Der Tragödie vierzehnter Teil
Preisfrage: Was ist schlimmer, als die ganze Schule überzeugen zu müssen, dass man straight ist?
Antwort: Die ganze Schule überzeugt haben und dann herauszufinden, dass man es eben doch nicht ist.
Das Ausmaß des Chaos, in das sich mein Leben gerade gestürzt hatte, wurde mir erst so richtig klar, während ich nach Hause lief.
Ich wusste, dass es irrational wäre, zu leugnen, dass ich mich zu Nicks Stiefschwester hingezogen fühlte. Aber auf der anderen Seite hatte er ja schließlich selbst erzählt, dass sie andauernd irgendwelche Mädchen hat, oder nicht? Kann es also nicht einfach sein, dass sie diese Wirkung auf heterosexuelle Mädchen – wie mich – hatte?
Mir war selbst klar, dass ich mir nur nicht eingestehen wollte, dass ich auf sie stand, nachdem ich so weit gegangen war, einen Typen zu daten, um meiner Stufe klarzumachen, dass ich nicht lesbisch war, doch gleichzeitig war mir auch ebenfalls klar, dass ich niemals, wirklich niemals irgendwas mit Mae anfangen könnte, nachdem ich heute Nicks enttäuschten Blick gesehen hatte.
Was also brachte es, noch irgendwelche Gedanken an sie zu verschwenden?
Nick war toll und ein durch und durch gutherziger Mensch. Ich sollte Luftsprünge machen, dass mir das Glück zuteilgeworden ist, ihn als Freund zu haben. Und ich undankbarer Mensch verbrachte die Zeit damit, an die unfassbar grünen Augen seiner Schwester zu denken, anstatt Zeit mit ihm zu verbringen.
Ich sah zu der roten Ampel hoch, die mich zum Stehenbleiben gezwungen hatte. Sie wurde grün, doch ich blieb reglos stehen.
Ich starrte noch weitere drei Sekunden auf das farbige Licht, bevor ich mich umdrehte und zurück zu Nicks Haus rannte.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie mir ein junger Mann mit Kinderwagen überrascht hinterher sah.
Ziemlich außer Atem kam ich vor dem Einfamilienhaus zum Stehen. Ich wartete, bis sich meine Atmung normalisiert hatte, bevor ich mit zitterndem Finger auf die Klingel drückte.
Nach wenigen Sekunden öffnete Nick die Tür.
„Tammy?" Er sah mich überrascht an. „Hast du was vergessen?"
Ich schüttelte vehement den Kopf. „Nick, es tut mir leid, dass ich nicht die Freundin gewesen bin, die du verdient hast."
„Bist du ... nicht?", Nick sah mich ratlos an. „Ist irgendwas passiert?"
Mir wurde jetzt erst klar, dass ich mich aufführte, wie in einem dieser komplett unrealistischen Liebesfilme.
Ich lächelte ihn an und lachte dann vorsichtig. „Nein, alles gut. Sorry wegen meines Auftritts. Mir ist nur gerade noch mal richtig klar geworden, wie froh ich sein kann, einen so tollen Freund zu haben wie dich."
Nicks Augen leuchteten freudig überrascht auf. „Echt? Wow, das freut mich echt zu hören! Du kannst auch gerne nochmal reinkommen, wenn du noch da bleiben willst."
Er trat einen Schritt zur Seite, um den Durchgang freizumachen.
Ich überlegte kurz. War es klug, reinzukommen?
Ja, beschloss ich. Scheiß auf Mae.
Mir fiel jetzt erst auf, dass es ja sogar sein konnte, dass sie ebenfalls schon in einer Beziehung war. Und selbst wenn nicht, wäre es vermutlich gut, wenn ich ihr nochmal begegnen würde, um mir selbst zu beweisen, dass ich mich da einfach nur in etwas reinsteigerte.
„Das würde ich gerne, wenn es dich nicht stört."
Er wirkte immer noch etwas verwirrt wegen meines plötzlichen Auftritts, das hinderte ihn jedoch nicht daran, mir das Gefühl zu geben, dass er sich wirklich darüber freute, dass ich beschlossen hatte, den Abend mit ihm zu verbringen.
„Was willst du machen?", fragte er mich, nachdem wir das Wohnzimmer betreten hatten. Ich schüttelte den Kopf. „Wenn ich schon bei dir reinplatze, richte ich mich wenigstens nach dir. Hattest du irgendwelche Pläne für heute Abend?"
Nick zögerte. „Naja ..."
„Sag es mir ruhig", forderte ich ihn auf. Kurz schien er noch mit sich zu ringen, entschied sich dann aber doch dafür, mich in seine geheimen Pläne einzuweihen. „Um ehrlich zu sein läuft nachher im Free TV eine Dokumentation übers Tuning, die ich mir ansehen wollte. Aber wir müssen das echt nicht machen, wenn du nicht willst."
