62. Jaylin: Diagnose

Das Erste, was ich wahrnahm, war ein regelmäßiges Piepen.

Dann einen Druck in meiner Hand.

Ich öffnete verwirrt die Augen und fand mich in einem unbekannten Zimmer wieder.

Es war alles ziemlich weiß, sah steril aus und roch so nach Krankenhaus. Die Schläuche in meinem Arm bewiesen wohl, dass ich in einem Krankenhaus sein musste.

Ich wusste nicht mehr recht, was ich hier tat, aber ich begriff, woher der Druck in meiner Hand kam.

Dads Kopf lag auf meinen Beinen, seine Hand in meiner. Er schlief. Wer wusste schon, wie lange er bereits hier war. Oder wie lange ich hier war.

Ich überlegte eine Sekunde, ob ich ihn wecken sollte, entschied mich dann aber dafür, ihn in Ruhe zu lassen, und löste nur meine Hand aus seiner. Eigentlich wollte ich mir damit durch die Haare fahren, aber das klappte nicht so recht, weil ich einen Verband um den Kopf hatte. Okay, das war jetzt echt seltsam.

Ich wollte Antworten. Jetzt.

Gerade dachte ich noch darüber nach, was ich tun sollte, um diese zu bekommen und im nächsten Moment öffnete sich auch schon die Tür und jemand kam herein.

Ich hoffte auf Austin, war aber nicht allzu enttäuscht, als ich meine Mum sah.

Sie bemerkte mich gar nicht erst, sondern lief auf den Tisch zu, der dem Bett, in dem ich lag, gegenüberstand und stellte dort zwei Kaffeebecher ab.

Mit einem erschöpften Seufzen drehte sie sich herum und sah Dad leidend an.

„Hei Mum"

Ihr Blick sprang geschockt hoch zu mir, sie starrte mich an.
Dann änderte sich ihre Mimik zu Unglauben, aber Freude, sie kreischte viel zu hoch und rannte auf mich zu und fiel mir um den Hals, drückte mir ganz viele kleine Küsse auf die Wange.

Ich lachte darüber und wischte mir ihre Schmatzer weg. „Ich bin keine 5 mehr, Mum, und das hab ich damals schon gehasst"

Sie umfasste mein Gesicht mit den Händen und blickte mich besorgt an. „Tut mir leid, mein Schatz, aber ich hatte solche Angst um dich." Sie umarmte mich nochmal.

Von dem ganzen Lärm und Trubel wurde auch Dad wach. Er sah sich erstmal verwirrt und müde um, bis mich sein Blick traf, sich seine Augen weiteten und er alarmiert aussah. Er sparte sich die Umarmung, doch ich sah in seinen Augen, wie gern er mich grade in den Arm nehmen würde. Sorry, Dad, aber das hast du dir verbockt.

„Wie geht's dir?", fragte er besorgt. „Hast du Schmerzen?" Er musterte mein Gesicht so genau, dass es fast schon gruselig wurde und tastete meine Hand ab, als würde ihm das die Antwort geben. „Brauchst du irgendetwas?"

„Wasser wäre nicht schlecht", gab ich zu, ignorierte mal, wie lustig er drauf war, wenn er sich Sorgen gemacht hatte. Der bekam ja eine halbe Panikattackte.
Er holte schnell ein Glas vom Besuchertablett, schenkte Wasser ein und überreichte es mir.

Nach meinem gemurmelten „Danke" nahm ich ein paar Schlucke, bemerkte dabei aber, wie trocken meine Kehle war und trank deshalb alles aus.

„So und jetzt könnt ihr mir sagen, was hier los ist" Ich stellte das Glas neben mir auf einen kleinen Schrank und sah meine Eltern auffordernd an.

Mum setzte sich auf meine Bettkante, statt dem Stuhl neben dem Bett und hielt die ganze Zeit Körperkontakt zu mir. Obwohl ich irgendwie noch sauer auf Dad war, zog ich meine Hand nicht weg, als er seine auf meinen Unterarm legte. Es schien ihm schlecht zu gehen, schlechter als jemals zuvor und das wollte ich nicht. Auch wenn wir unsere Differenzen hatten, war er nach wie vor mein Dad.

Als er mich ansah, war sein Blick sehr traurig. „Du hast einen Hirntumor, Jaylin"

Ich musste lachen. „Haha sehr witzig. Jetzt die Wahrheit bitte."
Mein Lachen verstummte schnell, als ich die Blicke meiner Eltern sah und die Tränen in Mums Augen.
„Ihr meint das ernst?", hauchte ich tonlos.

Sie nickten beide, konnten mir dabei nicht mal mehr in die Augen sehen.

Ich atmete tief durch, versuchte Ruhe zu bewahren. „Okay... Dann lassen wir ihn halt raus machen" Ich versuchte meine Eltern aufmunternd anzusehen.

So richtig begriff ich da alles noch nicht. Wieso sollte es auch ausgerechnet mich treffen? Schon wieder?

„Das ist nicht so einfach, Großer" Dad klang so als würde er mit einem Kind sprechen, als er mich einfühlsam ansah.

„Wie lange bin ich schon hier?", wollte ich wissen.

