Kapitel 1
• M A T T H E W •
Gedankenverloren kritzle ich am Rand meines Hefters herum, blende den Unterricht vollkommen aus.
Bereits fünf Minuten nach Beginn habe ich den Faden des Themas, über welches der Lehrer spricht, verloren. Dem hört nie jemand so richtig zu. Er gibt sich aber auch nicht allzu viel Mühe, den Unterricht interessant zu gestalten.
Mr. Smith ist der Meinung, in seinem Alter in den verdienten Ruhestand zu gehören. Doch die Schule hat ihm dabei einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht. Er wird mindestens noch weitere fünf Jahre arbeiten müssen. Seine schlechte Laune deswegen lässt er besonders gerne an seinen Schülern aus.
Als ich nach meiner Federmappe greife, rutscht mein Ärmel nach oben. Es werden die verblassten Narben sichtbar, die ich mir selbst über die Jahre hinzugefügt habe. Gedankenverloren zeichne ich die hellen Hautstellen nach.
Jede dieser Narben hat ihre eigene kleine Geschichte, die erklärt, warum ich mir das damals angetan habe. Wann genau ich angefangen habe, mir Verletzungen zuzufügen, weiß ich nicht mehr. Es begann, als ich zur Zielscheibe anderer wurde, die mir eingeredet haben, dass mit mir etwas nicht stimmte.
So oft habe ich mich gefragt, was sie in mir sehen, dass sie so über mich urteilen. Ich habe nicht verstanden, was falsch an mir sein sollte.
Es schien also grundlos zu sein, wie sie mich behandelten, weh tat es aber trotzdem. Mein Kopf ist oft leer und gleichzeitig so voll gewesen, dass ich mich fragte, wie das überhaupt sein kann.
Die anderen haben mich schnell dort gehabt, wo sie mich wollten. Am Boden. Verwirrt darüber, dass ich anders sein sollte, machte ich eine Wandlung durch.
Eines Tages spürte ich einen Druck, der vergehen sollte. Vor Wut brannte mein Körper. Ich war wütend auf meine Mitschüler, dass sie mich so behandelten, als wäre ich ein Aussätziger. Wütend auf meine Eltern, dass sie mich nicht so liebten, wie ich es brauchte.
Mein Vater hat nie eine große Rolle in meinem Leben gespielt, da er oft im Büro ist. Wenn ich ihn aber mal zuhause antreffe, zieht er sich meist zurück. Als würde er sich aus allem raushalten wollen, was in seiner Umgebung geschieht.
Mutter ist das komplette Gegenteil. Sie nimmt meine Anwesenheit sehr wohl wahr, macht allerdings keinen Hehl daraus, dass ich unerwünscht bin. Während andere eine emotionale Bindung zu ihren Müttern aufgebaut haben, begegnet sie mir oftmals kaltherzig.
In ihrem Leben gibt es nur sie und vielleicht die Zwillinge, die sie allerdings auch oft abschiebt, um ihre Termine nachzugehen. Oft habe ich mir schon die Frage gestellt, ob sie überhaupt dazu fähig ist zu lieben.
Doch neben mein schlechtes Verhältnis zu meiner Familie entwickelte sich vor allem ein Hass mir selbst gegenüber. Dass ich so schwach war und mich nicht gegen andere wehren konnte. Dass mir der Mut fehlte.
Wenn an Nachbarstischen gelacht wurde, hatte ich automatisch Angst, dass das Gelächter mir gebührt. Irgendwann bezieht man Blicke und Lachen immer auf sich, wenn man so verdammt unsicher ist und ein Selbstbewusstsein in der Größe einer Erbse hat.
Und irgendwann hatte ich das Bedürfnis, diesem Druck, der mich seit Langem folterte, nachzugehen. Meine Arme standen unter Feuer. Wie in Trance schnitt ich mir die Haut auf. An beiden Armen. Und es war viel Blut.
„Matthew."
Ich schrecke auf, als Mr. Smith vor mir steht und mich von oben herab verärgert anfunkelt. Meine Mitschüler haben sich zu uns umgedreht, um das Spektakel zu beobachten.
„Ähm...Wie war die Frage nochmal?"
„Junger Mann, ich erwarte, dass man meinem Unterricht folgt. Ich habe nicht die Zeit und Geduld dafür, jeden Satz doppelt und dreifach zu wiederholen, damit es auch diejenigen verstehen, die anstatt zuzuhören, sich streicheln. Oder was du da auch immer machst."
Die Klasse lacht wieder, während er eine Seite in meinem Lehrbuch umblättert und auf eine Aufgabe tippt. Ich bedecke mein vor Scham errötetes Gesicht mit meinen Händen, als unser Geographielehrer zurück zu seinem Pult geht.
