60. Boris: Back again
Diese alten Gemäuer machten mir Angst. Ich wohnte nicht gerne im Palast, nicht nur, weil ich nur noch weniger Zeit mit Charlie hatte, da alle irgendetwas von ihm wollten, sondern auch, weil ich es einfach gruselig fand. Es war kalt, das Grau der Wände wirkte trostlos und immer wenn die durch die Flure lief, kam es mir so vor, als sei ich der letzte Mensch auf der Welt, weil alles so leer und verlassen wirkte. Letzte Nacht hatte ich bei Austin geschlafen, zum einen, da Charlie bis Mitternacht noch unterwegs gewesen war und ich alleine nicht schlafen konnte, zum anderen, da ich wusste, dass Austin etwas Gesellschaft brauchte. Wir hatten eigentlich die ganze Nacht nur geredet und ein wenig gekuschelt. Mir ging es dadurch besser und, nachdem Austin sich leise bedankt hatte, während er eingeschlafen war, war ich sicher, auch ihm hatte das geholfen.
Ich wurde wach, als ich erneut, wie so oft in den letzten Tagen, das Gefühl einer Erschütterung vernahm, beinahe so als gäbe es einen Erdbeben, aber außer mir schien das keiner mitzubekommen. Mein Schlaf war dadurch aber beendet und so stand ich auf und huschte leise in Charlies Gemach. Es überraschte mich, ihn dort anzutreffen.
Seine stahlgrauen Augen erfassten mich sofort als ich das Zimmer betrat. Er lächelte mich sanft an, kam mit dem Handtuch um die Hüften gebunden auf mich zu und gab mir einen Kuss, während er seine starken Arme um mich legte.
„Hast du bei Austin schlafen können?", fragte er mich anschließend.
Ich zuckte mit den Schultern. „Etwas. Wann warst du fertig?"
„Vor ein paar Stunden... Ich muss aber gleich wieder los. Kann ich etwas Blut haben?"
Seufzend sackten meine Schultern nach unten, ich nickte und murmelte: „Klar"
Daraufhin schob mich Charlie jedoch von sich weg, er hob mit einer Hand meine Schulter und drückte mit der anderen mein Kinn nach oben. „Was ist los, Liebling?"
Ich schloss für einen Moment die Augen, atmete dabei tief durch, ehe ich meinen Mann wieder ansah. „Du kannst deinen fehlenden Schlaf nicht dauerhaft durch mein Blut ersetzen, Charlie. Die Welt wird nicht untergehen, wenn du dich ein paar Stunden hinlegst und wenn doch, wecke ich dich schon auf" Ich deutete mit einem Blick zum Bett und sah bittend zu Charlie nach oben.
„Das weiß ich doch", meinte dieser leise und nahm meine Hand. „Aber ich habe die ganze Zeit das Gefühl, dass irgendwas passiert, das wir aufhalten müssen. Ich kann mich nicht hinlegen und entspannen, solange das da ist..."
Ich schluckte, schüttelte meinen Kopf und brachte Charlie dadurch zum Verstummen. „Das ist das, was du von meiner Kraft zu spüren bekommst"
Zuerst wirkte er so als wolle er widersprechen, doch ziemlich schnell wurde ihm klar, was das bedeutete. Er zog daraus jedoch andere Schlüsse als ich.
„Du bist so unglaublich stark", murmelte er, nahm mich in den Arm und hielt mich fest. Ich hatte nicht die Kraft und den Willen für Diskussionen, also schmiegte mich an seine Brust und lauschte seinem gleichmäßigen Herzschlag, um einfach nur zu wissen, dass er da war; hier bei mir und dass ich bei ihm sicher war.
Eine unbestimmte Zeit verging, bis ein Klopfen an unserer Tür den kurzzeitigen Frieden unterbrach. „Boris! Charlie! Kommt so schnell wie möglich ans Tor!" Nachdem Raphael uns diesen Befehel zugebrüllt hatte, hörte man auch schon schnelle, sich entfernende Schritte.
Charlie und ich lösten und langsam voneinander, wiederwillig. Er schob mich sanft von sich und zog sich schnell an.
Da Raphael sehr alamiert geklungen hatte, eilten wir anschließend ohne weiter Zeit zu vergeuden runter ans Eingangstor des Palastes, wo Silas, Raphael, Austin und Michael bereits auf uns warteten.
„Was ist los?", fragte ich alarmiert.
„Dale ist aufgetaucht.", antwortete Michael. „Er ist bei Briana, sie hat mir Bescheid gegeben, dass er da ist und unsere Hilfe braucht. Mehr weiß ich nicht. Aber wir sollten uns beeilen, es klang dringlich"
Wir einigten uns darauf, mit dem Auto zu fahren, um zeitgleich anzukommen. Ich fühlte mich immer wieder seltsam, durch den Wald zu fahren, aber es war besser als die gesamte Strecke laufen zu müssen. Briana hatte uns ihre Adresse als Treffpunkt genannt. Wir fanden sie durch das Handynavi leicht und hetzten dann quasi zur Haustür. Es dauerte nicht lange, bis Briana öffnete. Sie umarmte Michael kurz, beachtete uns anderen nicht wirklich, sondern meinte nur mit ungewöhnlich kalter Stimme, dass wir ihr folgen sollten. Das taten wir.
