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Ein letzter, großer Schritt, dann breitete Marinette die Arme aus und stürzte sich kopfüber in die Tiefe.
Sie schloss die Augen und genoss das unvergleichliche Gefühl.
Der freie Fall.
Es gab nichts Schöneres. Die perfekte Kombination aus Nervenkitzel und Freiheit.
Alles, was sie hörte, war das Rauschen des Gegenwinds in ihren Ohren und ihr eigener, rasender Herzschlag.
Und: »Marinette!«

Tikki schrie ihr regelrecht ins Ohr, trotzdem konnte sie die Stimme ihres Kwamis kaum hören. Die deutliche Panik darin nahm sie trotzdem wahr.
Drei Herzschläge lang genoss sie noch den Fall, dann öffnete sie widerwillig die Augen.
Wenige Meter vor ihr flogen die Fenster des Hochhauses in einem atemberaubenden Tempo vorbei. Stockwerk um Stockwerk um Stockwerk.
Sie legte den Kopf in den Nacken und sah den Boden unter sich. Mit jeder Sekunde raste er schneller auf sie zu.
»Marinette!«, schrie Tikki noch einmal.
Und endlich sprach sie die Worte aus, die ihr Kwami so verzweifelt hören wollte.
»Tikki, verwandle mich!«
Im nächsten Augenblick sirrte das rot-schwarze Jojo durch die Luft, es gab einen heftigen Ruck, als das Seil sich spannte und schon flog sie in einem eleganten Bogen über die Dächer der Stadt.

Leichtfüßig landete Marinette auf ihrem Lieblingsgebäude und lief nach vorn zur Dachkante.
Sie setzte sich, ließ ihre Füße über dem Abgrund baumeln und sah hinab auf Paris, das sich bis weit über den Rand ihres Blickfeldes hinaus unter ihr ausbreitete.
Die Stadt war zu jeder Tageszeit eine Schönheit, doch wenn die Sonne gerade untergegangen war, hatte sie etwas geradezu Magisches. Vor dem langsam verblassenden Rot des Himmels tauchten mit jeder Minute neue, funkelnde Lichter in den Straßen auf, Abermillionen von ihnen - als wöllten die Pariser damit dem Nachthimmel selbst Konkurrenz machen.

Gern hätte Marinette den Anblick mit Tikki geteilt, doch sie wagte es nicht, sich zurückzuverwandeln. Beim Hochhaus hatte sie eine Ausnahme gemacht, aber für gewöhnlich hielt sie sich als Marinette von Hausdächern fern.
Die Gefahr, gesehen zu werden, war einfach zu groß.

Beim Gedanken an ihr geliebtes Kwami, musste sie unwillkürlich an den Moment direkt vor ihrem Sprung vom Hochhaus denken. Und sie musste grinsen.
»Es wird höchste Zeit, dass die Sommerferien endlich zu Ende sind.«, hatte Tikki laut gestöhnt. »Wenn das noch lange so geht, muss ich mir noch eine neue Ladybug suchen, weil du dich bei einem deiner Stunts selbst umgebracht hast.«
Marinette hatte sie leicht mit ihrem Zeigefinger gekitzelt und grinsend erwidert: »Gib doch zu, dass du auch Gefallen daran hast! Das letzte Mal warst du richtig stolz darauf, wie schnell du mich inzwischen schon verwandeln kannst. Vielleicht bist du ja heute sogar noch schneller.«
Dann war sie losgerannt - direkt auf die Dachkante zu. Und ihr Kwami hatte gar keine andere Wahl gehabt, als ihr zu folgen.

Auch wenn Tikki ein jahrtausendealtes, kosmisches Wesen war und dazu auch noch eine sehr enge Freundin: Sie verstand nicht immer alles, was Marinette beschäftigte. Sie war kein Mensch.
Sie kannte Gefühle wie Einsamkeit oder Langeweile, aber dieses sehnsuchtsvolle Ziehen war ihr fremd. Ein Kwami empfand keine innere Leere, die gefüllt werden wollte. Ein Kwami ging voll und ganz in seiner Verpflichtung auf und brauchte nichts außer seines Miraculous-Trägers.

Marinette dagegen trieb es immer häufiger bis ganz zum Rand ihrer Erfahrungen und Fähigkeiten. Sie wollte sich nicht mehr so eingesperrt fühlen; wollte spüren, dass sie am Leben war.
Noch immer hatte sie keine Ahnung, wonach genau sie sich so sehr sehnte, aber auf jeden Fall wollte sie mehr als bisher.
Tikki konnte das nicht verstehen.
Eine Sache hatte sie in diesem Zusammenhang allerdings sehr gut erkannt: Es war allerhöchste Zeit, dass die Sommerferien endeten.

In diesem Jahr waren die neun Wochen für Marinette nur quälend langsam vergangen und sie konnte den morgigen Tag kaum erwarten.
Morgen würde sie sie endlich alle wiedersehen. Ihre beste Freundin Alya, Alix, Rose, Mylène, Juleka, Nino und all die anderen.
Sie wurde richtig hibbelig, wenn sie nur daran dachte.
Mit einigen ihrer Freunde hatte Marinette auch während der Ferien Zeit verbracht, doch besonders die Trennung von Alya hatte ihr zu schaffen gemacht.

