Kapitel 2 - Böse Überraschung

"Und du hast mir nichts gesagt?", fragte ich Semra, als sie meiner Mutter und mir zwei Stück von der Schwarzwälder Kirschtorte vorbeibrachte, die ihr Vater gebacken hatte. Sie wohnte nur drei Häuser weiter und brachte uns jeden Sonntag Gebäck vorbei, denn das war Yusufs' große Leidenschaft: Backen.

Da mein Vater nicht mehr hier wohnte und meine Schwester vor einem Monat nach Südamerika gegangen war, um dort ein Jahr lang zu reisen, erhielten wir nur noch zwei Stück. Es war ein wenig traurig zu sehen, wie meine Familie hier immer kleiner wurde.

"Nein, das sollte er ruhig selber machen. Er war ganz aufgeregt und hat mir sofort geschrieben, dass ihr euch geküsst habt."

"Das hat er dir geschrieben?", hakte ich verwundert nach.

Irgendwie hatte ich diesen Moment als etwas sehr Intimes empfunden, das nur uns gehörte.

"Ja. Er mag dich wirklich und ihr seid ein süßes Paar", beteuerte sie glaubhaft.

Ich schloss die Wohnungstür hinter ihr, damit nicht die ganze Nachbarschaft von unserem Gespräch mitbekam. Insbesondere unsere verwitwete Nachbarin, die seit ihrer Berentung viel zu viel Zeit hatte, hatte großes Interesse am Privatleben aller in diesem Haus lebenden Menschen.

"Und für dich ist das kein Problem?"

Sie schüttelten den Kopf und ihre schwarzen, seidigen Haare wippten mit. Semra war wunderschön und ich fragte mich, warum Collin sich in mich verliebt hatte und nicht in die ganz offensichtlich hübschere Semra, die zudem einen Humor hatte, um den ich sie beneidete.

"Solange ihr nicht nur noch Dates zu Zweit habt und ich mich bei unseren Treffen nicht wie das dritte Rad am Wagen fühlen, habt ihr meinen Segen."

Plötzlich hörten wir, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Die Tür öffnete sich und meine Mutter polterte wir immer gehetzt in den Flur. Ihre weiße Bluse hatte über den Tag hinweg ein paar Falten geworfen und ihr Bleistiftrock war minimal verdreht.

"Hey, Schatz", begrüßte sie mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. "Hey, Semra." Auch sie bekam einen Schmatzer. "Hast du uns wieder Kuchen gebracht? Danke! Richte das bitte auch deinem Vater aus!"

Semra lächelte meine Mutter vertraut an.

"Mach ich, aber er ist für jeden Abnehmer dankbar, denn würden wir seine ganzen Kuchen alleine essen müssen, wären wir wahrscheinlich schon Kandidaten bei The Biggest Looser - Family Edition."

Mama sah sich in unserem riesigen Spiegel im Flug an und betrachtete kritisch ihre zerzausten braunen Haare. Sie schien einen wirklich anstrengenden Tag hinter sich gebracht zu haben.

"Alles okay?", erkundigte ich mich bei ihr.

Im Licht des Flures sah meine Mutter älter aus, als sie eigentlich war. Künstliches Licht schmeichelte ihr offensichtlich nicht. Die Augenringe waren dunkel und die Falten tiefer als sonst.

"Ja, aber ich habe mit dir etwas zu besprechen."

"Ich muss eh wieder zurück", informierte uns Semra. "Oma ist heute zu Besuch und wir wollen Okey spielen."

"Perfekt", sagte Mama sofort. "Ich möchte nämlich ungern mit dem Gespräch warten. Dann grüß natürlich auch deine Oma lieb. Ach und warte kurz!" Mama verschwand im Wohnzimmer, kramte kurz in einer Schublade und kam dann mit drei Büchern wieder. "Gib die doch bitte deiner Mama. Sie wollte sich die ausleihen."

Semra nahm die Bücher entgegen und zog ihr Jacke darüber, da es schon wieder regnete.

"Mach ich. Bis dann und lasst es euch schmecken!"
Sie winkte noch einmal und verschwand dann im Hausflur. Ich schloss derweil unsere Wohnungstür und sah Mama verwundert an. Sie wollte mit mir reden? Noch nie zuvor hatte sie so etwas angekündigt. Normalerweise sprach sie es einfach aus. Sie war schon immer eine Person gewesen, die kein Blatt vor den Mund nahm. Ich vermutete, dass das auch einer der Gründe war, warum die Ehe zwischen meinen Eltern nicht gehalten hatte.

"Ist es etwas Schlimmes?", hakte ich vorsichtig nach und war erleichtert, als meine Mutter sofort den Kopf schüttelte.

"Nein, keine Sorge. Komm, ich mach dir einen Tee, wir setzen uns auf die Couch und lassen uns Yufus' Kuchen schmecken."

"Okay", stimmte ich zu und hatte ein flaues Gefühl im Magen.

