17. Blut

Es ist für mich nichts Neues mehr, wenn mein Chef für mehrere Tage nicht im Büro ist. Das ist in den letzten Wochen ein paar Mal passiert. Ich muss zugeben, dass ich in diesen Zeiten, in denen er nicht im Gebäude ist, nicht schlafen kann. In letzter Zeit bin ich viel zu abhängig von ihm geworden. Ich verfolge jede seiner Bewegungen, ich muss wissen, wo er ist, und ich werde unruhig, wenn ich ihn nicht finden kann. Heute ist wieder einer dieser Tage.

Ich weiß, was mit mir los ist. Ich traue mich aber nicht, mit Stefan darüber zu sprechen, weil er viel zu viel Hass auf unseren Chef empfindet. Also kommt ein Gespräch mit ihm automatisch nicht in Frage. Die zweite Möglichkeit ist Leonie. Aber auch mit ihr kann ich nicht darüber reden. Ich spüre eine innere Hemmung, wenn ich mit Leonie über unseren Chef sprechen möchte. Deshalb verbringe ich die Nächte damit, mir den Kopf über diesen Mann zu zerbrechen. Die Müdigkeit übermannt mich schließlich und lässt mich schlafen.

Heute arbeite ich vorne und bediene die Kunden an den Tischen. Jeder Schritt, den ich mache, wird automatisch abgearbeitet. Ich mache diesen Job schon so lange, dass ich weiß, was ich zu tun habe. Ein Lächeln ziert mein Gesicht. Die gleichen Sätze verlassen meinen Mund und mein Verhalten zeigt Respekt und Gehorsam, wie es verlangt wird. Ich lebe nach den Regeln, so wie es sein sollte. 

Selbst wenn alles nach Plan läuft, kann ich diese Stimmung im Restaurant nicht ändern. Ich sehe, wie aufgeregt einige Monster sind. Und ich kenne auch den Grund dafür. Sie haben alle Angst. Sie wissen nicht, ob es einen Krieg geben wird. Ich habe sogar mit einigen Monstern gesprochen, als sie sich nach meinem Chef erkundigt haben. Sie sind ehrlich zu mir und machen sich Sorgen darüber, was das Fehlen meines Chefs bedeutet. Sie haben mir sogar erzählt, dass es in letzter Zeit viele Morde und viele Kämpfe gegeben haben soll. Ich habe mit Interesse zugehört. Diese Ungeheuer sind in meinen Augen menschlicher geworden.

Ich kehre in den Mitarbeiterbereich zurück und bringe das schmutzige Geschirr zu Leonie, damit sie es reinigen kann. Die Glocke klingelt. Ein neuer Kunde ist da. Gerade als ich mich umdrehe, spüre ich diese Spannung. Dieses vertraute Gefühl. Sofort weiß ich, wer diese Person ist. Mein Chef.

Schnell drehe ich mich um und schaue in diese blauen Augen. Ich kann ihm nicht lange in die Augen schauen, denn er sieht anders aus als das, was ich immer gesehen habe. Blut klebt in seinem Gesicht; blutverschmierter Anzug; seine Kleidung ist zerrissen und seine braunen Haare sind zerzaust. Narben zieren sein Gesicht. Er rennt an mir vorbei in Richtung seines Büros. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Nein, das kann er nicht sein. Er kann es nicht sein.

Laute Unterhaltungen. Stöhnen. Es herrscht Verwirrung im Restaurant. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich drehe mich um und schaue in die Richtung, in die er gerannt ist.

Plötzlich höre ich den Koch sprechen. ,,Ihr macht mit eurer Arbeit weiter, habt ihr verstanden? Oder ich schlage euch die Scheiße aus dem Leib!"

Ich schlucke und nicke energisch. Auch Leonie starrt mich geschockt an. Wir machen uns an die Arbeit.

Es ist schwer, nicht an meinen Chef zu denken. Gefühlt alle fünf Minuten fragen mich die Kunden nach ihm und fragen, ob das ein Zeichen des Krieges sei. Ich habe versucht immer wieder eine passende Antwort zu geben, aber sie ist nie zufriedenstellend gewesen. Mehrmals habe ich mich dabei ertappt, wie ich ohne nachzudenken in den Flur gelaufen bin. Es gelang mir immer, mich zu stoppen.

