Schlag 8
Die Straßen sind trotz der Dunkelheit voll mit Verkehr und William quält sich mit seinem Auto und einem schweigenden Matthew durch die Stadt. Er ist froh, als er endlich sein Haus erblickt und noch mehr so, als er Matthews Gurt löst und auch selbst das Fahrzeug verlässt.
Matthew sagt auch auf dem Weg nach drinnen nichts, zieht sich die Schuhe aus und schaudert einmal kurz. Das hier erinnert ihn nur zu sehr an seinen Traum.
„Ich habe schon das Gästezimmer für dich machen lassen", murmelt William und nimmt die Tasche, die er Matthew für die Übernachtung gepackt hat.
Matthew seufzt und folgt William die Treppe hinauf zum Gästezimmer.
Dieses hat er erst einmal gesehen und zwar an dem Tag, an dem William ihn durch das ganze Haus geführt hat. Das Zimmer riecht nach frischer Wäsche und Blumen, die auf der großen Fensterbank stehen. Es ist vielfach größer als das Zimmer, dass Matthew im Wohnheim hat.
William wünscht Matthew eine gute Nacht. „Wenn du noch etwas brauchst, dann schreib mir einfach eine Nachricht."
Er ist gerade dabei zu gehen, da sagt Matthew: „Sag was du sagen willst jetzt und nicht erst morgen."
William bleibt stehen. Er hat nicht erwartet, dass Matthew so einen Ausdruck in seiner Stimme mitträgt.
Also dreht er sich wieder um. Matthew steht verloren vor dem Bettende und William muss sich zusammenreißen, nicht doch einfach ohne es zu sagen zu gehen. Denn er findet trotz der Sicherheit, dass es das ist, was er sagen muss, nicht die richtigen Worte dafür.
„Ich weiß nicht, ob ich mit jemandem eine BDSM-Beziehung führen kann, der nicht auf sich aufpassen kann."
Die Worte, die Matthew zwar erwartet hat, hören sich schlimmer an, wenn sie aus dem Mund des wirklichen Williams kommen und nicht dem aus seiner Fantasie. Fantasie-William hat ihm schon auf dem Weg hierher einen langen Vortrag gehalten. Über das Erwachsensein und darüber, wie Matthew es offensichtlich nicht ist. Und wie Matthew nicht dazu in der Lage ist, die Rolle des Subs zu erfüllen, wenn William sich nicht sicher sein kann, ob er überhaupt das Safeword benutzen würde.
Und das erschreckendste daran ist, dass Matthew sich nicht sicher ist, ob er es könnte.
Denn Matthew hat zwar die Grippe, aber die ändert nichts daran, dass er mit seinem Leben, so wie es ist, unzufrieden ist. Und dass eine BDSM-Beziehung daran nichts ändern kann. William ist sein Dom. Nicht sein fester Freund. Er ist sein Daddy, nicht sein Vater. William muss nicht auf Matthew achten, das muss Matthew tun. Denn auch wenn er der Sub ist, so ist er doch nicht automatisch Williams Sklave, der keine Rechte hat. Und William ist kein Dom, um Matthew auszunutzen, sondern um mit ihm eine schöne Zeit haben zu können.
All diese Gedanken sind wie ausgeschaltet, als Matthew die Worte aus Williams Mund hört. Dort, wo das Gewirr an Sorgen und was-wäre-wenn-Szenarios war, ist nun ein einziger heller Ton, der alles andere erstickt.
Matthew nickt. „Verstehe."
„Aber ich will darüber jetzt nicht reden. Schlaf' dich erst mal aus und dann sehen wir weiter. Du weißt ja, wo das Badezimmer ist." William deutet auf die Tür an der linken Seite des Zimmers, die in das Gäste-Bad führt. Und dann ist er weg.
Matthew hört nur noch seine Schritte.
Und er weiß nicht, was er jetzt tun soll.
-
Miranda ist eine fleißige Studentin. Sie lernt für ihre Klausuren und bereitet sich gut auf Seminare und den Unterricht vor. Sie schafft es immer wieder, sich nach einer harten Zeit aufzuraffen und weiterzumachen.
Langweiliges Thema? Es kommen auch wieder andere.
Schlechte Note geschrieben? Sie wird die Klausur beim Zweitversuch bestimmt besser schreiben!
Mirandas Familie ist reich. Aber reich sein, ist nicht alles. Mit Emotionen und Lob haben ihre Eltern gespart und auch heute noch, wenn Miranda ihnen von ihren guten Noten und ihrem Fortschritt erzählt, bekommt sie meistens nur ein zustimmendes Geräusch oder ein Nicken zurück.
In einer Umgebung aufzuwachsen, in der viele Emotionen verpönt sind, hat Miranda eines gelehrt: Jeder ist auf eine andere Art und Weise rebellisch. Sie ist auf die emotionale Art rebellisch.
Bei Telefonaten schwärmt sie vom schönen Wetter und bei Videoanrufen lächelt sie die ganze Zeit durchweg. Nur um einen hochgezogenen Nasenflügel als Reaktion zu bekommen. Nur damit ihre Mutter mit den Augen rollt und nur aus reiner Rache.
Ihre Eltern müssen nicht wissen, dass sie gleich nach den Telefonaten das Lächeln verliert und sich den Angstschweiß von der Stirn wischt. Denn das einzige was zählt, ist, dass sie anders ist als ihre Eltern.
Das Generationen-Problem. Bloß nicht so sein, wie die verkorksten Menschen, die einen aufgezogen haben. Am besten das Gegenteil.
