64. Silas: Fund

Ich schleppte die schweren Silberketten aus dem Keller zum Auto und warf sie mit einem angestrengten Laut in den Kofferraum. Als ich mich schwerdurchatmend umblickte, erkannte ich Charlie mit meiner Oma im Garten stehen. Sie goss entspannt die Blumen, während Charlie sie auf den neusten Stand brachte. Austin für seinen Teil lehnte einfach lässig gegen meinen Wagen.

Die Augen verdrehend klappte ich den Kofferraum zu und sah den Vampir, der sich hier an meinem Auto sonnte, vorwurfsvoll an. „Hast du eine Ahnung, wie schwer diese Ketten sind?"

Austin schob sich seine Sonnenbrille ins Haar und sah mich vielsagend an, die Augen dabei leicht zusammengekniffen, da sich seine Augen nun erstmal an die Helligkeit gewöhnen mussten. „Ich hätte dir gerne geholfen, aber ich kann die nicht anfassen, ohne mich zu verbrennen, das weißt du doch"

„Du heilst?!"

„Aber es tut trotzdem weh" Austin zog einen leichten Schmollmund.

Ein Teil von mir wollte ihn zur Sau machen, aber je weiter meine Anstrengung schwand und je ruhiger ich wurde, desto besonnener wurde ich auch wieder. „Hast ja recht", stimmte ich daher seufzend zu. „Tut mir leid"

Austin lächelte nur leicht. Er wusste, dass diese Situation für mich ebenso schwer war wie für alle anderen. Ich machte mir Sorgen um jeden meiner Freunde, aber vor allem um Raphael. So autoritär wie er heute drauf gewesen war, kannte ich ihn gar nicht und ich wusste auch, dass es ihm nicht gefiel, so zu sein, aber ich kam nicht um den Gedanken herum, dass ich ihn somit zum ersten Mal so richtig in seiner Rolle als Thronfolger erlebt hatte... und er hatte das gut gemacht. Alle waren davon überzeugt, Raphael wäre ein hervorragender König, nur er selbst nicht, das war sein größtes Hindernis.

Außerdem musste ich bei Charlies, Austins und meiner Aufgabe eine ziemliche wichtige Rolle einnehmen, da ich der einzige war, der Chad wirklich in Ketten legen konnte. Da wir nicht wussten, wie stark er war, hatten wir uns darauf geeinigt, Silberketten zu benutzen. Sie taten ihm zwar weh, aber schwächten ihn auch, ohne ihn umzubringen. Solange er so mordlustig war wie Dale es beschrieben hatte, sahen wir dies als einzige Möglichkeit, mit Chad umzugehen. Da ich aber der einzige in unserer Gruppe war, der Silber ohne Weiteres anfassen konnte, lag diese Aufgabe bei mir.

„Bist du fertig?" Charlie hatte sich von meiner Oma verabschiedet und war zu Austin und mir gekommen, um mir diese Frage zu stellen.

Ich nickte. „Hast du deinen Polizeifreund noch erreicht?"

Charlie schüttelte den Kopf. „Ich habe ein ganz mieses Gefühl bei der Sache"

Ich auch...

Da Chad offensichtlich Rache an seinen Eltern nehmen wollte, würde er wohl zu ihnen wollen. Sie waren im Gefängnis in Untersuchungshaft, doch Charlies Kontakt dort hatte auf keinen unserer Versuche, ihn zu erreichen, reagiert. Trotzdem waren wir nicht sofort dorthin gefahren. Charlie hatte damit argumentiert, dass wir nichts überstürzen sollten, falls etwas passiert war, war es schon passiert und wir sollten uns der Situation nicht unbewaffnet stellen. Also hatten wir während dem Fahren einen Plan ausgemacht, ich hatte mich in meinen Kampfanzug geworfen, mich bewaffnet und die Ketten eingepackt und nun konnten wir losfahren. Das alles war in einer gewissen Hektik passiert, da keiner von uns wirklich ruhig bleiben konnte und wollte. Uns war klar, dass die Polizisten Chads Eltern ihm nicht einfach so aushändigen würden und uns war auch klar, dass Chad sich von ihnen nicht aufhalten lassen würde, doch das, was uns in der Polizeistation und dem anschließenden Gefängnis erwartete, hätte keiner von uns ahnen können.

Charlie ging voran, als wir das Gebäude betraten, er musste das Schloss brechen, damit sich die Türe öffnete. Ich lief hinter ihm, hielt die Silberkette in der Hand und versuchte mit ihr möglichst leise zu sein. Austin war hinter mir, nicht, weil er Angst hatte, sondern weil er mich schützen wollte, für den Fall.

