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Obwohl ich am Abend nur mit Mühe einschlafen konnte, war ich am nächsten Morgen fit. Ich summte fröhlich die Melodie von Don’t stop me now vor mich her. Ich fühlte mich unbesiegbar und obwohl mir bewusst war, dass ich noch lange nicht die Europameisterschaften hinter mir hatte, glaubte ich glücklicher könnte ich nicht sein. Ich strich Chanel, direkt neben der Stalltür, zur Begrüssung über die Nase, wofür sie mir ausnahmsweise nicht beinahe die Hand abbiss. Vielleicht färbte meine gute Laune auch auf sie ab. Michelangelo in der Nachbarbox wieherte schon empört, eifersüchtig das er nicht der erste war, der meine Aufmerksamkeit bekam. Als Wiedergutmachung für dieses, in seinen Augen, Schwerstverbrechen bekam er einige Leckerlies zugesteckt. Einige Boxen weiter standen sich Soda und Madame Chasseral gegenüber. Carmen halfterte den Wallach gerade auf, um ihn auf die Weide zu bringen. Heute hatten er, Madame Chasseral und Chanel ihren freien Tag, bevor wir morgen für fast eine Woche aufs Turnier in Lignières ging. Ich würde nur ein bisschen mit Michelangelo spazieren, die anderen drei durften einfach nur Pferd sein und auf der Weide grasen.

Ein noch viel grösserer Grund zur Freude kam am Mittag als ich bei meinem beinahe täglichen Telefonat mit meinen besten Freunden erfuhr das Fiona, Louisa und Orlando morgen kommen würden, um mit aufs Turnier in Lignières zu fahren. Von Franz hatte ich erfahren dass wir im benachbarten Neuenstadt in einem kleinen Hotel unterkommen würden und es ihm nichts ausmachte mit wem ich mir das Zimmer teilte, solange meine Gäste ihre Rechnung selber zahlten. Nach dem wir beinahe zwei Stunden telefoniert hatten, beschloss ich einen Zeitplan zu erstellen und sei es nur um mich von meiner nervösen Vorfreude abzulenken. Ich ging Punkt für Punkt durch, was wir alles heute Abend packen mussten, das Probereiten auf De Medici, mit welchem Pferd ich an welcher Prüfung teilnehmen würde und so weiter. Als ich fertig war, schien es mir als hätte ich jede einzelne Minute der sechs Tage in Lignières durchgeplant. Als ich Florences Nachricht erhielt, ob wir zusammen trainieren wollte, zögerte ich keine Sekunde und machte mich auf in den Stall.

Die grosse Dunkelhaarige war gerade dabei Nashville abzuschwammen, als ich sie traf. «Ich habe gedacht wir könnten gemeinsam auf den Geländeplatz», schlug sie fröhlich vor. «Ich weiss nicht…», antwortete ich unsicher, «Ich bin noch nie über feste Hindernisse gesprungen.» Florence winkte ab. «Du musst ja auch nicht weiss Gott wie hoch. Ein Mini-Baumstamm hat bis jetzt noch niemandem geschadet und Chanel ist sich das ja gewöhnt.» Jetzt wurde ich neugierig. «Warum ist Chanel sich das gewöhnt?» Florence grinste. «Bis du sie übernommen hast, haben Lukas und ich sie abwechselnd geritten. Ich bin mit ihr auch einmal eine E-Vielseitigkeit gegangen, vor ein oder zwei Jahren.» «Wirklich?», fragte ich erstaunt. Florence grinste verlegen. «Sie hat mich aber im Springen abgeladen. Hat in einer Kombination einen statt zwei Galoppsprünge gemacht.» Damit war es beschlossen: Florence würde heute aus mir eine Geländereiterin machen.

