66. Boris: Hoffen und Beten

Genießend schloss ich die Augen, als ich mich in Charlies Armen widerfand und er mich ebenso fest drückte wie ich ihn. Dabei vergrub sich seine Hand in meinen Haaren und zog etwas daran, als er sie zu einer Faust formte, doch es tat nicht weh, sondern zeigte mir einfach nur, wie sehr er mich vermisst und sich um mich gesorgt hatte.

Sobald wir uns wieder voneinander lösten, erzählte er uns allen von Raphaels Vorhaben und keiner legte Widerspruch ein. Klar war Austin etwas enttäuscht, doch vor allem schien er auch geschockt darüber zu sein, dass wir von seinen nächtlichen Ausrissen gewusst hatten. Es war ihm sichtlich unangenehm und man sah ihm auch an, dass er lieber nicht darüber reden wollte, also taten wir das nicht. Ein Blick von mir reichte allerdings, um ihm klarzumachen, dass ich jederzeit für ihn da sein würde.

Briana war ebenfalls nicht begeistert davon, Jay etwas vorzumachen, doch sie verstand, dass es nötig war und es schien ihr zu gefallen, dass sie somit auch etwas mehr Zeit mit Michael hatte. Nachdem die beiden verschwunden waren, wollte Dale uns helfen, Chad zu suchen, allerdings machten wir ihm klar, dass das keine gute Idee war. Das einzige, was er tun konnte, war uns Annis Adresse zu geben und sich dann – im übertragenen Sinne – auf die Ersatzbank zu setzen.

Schließlich machten Austin, Charlie und ich uns mitten in der Nacht auf den Weg zu Annis Wohnung, um sicherzustellen, dass Chad dort nicht auftauchte. Wie es aussah, kamen wir allerdings zu spät.

Wir kamen ins Haus, da ein paar Jugendliche es gerade verließen, vermutlich, um zu einer Party zu gehen, zumindest passte die Stimmung. Die Treppen zur Wohnung selbst waren schnell geschafft, sodass wir nun davor standen. Ich wollte gerade die Klingel betätigen, doch stoppte kurz bevor mein Finger den Knopf berührte, sah zu Charlie hoch. Er blickte im selben Moment zu mir herunter und deutete uns dann, leise zu sein, während er nach dem Türknauf griff und ihn langsam aber kraftvoll umdrehte, sodass er die Tür auch ohne Schlüssel öffnen konnte. Wir schlichen uns in die Wohnung, hörten bereits im Flur verschiedene Stimmen, unter anderem eine weinende Frau.

„Hör endlich auf zu heulen!" Es lief mir kalt den Rücken herab, als ich Chads sonst so liebliche Stimme in diesem Klang hörte und sehen musste, wie er der vor Angst zitternden Anni eine schallende Ohrfeige gab.

Sie kreischte kurz auf und hielt sich dann die Wange, versuchte, sich zusammenzureißen.

„Wieso tust du das?", wimmerte sie.

Chad schnaubte und schubste sie aufs Sofa. „Als wüsstest du das nicht." Er schüttelte den Kopf, klang sehr bitter dabei. „Du hast mich betrogen und belogen, mich zum Narren gehalten und ausgenutzt, mir vorgespielt, du würdest mich lieben, mir vorgespielt, ich sei dir wichtig... Dabei gibt es nur eine Person, die dir am Herzen liegt und das bist du selbst. Du kannst nur gut genug schauspielern, um das zu vertuschen..."

„Ich habe nicht..."

„Sei still!" Wieder schlug er sie. „Versuch nicht, mich weiter anzulügen! Diese Zeiten sind vorbei!"

Er holte erneut aus, doch diesmal wurde seine Hand durch Charlie abgefangen. Chad sah ihn aus großen Augen an, war für einen Moment komplett perplex. Austin nutzte diese Zeit, um Anni rauszubringen und ich tastete bei dem Mann, der neben dem Sofa auf dem Boden lag, nach einem Plus. Er war schwach, aber vorhanden.