Er hat es auf mich abgesehen. Schon von Anfang an nutzt der grauhaarige Mann jede Gelegenheit, mich bloßzustellen. Meine Noten leiden auch darunter. Eigentlich bin ich ein guter Schüler, in beinahe allen Fächern erreiche ich gute Leistungen. Nur im Unterricht von Mr. Smith nicht. Selbst wenn ich die richtigen Antworten weiß, bekomme ich immer wieder schlechte Noten.
Hinter mir höre ich das raue Lachen, das mir durch Mark und Bein geht. Ich kann die Blicke spürbar auf mir fühlen. Meine Hände beginnen zu zittern, während mein Herz einen Takt aussetzt. Es beginnt im Lachen meiner Mitschüler zu schlagen. Ihr höhnisches Gelächter löst eine plötzliche Angst in mir aus.
Ich muss hier raus.
„Entschuldigung", murmle ich und erhebe mich von meinem Stuhl. „Dürfte ich kurz auf die Toilette gehen?"
„Es sind noch acht Minuten. Die wirst du noch aushalten", erwidert Mr. Smith, der, ohne einen Blick auf die Uhr geworfen zu haben, etwas an die Tafel kritzelt.
„Mr. Smith, bitte. Es ist dringend."
„Gut, verschwinde. Ich erwarte dich dann heute Nachmittag zum Nachsitzen", eröffnet er mir unbekümmert. Meine Kinnlade fällt herunter.
Sein kalter Blick liegt auf mir, als ich versuche, meine Gedanken zu ordnen. Ich verstehe nicht, was er gegen mich hat, dass er mich so behandelt. Würde ein anderer Schüler fragen, müsse dieser sicherlich nicht nachsitzen.
Das ist doch idiotisch!
„A-Aber, Mr. Smith. Ich habe doch..."
„Los geh, Matthew!", ruft er mir über die Schulter zu, ohne mich weiter zu beachten.
Fassungslos hebe ich meinen Rucksack auf und packe mein Zeug ein. Währenddessen murmeln und kichern alle anderen. Dazu sagt unser Lehrer allerdings nichts.
Mit gesenktem Kopf dränge ich mich an den Tischen der anderen vorbei, komme aber nicht drum herum, ein letztes Mal meinen Blick umherschweifen zu lassen. Niemand scheint sich weiter um mich zu kümmern. Außer einer.
Christoph Jackson.
Er sieht mir hinterher. Als sich unsere Blicke treffen, schnappe ich überrascht nach Luft. Ich kann nicht beschreiben, was das in mir auslöst. Keiner von ihnen sieht mich sonst direkt an, außer um mich einzuschüchtern. Aber das hier erscheint mir anders. So intensiv.
Doch ehe ich mir weiter darüber den Kopf zerbrechen kann, wird Chris von Aaron angestupst. Und dann lacht er. Über mich. Wie auch seine hirnlosen Freunde.
Er ist nicht anders als all die anderen.
Ich drehe mich um und reiße die Tür auf, die ich kurz darauf zuwerfe.
Was soll mich das kümmern? Ich muss sowieso schon nachsitzen.
„Diese Idioten!", murmle ich aufgebracht vor mich hin und laufe wütend durch die Schulflure, um nach draußen auf den Hof zu gelangen, anstatt die restliche Unterrichtszeit versteckt auf der Toilette zu verbringen. Dort setze ich mich auf eine der Bänke und starre geradeaus.
Warum ich? Was hat nur jeder gegen mich? Unterscheide ich mich so sehr von allen, dass sie mich abstoßend finden?
Bin ich so anders, weil ich nicht so sein will wie meine Mitschüler? Die, die nur an Partys denken. Das ist doch kein Leben. Es bringt einen in der Zukunft nicht weiter, wenn man die Schule vernachlässigt. Davon hängt doch alles ab!
Und genauso wenig möchte ich so sein wie Chris' Clique. Sie sind dafür bekannt, nichts anbrennen zu lassen und ihre Betthäschen zu wechseln wie ihre Unterhosen. Das ist doch ekelhaft. Diese Art von Teenager bin ich nicht.
Zugegeben, der Dunkelhaarige ist durchaus attraktiv. Verständlich, dass die Mädchen verrückt nach ihm sind. Und auch der eine oder andere Junge.
In der Schule geht das Gerücht herum, dass Chris nicht einmal vor demselben Geschlecht Halt macht. Daran ist auch nichts verwerflich.
Und nur, weil ich ihn gutaussehend finde, bedeutet das nichts. Auch ein Kerl kann über einen anderen Mann sagen, dass dieser ansehnlich wirkt. Denke ich...
Hinter mir fällt die große Tür zu, sodass ich erschrocken zurückweiche. Ausgerechnet Chris läuft die Treppen herunter und kramt in seiner Hosentasche. Zum Vorschein kommt eine Zigarettenschachtel. Eine zwischen den Lippen klemmend, tastet er seine Hose wahrscheinlich nach einem Feuerzeug ab.
Ich beobachte ihn dabei, wie er sich die Kippe schließlich anzündet und sich umsieht. Als er mich entdeckt, hält er inne. Unter seinem Blick fühle ich mich unwohl.