,,Der Koch ist nicht da", sagt Leonie, als sie mich hinter den Tresen zieht. Ich schaue sie irritiert an. Was ist hier schon wieder los?

,,Aber er geht nicht raus, wenn Kunden da sind", erwidere ich schockiert. Sie kommt mein Gesicht näher und flüstert in mein Ohr: ,,Ich glaube, er ist beim Chef."

Ich sehe sie verwirrt an. Der Koch ist beim Chef? Macht sich sogar der Koch Sorgen um unseren Chef? Das muss etwas bedeuten, wenn sogar der Koch aus der Küche verschwindet, während noch Kunden im Restaurant sind.

,,Das hat nichts Gutes zu bedeuten", sage ich und beiße mir auf die Unterlippe.

,,Meinst du, unserem Chef ist etwas passiert? Seine Wunden sehen wirklich schlimm aus", fragt sie mich und schaut zu den Kunden. Ich folge ihrem Blick. Neue Kunden laufen in das Restaurant.

,,Ich hoffe, es geht ihm gut", antworte ich und laufe zu den Kunden, um die Bestellung aufzunehmen. Leonie folgt mir und hilft mir. Wir sprechen kein weiteres Wort miteinander.

Nach ein paar Stunden ist unsere Schicht zu Ende. Leonie ist in ihr Zimmer gelaufen, während ich noch gedankenverloren in der Umkleidekabine bin. Sie hat mich allein gelassen. Ich mache mir viel zu viele Sorgen. Ich habe Angst, aber ich weiß nicht genau, wovor ich Angst habe. Ist es wegen des Krieges? Dass ich sterben könnte? Oder weil ich Angst um meinen Chef habe? Ich schüttele den Kopf und laufe aus der Umkleidekabine.

Langsam gehe ich die Treppe hinauf und stehe schließlich wieder vor der Tür meines Chefs. Ich zögere. Sollte ich ihn fragen, ob es ihm gut geht? Aber durfte ich so etwas überhaupt tun? Er hat mir letztes Mal gesagt, dass ich ohne seine Anweisung nicht zu ihm gehen soll. Aber er ist verletzt... Gilt diese Regel überhaupt noch? Oder gehe ich damit zu weit? Verdammt noch mal, was mache ich hier eigentlich?

Ich nehme meinen Mut zusammen, greife nach der Türklinke und drücke zu. Ich betrete das Büro und bleibe starr, als ich ihn sehe. Er sitzt auf seinem Stuhl, atmet schwer ein und aus, seine Augen sind geschlossen und ich kann den Schweiß auf seinem Gesicht sehen. Es geht ihm überhaupt nicht gut. Er sieht schrecklich aus.

Ich schließe die Tür und laufe zu ihm. Ich greife nach dem Tuch auf dem Schreibtisch und wische ihm den Schweiß auf seiner Stirn ab. Was ist nur mit ihm passiert?

Er sieht so blass aus. Sein Brustkorb hebt und senkt sich stark. Es fällt ihm schwer zu atmen. Ich knöpfe die oberen Knöpfe seines weißen Hemdes auf.

Ich schaue über seinen Schreibtisch. Ein leerer Blutkanister liegt dort. Viele blutige Taschentücher, ein Messer und zerfetzte Stofffetzen. Ich schlucke. Er sieht schrecklich aus. Die Stille ist alles zwischen uns.

Aus irgendeinem Grund greife ich nach dem Messer. Ich schaue es an und dann tue ich etwas, was ich mir nicht erklären kann. Ich lege die scharfe Spitze des Messers in meine Handfläche und drücke zu. Ganz leichte Blutstropfen kommen zum Vorschein und dann werden es immer mehr. Dann bewege ich meine Hand zu seinem offenen Mund.

Langsam spüre ich, wie er sich bewegt. Seine Lippen auf meiner Haut. Seine Augen öffnen sich und zum ersten Mal sieht er mich wieder an. Er wirkt zerbrechlich und erschrocken über das, was ich hier tue. Es scheint, als ob er mit sich selbst kämpft.

,,Mach ruhig."

Während ich diese Worte ausspreche, verändert er sich. Er tut es. Er leckt und saugt mir das Blut aus der Haut.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich schon hier bin, irgendwann habe ich angefangen, eine schwere Trägheit zu spüren. Das letzte, woran ich mich erinnern kann, sind seine blauen Augen. Und dann hat mich die Dunkelheit schon eingehüllt.


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