„Eine Woche"

Ich nickte verstehend.

Die nächste Frage traute ich mich kaum zu stellen, aber im Moment war es das Einzige, das mich noch interessierte. „Wo ist Austin?"

Dads Blick veränderte sich für eine Sekunde. Ich bemerkte es, er bemerkte, dass ich es bemerkte, doch keiner von uns sagte etwas.

Stattdessen tat es Mum. „Er war die ganze Zeit hier, aber er hat Blut gebraucht und ist deshalb vor einer halben Stunde gegangen. Er meinte, er kommt sofort zurück. Keine Sorge"

Mum lächelte mich an, als sie mir beruhigend über die Wange strich.

Ich nickte.

Mir fiel ein, dass ich nach all den Streitereien mit Dad nach wie vor nicht wusste, wie Mum zu meiner Beziehung stand.

Deshalb fragte ich sie: „Hast du gar nichts dagegen? Gegen mich und Austin als Paar?"

Mum seufzte, strich unaufhörlich über meine Wange, obwohl sie wegen der ausbleibenden Rasur schon ganz kratzig war.

„Du liebst ihn doch?", fragte sie einfühlsam.

Ich nickte.

„Er macht dich glücklich?"

Ich nickte wieder.

Dann lächelte Mum. „Das ist alles, was mich interessiert. Egal, wer er ist oder was er ist. Solange er dich gut behandelt und dafür sorgt, dass du glücklich bist, unterstütze ich dich. Ich bin da nicht so spießig wie dein Dad"

Das Letzte sagte sie mit einem neckenden Unterton, weshalb Dad genervt stöhnte. „Wieso hast du mich eigentlich geheiratet, wenn du dich seit Jahren nur beschwerst?"

Mum zuckte desinteressiert mit den Schultern. „Mitleid"

Ich musste lachen und Mum grinste mich frech an, aber auch erfreut, weil ich lachte. Nicht mal Dad konnte ihr böse sein.

„Ich hab dich auch nur aus Mitleid geschwängert, weil sich sonst keiner dafür bereiterklärt hatte."

Für diesen Satz erntete er einen vernichtenden Blick und Mum streckte sich über das Bett, um Dad eine reinzuhauen.

Grinsend rieb er sich über die Schulter, wo wie ihn erwischt hatte, und sah dann kopfschüttelnd zu mir. „Deine Mutter misshandelt mich"

„Dann solltest du nicht so frech sein.", sagte ich schlicht, aber mit einem deutlichen Grinsen.

„Früher warst du immer auf meiner Seite" Dad verschränkte beleidigt die Arme.

Ich konnte ja jetzt zurückgeben, dass wir uns früher noch nicht um denselben Mann gestritten hatten, aber ich hatte gerade keine Kraft für meine Provokationen und ließ es deshalb sein. Außerdem war Dad auch so schon verletzt genug.

„Warte nur ab, Jerrybaby, bald hab ich nochmal einen Soldaten für die viel coolere Seite" Mum rieb sich über den Bauch.

Erst dann fiel mir diese Kugel, die sie da mit sich herum trug richtig auf.

Man konnte meinen, sie wäre einfach nur sehr fett geworden, aber das sah echt aus wie ein Babybauch.

Ich war so ein schlechter Sohn gewesen. Meine Mum war schwanger und ich hatte den Kontakt zu ihr total abgebrochen, nur weil ich Streit mit Dad gehabt hatte.

Ich streckte meine Hand vorsichtig aus und sah Mum fragend an.
Sie lächelte, nahm meine Hand, stellte sich näher zu mir und legte sie dann auf ihren Bauch.

Er war total hart und man konnte eigentlich schon sehr deutlich erkennen, dass es ein Schwangerschaftsbauch war.

„In welchem Monat bist du eigentlich?", fragte ich, währen dich vorsichtig über den Bauch meiner Mum strich.

„Ende des sechsten"

Wow, das hieß bald war mein Geschwisterchen da. Dieser Gedanke machte mir gar keine Angst mehr. Immerhin war ich jetzt in der Lage, ein guter großer Bruder zu sein und mich gut um das Kleine zu kümmern. Ich wollte das wirklich...

„Weißt du, was es wird?"

„Ein Baby", meinte Mum.

Das brachte mich zum Lachen und nahm alledem irgendwie die Ernsthaftigkeit.

Ich nahm Mum an der Taille und zog sie näher zu mir. „Ich hab dich vermisst, Mum"

Sie lächelte mit Freudentränen und umarmte mich wieder. „Ich dich auch, mein Schatz. Ich hab dich ganz doll lieb"

Ich nickte nur als Erwiderung und erkannte, wie Dad traurig weg sah. Wie lange hatte er schon keinen netten Satz mehr von mir gehört? Es waren bestimmt Jahre.

Als Mum sich von mir löste, griff ich nach Dads Arm. Er drehte sich fragend zu mir.

„Dich hab ich auch vermisst"

Er lächelte gerührt, ich sah ihm an, wie viel ihm das bedeutete.

Kurz danach kam der Arzt rein und erzählte von der Biopsie des Gewebes, das aus meinem Hirn entnommen worden war und wie es nun weiterging. Nämlich gar nicht.

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