinen Rücken auf uns streichen ließ und mir sagte, dass alles gut war, konnte ich mich zusammenreißen. Er spürte einen Teil meiner Verwirrung. Er war der einzige, der mich grade verstehen konnte und ich war so unendlich dankbar dafür, ihn zu haben. Alleine würde ich darunter zerbrechen, da war ich mir sicher. Ich war einfach nicht für diese Kraft gemacht, es war zu viel und ich war zu schwach. Das bildete ich mir zumindest ein.

„Es wäre besser, wir setzen uns alle. Es gibt einiges zu besprechen", meinte Charlie und deutete für Silas zum Tisch. Er sah mich nochmal besorgt an, doch setzte sich, nachdem er Raphael von Chad losbekommen hatte, ebenfalls zu uns.

„Er ist ein Vampir", begann Raphael und sah Chad an. „Er ist neu... Aber irgendetwas ist anders an ihm... Er riecht so... so rein." Verwirrt schüttelte er seinen Kopf, auch seine Augenbrauen zogen sich zusammen, so als konnte er nicht glauben, dass das möglich war.

„Er heißt Chad", begann ich mit der Aufklärung. Ich erklärte Raphael und Silas, was wir bisher wussten. Natürlich reagierten sie geschockt, vor allem bei der Erwähnung Luzifers. Als ich gerade erklären wollte, warum Raphael Luzifer in der Zukunft beschworen hatte, unterbrach mich dieser.

„Wir dürfen nicht über Einzelheiten der Zukunft sprechen, das könnte alles nur noch schlimmer machen..."

Ich schnaubte belustigt. „In 21 Jahren gibt es keinen einzigen Menschen mehr auf der Erde... Was gibt es denn Schlimmeres?"

Luzifer sah mich ernst an. „Ich bin mir nicht sicher... das hier passiert immerhin zum ersten Mal in diesem Ausmaß, aber ich glaube, wenn wir zu viel über die Zukunft verraten, verschieben sich die Zeitebenen und eure Zukunft versucht zu dieser Gegenwart zu werden... 21 Jahre wären also wie weggewischt und die komplette Zeit würde in sich zusammenbrechen..."

„Aber hat diese Verschiebung nicht bei Boris stattgefunden?", fragte Austin verwirrt.

Luzifer nickte. „Bei ihm ist es anders. Er ist mit den verschiedenen Zeitebenen verbunden, daher ja auch seine Visionen. Er ist der einzige, der das aushalten würde." Er sah mich an. „Stell dir vor, das, was dir passiert ist, passiert einfach so unvorbereitet jedem Menschen auf der Welt..."

Ich hob die Hand, um ihm zu signalisieren, dass ich auch verstand, ohne, dass er weitersprach, und nickte, während ich tief durchatmete. „Was sollen wir denn jetzt machen? Ich meine, wenn das alles damit begonnen hat, dass jemand Chad umgebracht hat, wäre es dann nicht logisch, nochmal zu dem Punkt zurückzugehen und seinen Tod zu verhindern?"

Luzifer schnaubte. „Stell dir vor, auf diese Idee bin ich auch schon gekommen. Wäre das so einfach, bräuchte ich euch Menschen nicht. Die Zeit ist gerade aber zu instabil. Mit der Kraft, die ich gerade nicht bei mir habe, versuche ich sie zusammenzuhalten, aber das ist nicht so einfach wie es klingt..."

Er fühlte sich angegriffen von meiner Frage, von meinem Glauben, dass die Lösung doch ganz nahelag und wir das alles einfach wieder in Ordnung bringen konnten wie eine versaute Tomatensoße. Er wusste selbst nicht, was wir tun konnten, und es war das erste Mal für ihn, dass er vor so einer Herausforderung stand. Das wusste ich aus der Zukunft...

„Können wir irgendetwas tun, um die Zeit..." Raphael sprach es so aus, als könne er selbst nicht glauben, was er da sagte. „...zu stabilisieren?"

Er wandte sich mit der Frage an Luzifer, obwohl ich ihm ansah, dass ihm dabei nicht wohl war. Jedoch schien er zu verstehen, dass wir nicht mit dem Teufel an einem Tisch sitzen würden, hätten wir einen einzigen Grund, ihm zu misstrauen. Ich war zwar der einzige, der wusste, dass Luzifer für uns sterben würde, doch den anderen schien klar zu sein, dass wir zumindest gemeinsame Interessen hatten.