Das Problem mit Mirandas Studium ist nur dieses: Es wird irgendwann enden und ihr graut es vor diesem Tag. Denn sobald es vorbei ist, muss sie sich etwas Neues suchen, auf das sie sich stürzen kann und das sollte auch am besten noch etwas entlohnendes sein.
Als Miranda an diesem Morgen den Weg zur großen Universität schlendert, hat sie genau wieder diesen Gedanken: Was wird sie tun, wenn ihr Studium endet? Was dann?
Laute Musik dröhnt durch ihren Gehörgang direkt in ihren Kopf und nicht einmal ein Wechsel des Liedes ändert die Gedanken, die sich wie Blutegel an ihr Gehirn geheftet haben. Aufdringlich, ohne loslassen zu wollen. Erst wenn die nächste Ablenkung da ist.
Miranda hält den Gurt ihres Rucksacks in der Hand, der über ihre eine Schulter hängt und hofft, dass die Zeit schneller vergeht, das bald die Vorlesung beginnt, damit sie diese innere Verzweiflung wenigstens für 90 konzentrierte Minuten vergessen kann.
Sie durchquert die riesige Eingangshalle, die von Grüppchen belagert wird, die alle über irgendetwas reden, dass sich letztendlich nur zu einem groben Geräusch zusammentut. Das am Ende doch irgendwie nur da ist und nichts wirklich bringt. Manchmal hat sie es satt, allein zu sein, wenn Matthew nicht gerade da ist.
Matthew. Miranda und Matthew sind nicht einmal ansatzweise gleich und doch braucht sie ihn ein Stück weit, um motiviert zu bleiben. Denn indem sie Matthew motiviert und ihm all die Vorteile aufzählt, die Lernen und Vorbereitung auf Kurse mit sich bringen, motiviert sie auch sich selbst und führt sich immer wieder vor Augen, wieso sie hier ist und nicht in einem Café oder auf einer Bowling-Bahn arbeitet.
Sie geht hinter ein paar Kommilitonen in den großen Hörsaal hinein und schaut durch die Reihen. Ihre Augen fliegen über immer mehr besetzte Plätze, bis sie seufzend feststellt, dass Matthew nicht hier ist.
Wahrscheinlich ist er immer noch krank.
Also sucht sich Miranda einen Platz und klappt ihren Laptop auf. Sie trinkt einen Schluck Wasser und stellt die Musik auf ihrem Handy aus und dann tippt sie auf Nachrichten. Auf Matthew Wellington. Und schreibt: Gute Besserung. Sei aber bald wieder gesund, ich vermisse dich.
Es dauert nur eine Minute, dann kommt eine Antwort.
Ich komme nicht wieder.
Haha. Ja, solche Tage habe ich auch manchmal.
Miranda überschlägt die Beine und schaut sich um. Ohne Matthew fühlt sie sich klein und allein. Nicht, dass sie sich auch ohne ihn so fühlt. Doch ihn nicht hier zu haben, macht ihr das Ganze noch bewusster.
Ping! Sie schaut auf den Bildschirm.
Nein, im Ernst. Ich bin weg.
Weg? Miranda tippt mit runzelnder Stirn. Sie will mehr schreiben, aber es ist nicht so dass Matthew es ihr nicht eh sagen wird.
Ich werde abbrechen. Hab das Formular schon fast unterschrieben.
Ach, hör auf mit dem Scheiß!
„Sind alle da? Können wir beginnen?" Die Dozentin, eine hochgewachsene Frau mit durchdringender Stimme schlägt ein paar Mal in die Hände. Sie sieht sich im Raum um und fordert die Masse an Studenten zur Ruhe auf.
Doch Miranda starrt nur auf die Antwort, die Matthew soeben geschrieben hat.
Es war doch abzusehen. Ich kann das alles nicht.
-
Das Haus steht dort, als hätte er es erst gestern verlassen und es wirkt so einschüchternd groß als wäre er immer noch zwölf. Die Treppenstufen sind ein wenig mehr heruntergekommen als damals, aber die Tür erstrahlt immer noch im gleichen holzigen Braunton.
Das letzte Mal war er letzten Winter hier, aber es kommt ihm wie eine Ewigkeit vor. Und auch wenn er etwas melancholisch ist, dass er das Haus unter diesen Umständen wieder sieht, so freut er sich auch ein Stück weit wieder hier zu sein.
Matthew rollt den Koffer bis zur ersten Treppenstufe, da öffnet sich die Tür.
„Matt", lächelt der Mann im weißen Anzug. Er hält ein Martini-Glas in der Hand. Die Falten um seine blauen Augen werden sichtbar, als er die Mundwinkel nach oben zieht.
Matthew kann nur leicht zurück lächeln und nimmt sich den Riemen des Koffers, um diesen nach oben, zu dem wartendem Mann, seinem Stiefvater, zu tragen.
„Ich freue mich dich zu sehen!", sagt Vincent in einer heiseren Stimme. Er umarmt Matthew fest, nur um ihn dann wieder loszulassen und ihn sich näher anzusehen. „Wann hast du das letzte Mal etwas richtiges gegessen? Komm herein, es gibt gleich Abendessen."
Matthew wird in den Eingang geschoben und ohne auch nur ein Wort zu sagen, folgt er Vincent in das Speisezimmer.
Sein Koffer lässt er an der Tür stehen. Den wird sicher jemand nach oben in sein altes Zimmer tragen.
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