Ich warf meinem Mann einen alarmierten Blick zu und dieser verstand ihn sofort. „Ist okay, ich hab' das im Griff"

Ich ließ Charlie wirklich ungern alleine, aber es konnte jede Sekunde zählen, wenn wir das Leben dieses Mannes retten wollten, also nahm ich ihn hoch und brachte ihn nach unten ins Auto, wo Austin Anni auch reinverfrachtet hatte. „Ruf Silas an, er soll herkommen und ihre Erinnerungen manipulieren. Und ruf einen Krankenwagen, wir wissen nicht, was dem da fehlt" Austin nickte, um sein Verständnis zu zeigen und ich eilte wieder hoch in die Wohnung.

Als ich reinkam, sah ich gerade wie Charlie Chad im Schwitzkasten hatte und dieser versuchte, sich zu befreien. „Ich kann dich nicht loslassen, bis du dich beruhigt hast, Chad"

„Ich bin ruhig", zischte dieser, strampelte aber herum und versuchte, meinen Mann loszuwerden. Charlie hatte mächtig mit ihm zu kämpfen, also kam ich zu ihm, um zu helfen.

„Komm schon, Chad, wir wollen nur das Beste für dich", ich bat ihn dadurch, mit uns zu kooperieren, aber er dachte da gar nicht dran, nein, er fing an zu lachen.

„Es ging mir nie besser als jetzt, Boris. Ich bin so glücklich wie nie zuvor..."

„Du hast keine Seele, du kannst nichts fühlen, vor allem kein Glück", widersprach Charlie, klang dabei abwertend, vermutlich, weil er es hasste, wenn man ihn anlog. Ich aber ging davon aus, Chad glaubte wirklich, was er da sagte, stimmte. Das machte mich traurig, denn für ihn musste dieses Nichts, das er  jetzt fühlte, so viel besser sein, als alles, was er jemals zuvor empfunden hatte, sodass er es als pures Glück identifizierte.

„Was wollt ihr von mir?", zischte er ohne auf Charlies Aussage einzugehen.

„Dich aufhalten. Du verletzt Menschen, Chad, du bringst Menschen um. Das kann so nicht weitergehen"

„Wollen wir wetten?"

Bevor ich begreifen konnte, was er damit meinte, riss er mir den Silberdolch aus der Halterung an meinem Bein, stieß Charlie von sich, so als hielt dieser ihn kaum fest, drehte sich und rammte ihm den Dolch in die Brust. 

Charlie riss die Augen weit auf, er stieß die Luft aus und fiel mit starrem Blick auf die Knie. So schwer er auch war, ich fing ihn auf, bevor er mit voller Wucht auf den Boden knallte.

Chad machte sich nicht die Mühe zu entkommen, er stand vor uns und sah auf seine Hand, die sich gerade von den Verbrennungen erholte, dann zu Charlie und mir, die vor ihm auf dem Boden saßen. „Prinzipiell habe ich nichts gegen euch, Boris, deshalb sage ich euch, was ich meinem Bruder gesagt habe: Solange ihr euch mir nicht in den Weg stellt, tue ich euch nichts..." Er legte eine kurze Denkpause ein, während Charlies Kopf auf meine Schulter sackte und ich versuchte, die Situation zu begreifen. Was sollte ich nur tun?

„Apropos: Wo ist Dale eigentlich? Nachdem er mich verraten hat, ist es wohl an der Zeit, dass ich ihm einen kleinen Besuch abstatte, mh?"

Ich schüttelte den Kopf, die Tränen in den Augen tragend. „Wieso tust du das alles? Wieso bist du so?"

„Ganz einfach", Chad breitete die Arme aus und grinste mich stolz an. „Weil ich es kann. Ich bin endlich frei, ich bin stark und ich werde mir nichts mehr gefallen lassen."

