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Die Schatten der Häuser im alten Stadtviertel von Bergstadt wurden immer länger und die untergehende Sonne tauchte alles in ein rötliches Licht. Ich eilte durch die Gassen. Im gehen warf ich einen Blick auf mein Smartphone. Schon fünf vor neun. Um neun wurde die Tür des Internates abgeschlossen, wenn ich draussen erwischt würde, bedeutete das einen Verweis. Ich hatte schon zwei, einen dritten konnte ich mir, nicht leisten.

Ich lief schneller. Der leichte Abendwind blies mir meine blonden Locken ins Gesicht als ich über einen grossen, jetzt menschenleeren Platz joggte. Die Schatten wurden immer länger und dunkler. Jetzt musste ich mich beeilen, sonst würde ich richtigen Ärger bekommen.

Ich joggte in eine unscheinbare Gasse. So würde ich einige Minuten sparen. Ein weiterer Blick auf mein Smartphone bestätigte mein Gefühl, dass Zeit sparen nötig ist. Es war schon 20:59. Ich verstaute mein Smartphone in meiner Hosentasche und begann zu rennen. Dies war ein verzweifelter Versuch meine Verspätung so klein wie möglich zu halten. In weniger als einer Minute im Internat zu sein, war unmöglich.

Innerlich verfluchte ich mich dafür, dass ich heute so lange in der Reithalle trainiert hatte. Ich schob diesen Gedanken beiseite. Wenn ich am Samstag auf dem CSIO St. Gallen einen guten Eindruck machen wollte, musste ich trainieren. Franz Schwerenhof würde dort sein und sich nach jungen Talenten für den Nationalkader der Junioren umsehen. Mein Ziel war es in diesen Kader zu kommen.

Ich bog in eine weitere Seitengasse ein. Die Sonne war fast untergegangen, die ersten Strassenlaternen begannen zu leuchten. Ich rannte weiter. Auf der rechten Seite der Gasse konnte ich schon das Schild des Restaurant Löwen erkennen. Dort links und den Abhang hinauf.

Als ich den historischen Stadtkern verliess und in Richtung Wald rannte, wurde das Kopfsteinpflaster unter meinen Füssen von Kies abgelöst. Nur noch die gekieste Auffahrt hinauf und durch das schmiedeeiserne Tor, dann war ich da. Keuchend stand ich vor dem verschlossenen Tor. Ich holte mein Smartphone hervor und schrieb meiner Freundin Lou, welche auch meine Zimmergenossin war eine Nachricht. Ich bin draussen, das Tor ist zu. Fast sofort leuchteten zwei blaue Häkchen auf. Am Fenster, welches zu unserem Zimmer im zweiten Stock gehörte, konnte ich eine Silhouette erkennen. Sie verschwand und kurze Zeit später tauchte ein Mädchen mit kurzen schwarzen Haaren und dunkler Haut vor mir auf.

Lachend öffnete sie das Tor und liess mich rein. «Wieder einmal typisch Liv. Hat die Zeit im Stall völlig vergessen.» Ich verdrehte die Augen. «Los wir müssen rein, bevor Frau Reusser uns erwischt.» Wir liefen auf die Glastür zu, welche den Eingang in das dreistöckige Betongebäude bildete.

Ich stiess die Glastür auf. Zu meiner rechten öffnete sich der Gemeinschaftsraum, ein grosser Saal mit Sofas, Tischen, einer Tischtennisplatte und einem Fernseher. Einige Schüler waren dort und schauten sich einen Film an.
Doch wir huschten links die Treppe in die oberen Stockwerke hinauf.

Im ersten Stock wollten wir unbemerkt die Treppe weiterhinauf in das Mädchenstockwerk huschen, doch am Absatz der zweiten Treppe hielt uns eine ältere Frau mit streng nach hinten gebundenem Haar auf. «Olivia, wo waren Sie heute Abend?», fragte sie streng. Lou begann langsam und von Frau Reusser unbemerkt die Treppe nach oben zu schleichen. «Ich... Ich war im Stall, ich hatte Reitstunde.» Frau Reusser sah mich tadelnd an. «Ihnen ist bewusst, dass Sie um 21 Uhr hier sein müssen.» Ich schaute zu Boden und nickte. «Ich werde Ihnen einen weiteren Verwies geben müssen.» «Bitte nicht», flehte ich, «Frau Reusser, das würde einen Schulverwies nach sich ziehen. Ich werde ab jetzt pünktlich sein.» Frau Reusser überlegte kurz. «Wenn Sie ab jetzt wirklich pünktlich sind, werde ich jetzt nachsichtig sein. Aber das ist Ihre letzte Chance» Ich bedankte mich und ging erleichtert die Treppe hinauf.