Ich ging in unser Wohnzimmer, welches Mama ausschließlich in Weiß- und Beigetönen gehalten. Mama hielt nicht viel von Deko und so war ein Trockenblumenstrauß das einzige, das diesem Raum Leben einhauchte. Meine Freunde hatten diesen Stil immer als luxuriös wahrgenommen, ich empfand es eher charakterlos.

Ich setzte mich auf die Couch und schnappte mir ein Kissen, das ich umschlang. Ungeduldig wartete ich bis Mama mit dem Tee kam. Ich liebte den Geruch von frisch gebrühten Chai.

Sie stellte die zwei Tassen auf den Glastisch. Ich konnte ihre Anspannung spüren. Ihr schlanker Körper, den sie mit täglichem Joggen fit hielt, wirkte verkrampft.

"Mama, du machst mir ein bisschen Angst."

Sie ließ sich neben mir auf der Couch nieder.

"Es ist nicht schlimm, aber es ist eine Veränderung."

"Du hast einen neuen Mann, oder?", sprudelte aus mir heraus, doch Mama fing sofort an zu lachen.

"Nein, das ist es nicht. Lass es mich dir erklären." Ich umschlang das Kissen auf meinen Schoß fester. "Ich habe eine neue Stelle angeboten bekommen, die deutlich besser bezahlt ist und meiner Karriere einen ordentlichen Push gibt. Es ist wirklich eine Traumstelle."
"Glückwunsch!", sagte ich erfreute, denn ich wusste, wie wichtig die Karriere für meine Mutter war. Sie war ein Workaholic und arbeitete hart, um sich in einer Männerwelt durchsetzen. Dafür hatte ich sie schon immer sehr bewundert.

"Danke, aber die Sache hat einen Haken. Die Stelle ist nicht in Berlin, sondern in New York."

New York? In den USA?
Mit leicht offenem Mund starrte ich sie ungläubig an.

"Ich weiß. Ich weiß", sprach sie weiter. "Das ist alles ein bisschen viel. Aber ich habe einen Plan."

"Moment", unterbrach ich sie. "Du hast das schon entschieden?"

"Ja", sagte sie entschlossen.
"Und du hast nicht einmal meine Meinung angehört? Das betrifft auch mein Leben. Ich habe hier meine Freunde." Und meinen Freund, dachte ich insgeheim. "Wir können doch nicht einfach so in die USA ziehen."

"Das ist auch gar nicht der Plan."

Ich legte meinen Kopf schief und sah sie an. Ihre großen braunen Augen, die sie an mich vererbt hatte, sahen mich entschlossen an.

"Kann ich etwa hier bleiben? Kann ich bei Semra wohnen?"
"Nein, Millie", sagte Mama. "Das geht nicht. Ich habe das auch in Erwägung gezogen und auch gefragt, aber Semras Oma hat Demenz und wird bald bei Yusuf und Asma einziehen. Sie haben dann leider keinen Platz. Und Collin und Yvonne leben in dieser kleinen Drei-Raum-Wohnung. Das geht auch nicht."

"Moment!" Es ging mir ein Licht auf. "Ich soll zu Papa, habe ich recht?" Papa war vor einem Jahr mit seiner neuen Freundin nach Vancouver gezogen, um dort Wirtschaftsprüfungen vorzunehmen.

"Nein!", sagte Mama nun streng. "Lass mich doch bitte erst einmal ausreden und höre mir zu!"

Nun breitete sich Verwirrung in mir aus. Ich sollte weder in meiner Heimat, noch bei meiner Mutter, noch bei meinem Vater wohnen. Was hatte sie mit mir vor? Sollte ich nach Hogwarts? Dafür war es jedoch drei Jahre zu spät.

"Ich werde in New York keine Zeit für dich haben, denn mein Job ist zeitintensiv und ich werde nur zum Essen und Schlafen zuhause sein. Wenn überhaupt. Bei deinem Vater ist es ähnlich. Daher haben wir entschieden, dich auf ein Internat in England zu schicken. Dort bist du in besten Händen und im Lebenslauf wird sich das auch gut machen."

Die Kontrolle über meine Gesichtsmuskeln entglitt mir komplett. Internat? In England?

"Was?", war alles, was ich über die Lippen bekam, dabei ging in meinem Kopf so viel mehr vor sich?

Ich sollte in ein Internat? In ein Land, in dem ich noch nie zuvor war? Tausende Kilometer entfernt von meiner Familie? Mit bitterer Enttäuschung stellte ich fest, dass meine Mutter ihr Karriere ihrem Kind vorgezogen hatte. Ich war 15! Und offenbar war ich in ihren Augen nun alt genug, um mich abzuschieben.

Ich dachte an Semra und Collin. Ich konnte doch nicht ohne sie leben. Mit dieser Entscheidung nahm sie mir alles. Meine Familie und meine Freunde.

"Das kannst du nicht tun!"