Ich schüttelte vehement mit dem Kopf. „Vergiss es. Wir gucken deinen Film."
„Echt?", Nick strahlte.
„Klar." Ich wusste, dass ich mir freiwillig unter keinen Umständen eine Doku über Autos angesehen hätte, wobei ich nicht mal genau wusste, ob sie sich um Auto Tuning drehen würde, aber ich hatte das Gefühl, dass ich es Nick schuldig war.
Und deshalb zog ich mir dann mit ihm eine zweieinhalbstündige Dokumentation übers Tuning rein.
Nick hatte uns eine große Schüssel Chips besorgt und so hatte ich wenigstens etwas zu tun, während er fasziniert auf den Flachbildschirmfernseher vor uns starrte.
Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es waren dreißig Minuten vergangen, seit die Dokumentation gestartet hatte und so langsam verlor ich die Hoffnung, dass der Sender, der sie ausstrahlte und von dem ich vorher noch nie in meinem Leben gehört hatte, Werbung schaltete.
„Ich gehe kurz aufs Klo", sagte ich zu Nick.
„Mmhh", brummte er, während er komplett vertieft die kleinen Autos und Menschen auf dem Bildschirm beobachtete.
Leise verließ ich das Wohnzimmer und schloss die Tür hinter mir. Erst als ich mitten im Flur stand, wurde mir klar, dass ich absolut keine Ahnung hatte, wo das Bad war.
Die einzige andere Tür, die im Erdgeschoss lag, war die gegenüber des Wohnzimmers mit der offenen Küche, und sie stand offen, weshalb man vom Flur aus einen modernen Schreibtisch und eine Reihe von Bücherregalen erkennen konnte.
Da ich als unangefochtenes Genie wusste, dass die meisten Menschen Büro und Badezimmer in getrennten Räumen untergebracht hatten, musste ich also ins Obergeschoss.
Zögerlich schlich ich die Treppe hoch. Oben angekommen sah ich mich im Flur um.
Von heute Nachmittag wusste ich noch, dass die erste Tür links zu Nicks Zimmer führte. Daneben lag ein weiterer Raum und auch an der gegenüberliegenden Wand gab es zwei Türen.
Elternschlafzimmer, Maes Zimmer, Bad, schlussfolgerte ich.
Ich hatte also eine eins zu zwei Chance, auf Anhieb das richtige Zimmer zu erwischen.
Auf keinen Fall wollte ich versehentlich in Maes Zimmer platzen, die Eltern waren, soweit ich wusste, nicht zuhause.
Ich entschied mich für eine der beiden Türen auf der rechten Seite, in der wagen Hoffnung, dass Maes Zimmer direkt neben dem ihres Stiefbruders liegen würde.
Ich fasste mir ein Herz und steuerte auf die gewählte Tür zu.
Ich klopfte. Keiner antwortete.
Das war doch ein gutes Zeichen, oder nicht?
Ich griff nach der Klinke und drückte sie runter.
Vor mir lag ein schlichter Raum, in dessen Mitte ein großes Doppelbett thronte. Das Elternschlafzimmer.
Zwar nicht das Bad, aber wenigstens leer.
Schnell schloss ich die Tür wieder, um einen neuen Versuch zu starten, doch als ich mich umdrehte, stand jemand vor mir.
„Was bitte schön wolltest du in dem Schlafzimmer unserer Eltern, du Perversling?"
Vor mir stand Mae mit hochgezogener Augenbraue.
Ich zuckte zusammen. Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte ich sie jetzt schon nicht an mich ran treten gehört.
„Ich suche das Bad", versuchte ich mich zu erklären.
„Das sagen sie alle." Das toternste Gesicht, das sie machte, während sie sprach, verunsicherte mich.
Ich spürte, wie mir langsam warm wurde. Zu warm.
„Ich wollte wirklich nur pissen."
Sie grinste. „Chill, ich mach doch nur Spaß."
In ihre Augen trat ein kurzes Funkeln.
Mein Blick ruhte auf ihrem Gesicht. Mae hatte ein ungewöhnliches Gesicht. Es schien zur gleichen Zeit weich, aber auch eckig und ernst. Ich fand, sie sah aus wie eine griechische Göttin.
Augenblicklich rügte ich mich für diesen Gedanken, schließlich stand es nicht zur Debatte, dass Maes Schönheit bewundern auf der Liste mit kontraproduktiven Dingen stand.
Mae deutete auf die zweite Tür auf der rechten Seite. „Fast hättest du richtig geraten."
„Okay", war alles was ich herausbrachte, bevor ich so schnell wie nur irgendwie möglich hinter der richtigen Tür verschwand.
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