Ich weiß nicht, womit ich gerechnet hatte, aber bekommen hatte ich das sicherlich nicht. Bereits im Eingangsbereich, einem langen Flur, mit einer Theke am Anfang direkt gegenüber von der Tür, begegnete uns ein Massaker.

„Scheiße", hörte ich Austin hinter mir hauchen und sah mich ebenso schockiert um wie er, während ich Charlie folgte. Er griff durch eine Lücke der Scheibe über der Theke, um den Puls der dahinterliegenden Person zu tasten. Danach sah er mich an und schüttelte bedauernd den Kopf. Austin löste sich etwas aus unserer Reihe, um sich die anderen Leute anzusehen, die hier lagen. Einige waren Polizisten, einige schienen normale Bürger gewesen zu sein. Sie waren vermutlich hierhergekommen, da sie Schutz gesucht hatten oder  Unrecht hatten melden wollen, dabei war ihnen hier das Schlimmste widerfahren.

Charlie brach eine weitere Tür auf, während ich hier stehenblieb und Austin dabei zusah, wie er nach Überlebenden suchte... vergeblich. Ich konnte und wollte nicht glauben, dass unser Chad das getan hatte. Der Chad, den ich kannte, konnte keiner Fliege etwas zu leide tun. Chad würde sowas nicht tun... Chad war kein Monster.

Während ich diesen Gedanken folgte, verlor ich mehr und mehr meinen Bezug zur Realität, verlor an Konzentration, verlor meine Mauer. Dies bemerkte ich allerdings erst, als ich verwirrende Dinge hörte. „Wer ist das? Wer ist das? Gehören die zu dem bösen Mann? Kommen sie, um mich zu holen? Mami, bitte steh auf. Mami, steh auf, komm her. Mami, ich hab' Angst. Ich will hier weg..."

Ich folgte einem Gefühl und ging an Austin vorbei, ziemlich zum Ende des Flurs, wo vor ein paar Fenstern Vorhänge angebracht waren und Pflanzen standen. Ganz in der Ecke wackelte der Vorhang etwas und die Äste der Pflanze ebenso, beinahe so als würden sie zittern. Wüsste ich nicht, dass sich hier jemand versteckte, ginge ich wohl davon aus, das würde bloß vom Wind ausgelöst.

„Ganz ruhig, ich tue dir nichts", begann ich leise und legte meine Ketten und Waffen ab.

„Er hat mich entdeckt" Die kleine Person drückte sich etwas weiter in die Ecke.

„Schau mal, ich lege alle meine Waffen weg", ich entfernte die kleine Armbrust von meinem Arm und legte sie vorsichtig auf den Boden, deutete dann auf den kleinen Haufen. „Wir sind nicht hier, um jemandem wehzutun. Wir wollen helfen"

Ich blieb etwa einen Meter vor dem Vorhang stehen und ging dann in die Hocke. Die Gedanken und Gefühle meines Gegenübers fuhren Achterbahn.

„Möchtest du nicht rauskommen?", fragte ich und schob die Pflanze ein wenig zu Seite. „Ich verspreche dir, dass ich zu den Guten gehöre..."

Keine Antwort.

„Du weißt doch, dass ich weiß, wo du bist. Hätte ich dir wehtun wollen, hätte ich das lange getan. Ich will dich aber nicht verletzen, Kleines. Ich will dir helfen."

Nach wie vor keine Veränderung.

Ich seufzte. „Ich weiß, dass du Angst hast. Dass du traurig bist. Ich kann dir nicht versprechen, dass alles wieder gut wird, Chloe, aber ich verspreche dir, dass ich alles dafür tun werde, dass du sicher bist."

„Woher weißt du, wie ich heiße?", schniefte das Kind.

„Ich kann Gedankenlesen", erklärte ich ihr ehrlich. „Ich habe die Erinnerung gesehen, die sich gerade in deinem Kopf abgespielt hat. Die von deiner Mama, wie sie dir sagt, dass du nie-nie-niemals mit Fremden mitgehen darfst. Du machst das ganz richtig, dich daran zu halten. Aber das hier ist eine Ausnamesituation. Du darfst rauskommen. Du musst mir nicht vertrauen oder mit mir kommen, aber ich möchte mich versichern, dass es dir gut geht. Und dann können wir jemanden von deiner Familie anrufen, der dich abholen kommt. Deinen Bruder zum Beispiel"

Etwas regte sich hinter dem Vorhang, Chloe schob ihn etwas zur Seite und lugte halb neugierig, halb ängstlich hinter ihm hervor. Als sie erkannte, dass ich sie sah, zog sie ihn zwar sofort wieder zurück, aber dann wagte sie nochmal einen Versuch und hielt meinem Blickkontakt stand.