Ihre beste Freundin war die gesamten neun Wochen lang mit ihrer Familie auf einer Reise quer durch Europa unterwegs gewesen und die vielen, bunten Karten, die sie aus allen möglichen Ländern geschrieben hatte, waren nur ein schwacher Trost für Marinette gewesen.
Und Alya war auch nicht die Einzige, die die gesamten Ferien über weg gewesen war. Auch Ladybugs Superhelden-Partner Cat Noir war in der letzten Woche des vergangenen Schuljahres zu ihr gekommen und hatte ihr mitgeteilt, dass er während der Schulferien nicht in Paris sein würde.

Selbst jetzt erinnerte sie sich noch gut daran, wie wütend sie im ersten Moment auf ihn gewesen war.
Nicht etwa, weil er sie für so lange Zeit allein ließ, sondern weil er wieder einmal den unvorsichtigen Fehler begangen hatte, ihr etwas über sich - also sein Nicht-Superhelden-selbst - zu erzählen.
Allerdings hatte er sie schnell wieder beruhigen können. Im Grunde hatte er ihr damit rein gar nichts verraten.
Sie hatte schon vorher gewusst, dass er in etwa in ihrem Alter war. Und es gab unzählige pariser Familie, die im Sommer vor den Touristenströmen aus der Stadt flüchteten.
Der einzige Grund, warum Marinette mit ihren Eltern in den Ferien nur eine einzige Woche in den Urlaub gefahren war, war die Bäckerei. Die nach Macarons hungernden Touristen waren für einen großen Teil des Jahresumsatzes ihrer Eltern verantwortlich und so hatten sie in diesem Teil des Jahres noch mehr zu tun, als sonst.
Also hatten sowohl Marinette als auch Ladybug den allergrößten Teil der Ferien allein verbracht.

Mehr als einmal war sie versucht gewesen, Cat Noirs Angebot anzunehmen, und ihn bei einem akumatisierten Schurken zu Hilfe zu rufen. Doch selbst an Hawk Moth schienen die Sommerferien nicht unbemerkt vorüber gegangen zu sein und so hatte es nie eine gute Gelegenheit für sie gegeben, zum Bugphone zu greifen.
Eine Mutter, die mit ihren Schulkindern zu Hause überfordert gewesen war, ein Tourist, dem das Anstehen am Eiffelturm zu lang gedauert hatte und ein streitendes Pärchen, das sogar die »Stadt der Liebe« nicht mehr hatte retten können.
Nichts davon wäre ein plausibler Grund gewesen, Cat Noir zu rufen.
Und die Blöße, ihn aus reiner Einsamkeit zu rufen, hatte sie sich auf keinen Fall geben wollen. Er hätte es nur zu leicht durchschaut und sie vermutlich noch monatelang damit aufgezogen.
Das wären die zehn Minuten Gesellschaft nicht wert gewesen.

Aber nun hatte Marinette es geschafft.
Morgen würde das neue Schuljahr beginnen. Das allerletzte Schuljahr für sie, Alya und die anderen.
Halb sehnsüchtig, halb nervös dachte sie an die kommenden Wochen und Monate.
Vermutlich würde das Jahr wie im Flug vergehen und dann würden sich ihre Freunde in alle Winde zerstreuen. Alles würde sich ändern.
Gut möglich, dass sie manche von ihnen dann nur noch ganz selten zu sehen bekam. Mit Alya würde sie sicherlich auch in Zukunft engen Kontakt halten, aber was war mit Rose? Oder Alix?
Und ... was war mit Adrien?

Obwohl sie sich dagegen wehrte, machte der Gedanke an ihn sie sofort schwermütig.
Sie konnte sich ein Leben ohne ihn einfach nicht vorstellen, doch sie schaffte es auch nicht, sich überzeugend etwas vorzumachen.
Ja, sie waren Freunde, aber ihre Freundschaft war längst nicht eng oder stark genug, um das Schulende zu überleben. Ihre Leben würden in verschiedene Richtungen verlaufen und sie würde Adriens Gesicht nur noch auf den Litfaßsäulen und Reklametafeln der Stadt zu sehen bekommen.
Es sei denn natürlich, dass sich bis dahin noch etwas gravierend zwischen ihnen beiden veränderte ...

Marinette seufzte laut auf.
Die Einsamkeit tat ihr wirklich nicht gut.
Sie hatte ihrem Kopf doch ein striktes Adrien-Verbot auferlegt - zumindest, wenn sie nicht gerade in der Schule war. Warum schlichen sich seine grünen Augen und seine eindringliche Stimme dann trotzdem immer wieder in ihre Gedanken?

Die Worte »Tikki, verwandle mich zurück.«, lagen ihr plötzlich auf den Lippen, allen Bedenken zum Trotz. Sie brauchte dringend Ablenkung und ihr Kwami war im Moment die einzig mögliche Gesellschaft.
Sie öffnete schon den Mund, als eine Stimme sie unterbrach.
»Na, hast du mich vermisst, Mylady?«

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