„Ihr müsst euch die Zeit wie eine Strecke vorstellen", begann unser Helferengel mit der Antwort. „Abschnittsweise müssen bestimmte Ereignisse geschehen sein, um den nächsten Bereich freizugeben. Dabei ist es egal, ob die Strecke gerade verläuft oder linienhaft, hauptsache wir stehen am Ende am selben Punkt. Ich denke durch Chads Tod wurde verhindert, dass wir diesen Punkt erreichen können, deshalb ist die Strecke ab diesem Punkt abgebrochen. Wir müssen sie also Stück für Stück wieder so zusammensetzen, wie sie sein sollte und vielleicht kommen wir dann so voran..."

Alle Anwesenden schienen zu verstehen, was Luzifer uns hier erklärte, dennoch traten nachvollziehbare Fragen auf.

Silas war der erste, der seine stellte. „Gut, aber, wenn wir nichts über die Zukunft wissen dürfen, wie sollen wir dann wissen, was passieren muss?"

„Boris und ich wissen, was geschehen muss. Ihr müsst uns vertrauen..."

„Boris okay, aber dir?" Raphael schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber für mich ist das alles ziemlich unglaubwürdig. Der Teufel setzt sich an meinen Tisch und behauptet, die Welt retten zu wollen. Wieso solltest du das tun?" Es schwang eine gewisse Abneigung in seiner Stimme mit. Ich verstand ihn, doch ich wusste auch, dass Luzifer einer von den Guten war.

„Er will wirklich nur helfen, Raphael. Wenn du ihm nicht glaubst, dann glaube mir" Ich sah ihn bittend an und erkannte genau in seinem Blick, wie schwer ihm das fiel.

Wir lieferten uns ein Blickduell, wobei ein Teil von mir es für absolut lächerlich hielt, dass ich den Teufel hier in Schutz nahm, doch der andere, stärkere Teil wusste, dass Luzifer vielleicht der Teufel war, doch ebenso ein Engel. Vor allem, wenn es um den Mann ging, den er liebte.

„Na schön", gab Raphael schließlich nach und nickte entschlossen. „Aber, wenn du auch nur eine Sache tust, die uns schadet, war's das" Drohend sah Raphael Luzifer an, welcher nickte. Er wusste, es brauchte nichts zu diskutieren.

Wir saßen noch lange zusammen Luzifer erklärte uns grundlegende Dinge, wie die Entstehung der Vampire zum Beispiel oder seine Verbannung aus dem Himmel und wie er zum Teufel wurde. Das alles trug etwas mehr zum gegenseitigen Verständnis und vor allem zur Akzeptanz bei.

Raphael beschloss, dass Chad und er am nächsten Tag ins Vampirreich gehen würden, um dem König von dem neuen Vampir zu berichten. Er sah es als seine Verantwortung, Chad unter seine Fittiche zu nehmen, jedoch tat er sich mit Luzifer noch sehr schwer.

Nachdem wir uns aber darauf geeinigt hatten, dass Luzifer und Chad Amys und Claires Zimmer bekamen und fortan bei uns wohnten, weil sie keinen andern Platz hatten, an den sie gehen konnten, lagen Charlie und ich schließlich zusammen im Bett. Er hielt mich fest in seinen starken Armen und gab mir somit genau die Sicherheit, die ich gerade so dringend brauchte.

„Wie viel konntest du sehen?", fragte ich Charlie.

„Nicht viel", gab er zu und drückte mir einen Kuss auf den Haaransatz. „Aber genug, um zu wissen, dass ich es niemals so weit kommen lassen werde. Und diese Sache, die du das vorhast, das mit dem Wunsch..."

Ich lachte leicht. „Denkst du wirklich, ich habe das noch vor? Es wird doch ohnehin nicht klappen, du hast Luzifer gehört, die Engel haben besseres zu tun gerade. Außerdem bringt mir die Unsterblichkeit nichts, wenn die Welt in 21 Jahren am Ende ist und ich weiß jetzt ja auch, wie du darüber denkst..." Es sprudelte nur so aus mir heraus, sodass ich Charlies tiefes Lachen hörte und dadurch stoppte.

„Gut, ich wollte nur sichergehen, dass wir uns dabei einig sind..."

Ich nickte bloß und rutschte fester an ihn heran. Ich wollte ihm so vieles sagen, mich mit ihm über all die Probleme der Zukunft unterhalten, die niemals passieren würde, doch ich wusste nicht, wie viel er mitbekommen hatte und wollte nicht Gefahr laufen, dass es schlimme Folgen haben würde, nur weil ich meinen Mund nicht halten konnte. Der einzige, mit dem ich über die Details der Zukunft reden konnte, war Luzifer und somit war auch der einzige, vor dem ich keine Geheimnisse haben musste. Jedoch wusste ich nicht, ob für ihn dasselbe galt.

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