Ich lächelte sie an und hielt ihr mein entsperrtes Handy hin. „Magst du jemanden anrufen?"

Vorsichtig griff sie nach dem Handy, ich hörte, wie sie eine Nummer eintippte und dann wählte es.

„Chris? I-Ich bin's... K-kannst du mich... ab-abholen?", schluchzte das kleine Mädchen.

Die arme kleine Maus. Bisher hatte sie sich nicht getraut zu weinen und auch nur einen Ton zu machen, doch nun schien sie unterbewusst zu wissen, dass sie in Sicherheit war und ließ alles raus, sodass sie sehr schwer zu verstehen war. Als sie nicht mehr aufhören konnte zu weinen und ihr das Handy aus der Hand rutschte, nahm ich es an mich und übernahm das Gespräch mit ihrem Bruder.

„Hallo, Chris. Mein Name ist Silas. Ich habe deine Schwester gefunden und ihr mein Handy gegeben, um dich anrufen."

„Ah ok. Danke", kam unsicher von dem Jungen. „Wo ist sie denn? Ich habe kaum was verstanden... Warum weint sie so sehr? Geht es ihr gut?"

„Wir sind auf der örtlichen Polizeistation. Kannst du zeitnah hier sein?" Auf die anderen Fragen ging ich nicht weiter ein.

„Ich..." Er seufzte schwer und murmelte ein Scheißdrauf. „Ja, kann ich, ich brauche etwa 20 Minuten. Könnten Sie solange bitte bei ihr bleiben?"

„Natürlich", versicherte ich dem Jungen. „Wenn du da bist, dann klingel bitte, auch wenn die Tür offensteht"

„Äh ok", kam etwas verwirrt von ihm. „Danke und bis gleich" Dann legte er auf.

Ich steckte mein Handy zurück und lächelte Chloe an. „Dein Bruder kommt gleich, er braucht aber noch etwa 20 Minuten."

Sie schluchzte einfach weiter. Seufzend sah ich sie an und rutschte etwas näher zu ihr, diesmal wich sie nicht zurück. „Ganz ruhig, Kleines", versuchte ich es und griff nach ihrer Hand. Es war schwer, einen intensiven Blickkontakt mit ihr aufzubauen, aber nach einigen Minuten gelang es mir. „Ich passe jetzt auf dich auf, du bist in Sicherheit" Ich teilte ihr das in Gedanken mit, da sie gegen alle äußeren Einflüsse gerade abgeschottet zu sein schien.

Dass ich mit ihr sprach ohne die Lippen zu bewegen, schien sie so sehr zu schockieren, dass sie mich plötzlich ruhig ansah, aus ganz großen Augen. „Bist du ein Superheld?", schniefte sie dann. Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf. Sie wirkte deshalb enttäuscht, bis ihr Blick an mir vorbei auf den Boden glitt und sie wieder zu weinen anfing. In ihren Gedanken hörte ich, was vor sich ging und beschloss, dass es das Beste war, sie hier rausubringen, dorthin, wo nicht ihre leblose Mutter vor ihr auf dem Boden lag.

„Ich bringe dich hier raus", flüsterte ich, als ich die Arme um sie legte und sie hochhob. Ich befürchtete kurz, sie würde losschreien und mich wegstoßen, doch sie klammerte sich mehr an mich und presste ihr nasses Gesicht in meine Halsbeuge. Ich trug sie über die Leichen hinweg durch den Flur und streichelte dabei ihr verwuscheltes Haar, in der Hoffnung, es würde sie etwas beruhigen.

Austin warf der Kleinen einen mitleidigen Blick zu und Charlie nickte mir nur zu. Sein Blick trug einen Ausdruck in sich, den ich nicht zu deuten wusste und im Moment war mir das auch gar nicht so wichtig. Während Charlie und Austin drinnen nach weiteren Überlebenden suchten und das Gebäude sicherten, saß ich mit Chloe auf der Treppe vor dem Eingang, wiegte sie in meinem Schoß, solange, bis sie eingeschlafen war.

Ich wiegte sie weiter, strich weiterhin über ihren Kopf und wachte über ihren Schlaf, um sicherzugehen, dass sie zumindest in ihren Träumen vor dieser grausamen Realität sicher war.

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