„Was ist dein Ziel?", fragte ich drängender, spürte die Flüssigkeit an meiner Wange, als ich Charlies Oberkörper auf meinen Beinen liegen hatte und ihn mit dem Armen umschloss. Er hechelte, versuchte leise etwas zu sagen, doch war eigentlich hauptsächlich damit beschäftigt zu atmen; am Leben zu bleiben.

„Gerechtigkeit"

„Worin liegt die Gerechtigkeit, Unschuldige umzubringen?!", brüllte ich ihn an.

Chad antwortete nicht, stattdessen drehte er sich um und sah sich um, so als würde er etwas suchen. Er ging in den Flur und sobald das passierte, hörte ich von da aus Kampfgeräusche. Ich wusste nicht, was dort passierte, doch es war mir im Moment auch gar nicht wichtig. Ich konnte mich nur auf meinen Mann konzentrieren, der in meinen Armen verblutete. Ich hielt ihm mein Handgelenk hin, doch er war zu schwach, um seine Reißzähne entstehen zu lassen. Also nahm ich ein Messer und schnitt mich damit, sodass er mein Blut trinken konnte. Ich trank ebenfalls einen Schluck von Charlie, doch die erwartete Heilung trat nicht ein.

„Nein, nein, nein", murmelte ich verzweifelt und beschloss, dass ich Charlie zu Austin bringen musste. Ich nahm ihn also hoch, dankte innerlich meiner Jägerkraft, doch bemerkte, dass es mir trotzdem schwerfiel, ihn wegen seiner Große und des Gewichts zu tragen. Ich gab jedoch alles und hievte ihn hoch, an dem Kampf zwischen Dale, Raphael und Chad im Flur vorbei und ins Treppenhaus. Ein paar Mal fiel ich fast runter, weil ich mich so beeilte und die Stufen nicht sah, doch ich schaffte es,heil runter zum Auto. Silas unterhielt sich da gerade mit Anni, um ihre Erinnerungen zu manipulieren bzw. zu blockieren, Austin überwachte die Atmung des Bewusstlosen und von weitem hörte ich schon die Sirene eines Krankenwagens.

„Austin!", rief ich, zog somit seinen Blick auf mich. Er eilte sofort zu mir und half mir, Charlie vorsichtig auf dem Boden abzulegen.

„Was ist passiert?", fragte er alarmiert und zog Charlies Shirt hoch, um sich die Wunde anzusehen. Ohne auf meine Antwort zu warten, schnitt er sich in die Handfläche und drückte sein Blut auf Charlies Wunde.

„Chad hat ihn mit einem Silberdolch erstochen", ich hasste es, dass sich nun schon zwei meiner Visionen bestätigt hatten, fluchte innerlich und hielt Charlies Kopf dabei schützend auf meinem Schoß. Ich hätte das verhindern müssen, irgendwie.

„Fuck", flüsterte Austin und schnitt sich tiefer.

„Was ist los?" Ängstlich sah ich ihn an.

Er schüttelte den Kopf. „Es funktioniert nicht. Mein Blut heilt ihn nicht"

Panik kam in mir auf, ich tauschte einen vielsagenden Blick mit Austin aus.

Sanitäter eilten zuerst zu uns, vermutlich, weil sie uns zuerst sahen. Ich erzählte ihnen, dass er ein Vampir war und lebensbedrohlich verletzt worden, dass sie dafür sorgen mussten, dass er nicht zu viel Blut verlor. Sie nahmen ihn mir ab, legten ihn auf eine Liege und brachten ihn in den Krankenwagen. Da ich sein Mann war, durfte ich mitfahren und das tat ich auch. Vielleicht war es ja egoistisch, aber mehr war mir gerade einfach nicht wichtig. Während die Sanitäter ihre Arbeit machten, hielt ich einfach nur Charlies Hand und stieß ein Stoßgebet ins Universum aus, in der Hoffnung, ich würde den einzigen erreichen, der uns bisher immer helfen konnte.

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