Ihr Haus war nicht sonderlich groß, daher erreichten wir das Wohnzimmer schnell. Dale saß dort auf dem Sofa, die Ellbogen auf den Knien abgestützt und die Finger tief in die Haare gekrallt.
„Dale, sie sind da" Briana setzte sich zu ihm, legte ihre Hand auf seinen Rücken, wodurch er aufmerksam wurde und hochsah. Er sah gelinge gesagt fertig aus. Dunkle Augenringe zierten seine glasigen Augen, er war ganz blass und trug die pure Verzweiflung in seinem Blick.
Austins erste Tat war es, sich zu ihm zu setzen, ihn zu umarmen und ihm zu sagen, dass es okay war. Was genau wusste wohl nicht mal er selbst so wirklich. Er machte jedoch weiter damit, dass wir für ihn da waren und auf ihn aufpassen würden.
Dale jedoch schob ihn langsam von sich, sah weg und schüttelte den Kopf. „Du verstehst nicht, Austin. Ich habe Scheiße gebaut, ich habe richtig Scheiße gebaut"
„Egal, was es ist, wir kriegen das hin", schaltete ich mich ein. Wir alle fanden einen Platz auf dem Sofa und versicherten Dale, dass wir hinter ihm standen. Das schien es aber nur noch schlimmer für ihn zu machen. Er kämpfte mich sich, um die Tränen zurückzuhalten, doch er versagte, solange, bis Raphael ihn durch seine Kraft beruhigte.
„Danke", hauchte Dale leise, nachdem er wieder regelmäßig atmete und das Weinen eingestellt hatte.
„Schon okay. Jetzt erzähl uns ruhig was los ist.", Raphael blieb bei ihm, hatte die Hand auf seiner Schulter und sah ihn mit einem vertrauensseligen Blick an.
In dem Moment schien die Welt um mich herum kurz still zu stehen, ein Schmerz durchzuckte meinen Kopf und ich sah ein Bild vor Augen. Raphael auf Benedikts Thron, die gesamte Bevölkerung sich vor ihm verneigend. Obwohl es nur der Bruchteil einer Sekunde war, spürte ich die Macht, die Raphael in diesem Moment ausstrahlte, den Stolz, doch zugleich die Ruhe. Ich wusste nicht wirklich, was ich damit anfangen sollte, doch jetzt gerade war das auch alles andere als wichtig, denn Dale war bereit zu reden.
„Ich wusste einfach nicht, was ich tun soll, ich hatte keine Ahnung, was ich anrichte, ich wollte doch nur das Richtige tun..." Tränen rannten stumm seine Wangen hinab.
„Es ist okay, Dale. Aber damit wir dir helfen können, musst du uns genau sagen, was passiert ist." Austin sah ihn beruhigend an, hatte seine Hand auf Dales Oberschenkel.
Keiner von uns hatte eine Ahnung, was Dale getan hatte, und das hätte mit Sicherheit auch keiner vermutet.
„Bitte versprecht mir, mich nicht zu hassen. Ich wusste wirklich nicht, was ich da tue, ich dachte, so kann ich alles wieder gut machen..."
„Wir werden dich nicht hassen, versprochen", unterbrach ich ihn überzeugt. Alle anderen nickten zustimmend, was Dale schließlich dazu veranlasste, die Wahrheit auszupacken.
„Ich habe Chad wiedererweckt..." Er schluckte nach diesem Satz und sah vorsichtig hoch, um unsere Reaktionen zu überblicken.
Obwohl Dales Aussage bedeutete, dass Chad wieder am Leben sein musste, hielt sich unsere Freude in Grenzen. Wir hatten schon mal Bekanntschaft mit etwas Ähnlichem gemacht und wir wussten, dass einen das ewig verfolgen konnte.
„Und weiter?", hakte Charlie nach. Ich spürte, wie angespannt er plötzlich war, legte meine Hand auf seinen Arm, an dem die Adern bereits hervortraten, doch es schien nicht wirklich etwas zu bringen. Ich verstand das sehr gut.
Durch die Geschehnisse mit Henry wussten wir, dass der Tod etwas war, das entgültig bleiben sollte. Egal, wie sehr man eine Person vermisste, wie sehr man sie liebte oder wie wenig sie ihren Tod verdient hatte, eine Auferstehung war nichts, das Menschen herbeiführen sollten. Wir könnten solch eine Macht einfach nicht bändigen und waren den Konsequenzen des Ganzen nicht gewachsen.
Wie erwartet bestätigte Dale meine Annahme, dass seine Tat nicht ohne Folgen geblieben war.
„Er ist nicht mehr derselbe... Also gar nicht. Er erinnert sich an alles, aber es ist, als sei er selbst einfach weg... Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll... Es ist als... als..." Dale sah sich suchend um, so als versuche er, die passenden Worte zu finden.
Charlie half ihm auf die Sprünge, indem er seinen Satz vollendete, leise, aber dennoch gut hörbar für alle. "Als hätte er keine Seele mehr?"
Seine Worte waren weniger erschütternd als die Bestätigtung dieser, die durch Dales Schweigen erfolgte.
Wer hats erwartet?
Was passiert jetzt wohl?
Würdet ihr für jemanden, den ihr liebt, auch Himmel und Hölle in Bewegung setzen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken?
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