Warum ist er hier? Ist er mir etwa gefolgt? Ist das vielleicht ein Ablenkungsmanöver, das dafür sorgt, dass ich nicht bemerken soll, wie sich seine Freunde anschleichen und mich überrumpeln?
In seinen Augen liegt ein Ausdruck, den ich nicht ganz deuten kann. Doch bevor ich mich überwinden kann, ihn anzusprechen, wirft er seine Zigarette auf den Boden und verschwindet wieder ins Schulgebäude.
Was war das? Dieser Junge ist mir ein Rätsel.
Mein vibrierendes Handy reißt mich aus den Gedanken.
Mutter [13:34 Uhr]: Matthew, ich fahre mit den Zwillingen für einige Tage zu euren Großeltern. Dein Vater arbeitet zudem an einem wichtigen Projekt und wird deshalb viel zu tun haben. Vergiss nicht, dass dein Aushilfsjob morgen beginnt. Ich melde mich irgendwann. Mach keinen Unsinn!
Es ist nichts Neues für mich, dass ich allein Zuhause bin. Meine Eltern haben kaum Zeit für mich. Vor allem, nachdem meine Geschwister geboren sind. Davor bin ich ihr komisches Kind gewesen, das nur in seinem Zimmer gehockt hat. Nie Freunde nach Hause brachte oder bringt.
Nun bin ich oft nur Luft für meine Familie. Von den Zwillingen soll ich mich weitestgehend fernhalten, weil ich sie vielleicht in Gefahr bringen könnte. Ich sei unvorsichtig. Aber meine Eltern haben Angst, dass ich den Mädchen etwas antue. Obwohl sie es nicht zugeben. Ich merke es ihnen jedes Mal an.
Wohl schon als ich klein war, soll ich merkwürdig gewirkt haben. Die Kinder, mit denen ich spielen wollte, haben mich gemieden. Auch sie schienen sich vor mir zu fürchten.
Irgendwann soll ich sogar mal ein Mädchen im Kindergarten schlimm verletzt haben, woran ich mich bis heute aber nicht erinnere. Das haben mir meine Eltern oft zum Vorwurf gehalten, allerdings kann ich mir bis heute nicht vorstellen, dass ich so etwas wirklich einmal getan habe.
Die Schulklingel ertönt und kurze Zeit später füllt sich der Schulhof mit Schülern. Ich lasse meinen Blick über die Gruppen wandern. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist es, Menschen und ihr Verhalten zu beobachten.
Sie lachen, reden über das kommende Wochenende und planen, was sie tun wollen.
Mir wird eine Hand auf die Schulter gelegt. Im selben Moment umhüllt mich der Duft von Vanille. Ich wende meinen Kopf zu Piper, meine beste Freundin neben Evan.
Die beiden sind die Einzigen, die sich nichts aus den Meinungen anderer machen. Sie mögen mich so wie ich bin und sehen in mir nichts Falsches. Im Gegensatz zu Evan verabscheut Pip Chis' Clique für das, was sie mir und anderen antun. Der Lockenkopf aber ist mit Chris seit ihrer Kindheit befreundet. Er hat mich schon ein paar Male davor bewahrt, von Chris' Freunden verprügelt zu werden.
„Hey, Matty. Hab gehört, Mr. Smith hat dich aus seinem Unterricht geschmissen?", fragt die Blondine, als sie sich neben mich auf die Bank setzt. Ich beschränke meine Antwort auf ein einfaches Nicken und sehe dann auf meine Finger.
„Warum hat er das gemacht?"
„Er war genervt von mir. Ich muss später auch zum Nachsitzen erscheinen", murmle ich frustriert.
„Er hat es echt auf dich abgesehen!", ruft sie verärgert aus. „Matty, du solltest das der Schulleitung melden. Er kann sich nicht alles erlauben, nur weil er dein Lehrer ist."
„Vergiss es, Piper. Ich möchte nicht noch mehr Ärger hab..."
Ich weiche gerade noch zum richtigen Zeitpunkt einem Fußball aus, der nur knapp an meinem Kopf vorbeifliegt und hinter uns gegen der Hausmauer abprallt.
Neben uns lachen Aaron und Nathan, während Chris zum Ball joggt.
„Seid ihr bescheuert oder so? Matty hätte verletzt werden können!", schreit Piper die Jungs an. Der Blondhaarige unter ihnen zuckt daraufhin nur mit den Achseln. „Vielleicht war das ja auch das Ziel."
Aaron und Nathan sind Chris' Handlanger, sie verrichten alles, wozu er sich zu fein ist. Das tun sie aber auch liebend gern, wie zum Beispiel anderen Schülern das Leben schwer machen. Und das Schlimmste ist, dass sie es schonungslos und ohne jegliches Gewissen tun, dabei eher Freude verspüren. Egal, ob jemand verletzt wird.
Seelisch oder körperlich...
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