In meinem Zimmer lag Louisa auf ihrem Bett und las ein Buch. Als ich das Zimmer betrat, schaute sie auf. «Liv, was hat die Reusser gesagt?», fragte sie besorgt. Ich rang mir ein lächeln ab. «Wenn ich ab jetzt pünktlich bin, erspart sei mir den dritten Verweis.» Ich ging zum Schrank und holte mein dunkelblaues Badetuch hervor. Aus dem Kulturbeutel auf meinem Nachttisch fischte ich Duschgel und Shampoo.

Ich ging zu den Mädchenduschen und legte das Shampoo in eine Kabine.Mein Tuch hängte ich über die Tür, dann zog ich meine Reitbekleidung aus. Ich ging in die Dusche und schloss die Tür ab. Dann liess ich das warme Wasser über meinen Körper laufen. Nach einem Anstrengenden Tag fühlte es sich einfach nur gut an. Ich schloss die Augen und genoss den Moment der Ruhe. Das einzige Geräusch war das Wasser. Als ich merkte, dass meine Haare komplett durchnässt waren, stellte ich das Wasser aus und shampoonierte die brustlangen Locken ein. Dann rieb ich meinen Körper mit Duschgel ein. Ich spülte es ab und stellte das Wasser aus. Schnell griff ich nach dem Badetuch und trocknete mich.

Als mein Körper trocken war, schlang ich es um meine Haare und zog meine Kleider wieder an. Im Zimmer tauschte ich den Hoodie und die Reithose gegen eine graue Jogginghose und ein blaues T-Shirt. Ich legte mich auf das untere Bett des Stockbettes, welches mir gehörte, nahm mein Smartphone und checkte meine Nachrichten. Meine beste Freundin, Fiona, hatte mir geschrieben. Ich öffnete den Chat und las die Nachricht durch. Bist du bereit für übermorgen? Das Training heute war ein voller Erfolg. Ich habe Michelangelo und Dark Princess selten so gut springen gesehen. Ich schmunzelte. Mein eigener Wallach, Micky, ist wirklich sehr souverän gesprungen. Fionas Stute Prinzi, bestach eher mit ihrer Geschwindigkeit.

Fiona ging auf dieselbe Schule wie ich, das Tschaler-Internat in Bergstadt. Da sie jedoch in Bergstadt wohnte, war sie eine der wenigen Schülern, welche nicht im Internat schliefen. Deshalb konnte sie auch nicht verwarnt werden und durfte solange reiten wie sie wollte. Ich spürte einen kleinen Stich in meiner Brust. Meine Eltern wohnten am anderen Ende des Landes und haben alles darangesetzt, dass ich nur an die besten Schulen ging. Es mag jetzt eingebildet klingen, aber meine Familie ist sehr erfolgreich und wohlhabend. Mein Vater leitet eine der führenden Firmen in der Pharmaindustrie, meine Mutter hatte früher ihr Geld mit Modeln verdient. Ich war die jüngste und stand immer im Schatten meines Bruders, Alex Dreher. Er gilt als einer der besten Schweizer Unihockeyspieler und ist erst letztes Jahr in einen sehr berühmten schwedischen Club gewechselt. Er ist mit 21 nur vier Jahre älter als ich und dennoch, jeder kennt ihn. Sein Leben ist die Erfolgsstory. Und ich, ich bin Olivia Dreher, die kleine Schwester. In der Reiterszene bin ich bekannt als das Juniorenwunder. Die Überfliegerin. Trotzdem kommt es mir so vor, wie wenn meine Eltern blind sind für meine Erfolge.

Das «Pling» meines Smartphones riss mich aus meinem inneren Monolog. Mein Bruder hatte ein Bild in den Familienchat geschickt. Es war ein Screenshot von der aktuellen Rangliste der Schwedischen Nationalmeisterschaft. Sein Club führte die Wertung an. Es dauerte nicht lange, da gratulierte meine Mutter ihm. Ich schrieb leicht eifersüchtig, dass ich, wenn am Samstag alles glatt lief, gute Chancen hatte im Juniorennationalkader zu landen. Mein Bruder schrieb: Cool, Meine Eltern gingen nicht darauf ein. Ein bisschen enttäuscht stellte ich mein Handy aus und legte es auf den Nachttisch. Ich lag noch eine Weile wach. Lous regelmässige Atemzüge verrieten mir, dass sie schlief. Kurz vor Mitternacht, fielen mir die Augen zu und ich sank in einen tiefen Traumlosen Schlaf.

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