Nach dem Warmreiten ging es dann ans Eingemachte. Florence wies auf einen kleinen Baumstamm auf dem Springplatz. Er war kaum höher als ein Cavaletti, ein grosser Galoppsprung und wir wären drüber. Ich lenkte Chanel im Trab auf das Stück Holz zu. Sie spitze die Ohren und wollte angaloppieren. Ich gab eine halbe Parade und da war der Sprung auch schon vor uns. Chanel machte einen winzigen Hüpfer und schon war der Baumstamm hinter uns. Ich lobte Chanel, aber diese stiess nur ein Schnauben aus und buckelte einmal. Florence sprang mit ihrem Apfelschimmel Westminster ebenfalls und schloss dann zu uns auf. «Geh mal im Galopp», rief sie mir zu. Chanel schien das Kommando verstanden zu haben, denn schon galoppierte sie flüssig los. Ich visierte das Gras hinter dem Baumstamm an. Chanel wollte schon lospreschen, aber ich gab mein bestes sie zurück zu halten. Wieder ein kleiner Hüpfer und ich lobte sie ausgiebig.

Am Ende unseres Trainings hatten Florence und ich beschlossen einen kleinen Wettbewerb zu machen. Der Parcours über einige, kleine Geländesprünge war schnell festgelegt und Carmen, welche zufällig vorbeikam, sollte die Zeit messen. Als Start und Ziellinie galt das Tor zum Springplatz. Florence ging als erste. Westminster sprang routiniert und die junge Frau wusste genau wie sie die Kurven schneiden musste um Zeit zu gewinnen. Sie beendete den Parcours in beinahe genau drei Minuten. Ich brachte Chanel in Position. Die Stute stand unter positiver Anspannung und ich wusste leichter Schenkeldruck würde genügen um losschiessen zu lassen. Als Carmen das verabredete Signal zum Start gab, übte meine Wade nur leichten Druck gegen den weissen Rumpf aus und die Stute schoss los wie ein Pfeil von einer Sehne. Ich duckte mich über den weissen Hals und spürte wie der kräftige Leib unter mir arbeitete. Die Hufe trommelten über die Erde.

Die ersten Sprünge hatten wir souverän gemeistert, als die kleine Kante kam, von der aus man ins Wasser springen musste. Sie war nicht einmal einen halben Meter hoch, aber jetzt, aus vollem Galopp flösste sie mir schon Respekt ein. Ich parierte Chanel etwas durch, schloss die Augen und öffnete sie erst wieder als ich das rhythmische Platschen von Hufen im Wasser hörte. Wir hielten gerade auf den Aussprung, eine weitere Kante zu. Chanel streckte sich und sprang grazil hinauf. Jetzt kam die letzte Linie, ein kleiner Graben und dann der Schlusssprint. Nachdem wir aus der Kuhle, in welcher sich der Graben befand, hinaus waren, trieb ich Chanel zu einem forschen Galopp an. Die Stute schnaubte und legte noch ein wenig zu. Der Schopf wippte fröhlich am unteren Ende meines Blickfeldes auf und ab. Wir rasten an Carmen vorbei und ich bremste Chanel. Im Trab liess ich sie die Zügel aus der Hand kauen, bis sie sich entspannt streckte. Lobend tätschelte ich den dünnen Hals und wir kamen zu Florence und Carmen zurück.

Carmens Miene war die Definiton eines Pokerface. Sie verzog keine Miene als sie auf ihr Handy blickte und gelassen etwas tippte. «Ach komm schon», drängten Florence und ich, «Wer hat gewonnen?» Carmen lächelte ein Mona Lisa-Lächeln, welches sich schnell in ein Grinsen verwandelte. «Gewonnen hat», sie legte eine Kunstpause ein und warf eine kurzen Blick auf ihr Handy, auf welchem ich die Resultate vermutete. «Die Königin des Geländes, Florence Andermatten.» Ich drehte mich zu Florence hin um ihr zu gratulieren. «Gratulation», sagte ich mit einem Grinsen. Florence grinste zurück. «Dir auch, für dein erstes Mal wars nicht schlecht.» Ich lachte und fragte mich, wie ich bis heute morgen denken konnte ich werde nie den Mut haben einen Geländesprung zu springen.

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