"Schatz", sagte sie erstaunlich ruhig. "Ich weiß, dass ist jetzt erst einmal viel, aber es wird dir dort gefallen. Das ist eine hochangesehene Schule. Auf den Bildern sieht es ein bisschen aus wie Hogwarts. Du magst du Harry Potter."

Entgeistert sah ich sie an.
"Denkst du ich bin bescheuert?", wurde ich nun wütend. "Glaubst du echt, dass du mich damit umstimmen kannst? Weil das Gebäude ein bisschen wie eine Filmkulisse von einem Zauberfilm aussieht? Willst du mich eigentlich verarschen?"

"HEY!", mahnte sie mich sofort. "Nicht in dem Ton!"

Normalerweise stritten meine Mutter und ich nicht. Doch das hier war anders. Sie wollte mir alles nehmen, was ich hatte. Gerade jetzt, wo ich das erste Mal verliebt war. Wo ich wie ein richtiger Teenager war, der das erste Mal einen Freund hatte.

Tränen schossen in meine Augen.

"Was erwartest du denn?", fragte ich provokativ. "Das ich jubelnd in die Luft springe, weil du mich in ein Land schickst, in dem ich nichts und niemanden kenne?"

"Du kennst die Sprache", versuchte sie mich kläglich aufzubauen.

Wie konnte eine intelligente Frau eine so dumme Aussagen tätigen?

Ja, ich sprach Englisch, weil meine Eltern mich von Kind an bilingual erzogen hatten und ich auf ein internationales Gymnasium gegangen war. Mehr aber auch nicht.

"Ich will nicht", ließ ich sie entschlossen wissen.

"Es ist bereits beschlossen. Es tut mir leid, dass das alles so kurzfristig kam, aber es gab viel zu klären und ich wollte nicht schon Drama verursachen, welches im Endeffekt umsonst gewesen wäre."

"Moment, wann soll ich denn deiner Meinung nach England fliegen?"

"Dein Flug geht diesen Mittwoch?"
"MITTWOCH?"
Mama zuckte zusammen als ich schrie. Ich war eine gut erzogene Tochter, die normalerweise nicht so ein Verhalten an den Tag legte, doch das war eine Ausnahmesituation.

"Du schiebst mich ab", schluchzte ich nun. "Du ... und Papa auch."
"Das stimmt nicht", widersprach.

"Doch! Keiner von beiden will mich haben und jetzt schiebt ihr mich in ein Internat ab."

Sie versuchte meine Hand zu ergreifen, doch ich zog sie weg.

"Millie, wir lieben dich! Über alles! Aber du bist in einem Internat besser aufgehoben. Ich werde nicht die Zeit für dich zu kochen oder deine Wäsche zu waschen."

"Du könntest die Stelle einfach ablehnen."

Sie presste ihre roten Lippen zusammen.

"Nein, das ist keine Option. So eine Chance bekomme ich nie wieder."

"Du bekommst auch nie wieder die Chance deine 15-jährige Tochter aufwachsen zu sehen", erinnerte ich sie. "Wie sie ihre Mutter braucht, wenn sie ihren ersten Liebeskummer hat oder wie sie das erste Mal untern den Folgen zu viel Alkohol leidet. Aber hey, kommt dir ja vielleicht ganz gelegen, dass du dich damit nicht rumschlagen musst. Soll sie doch selbst sehen, wie sie mit ihren verrückten Hormonen klarkommt."

"Millie, dass stimmt nicht. Wir können uns doch in den Ferien sehen. Dann kannst du mich in New York besuchen."
"Aber ich besuche doch schon Papa in den Ferien in Vancouver! Checkst du es nicht, was du mir alles nimms! Ich bin doch kein Welpe, den man wieder ins Tierheim bringt, sobald er nicht mehr süß und flauschig ist!"

Sie wich nun meinem Blick aus und ich sah ihr an, dass sie sich schuldig fühlte. Richtig so! Leider erkannte ich aber auch ihre Entschlossenheit. Ich wusste, dass ich ihre Meinung nicht ändern konnte.

"Die Entscheidung ist gefallen. Es tut mir wirklich leid, Millie. Wirklich. Aber ich konnte dieses Angebot nicht ablehnen. Auch wenn der Anfang vielleicht nicht einfach wird, wirst du dich schnell dort einleben und neue Freunde finden.

"Ich will keine neuen Freunde. Ich habe doch schon Freunde."
"Die können dich besuchen. Collin, Semra und du seid euch doch so nah. Ich habe keine Zweifel daran, dass eure Freundschaft das überstehen kann."

Vor Wut schmiss ich das Kissen auf den Boden. Meine Emotionen überforderten mich. Ich fühlte mich allein gelassen.

Die Frequenz meiner Tränen erhöhte sich nun. Heiß rollte die Enttäuschung über meine Wangen.

"Schatz, bitte wein nicht!"
Was hatte sie denn erwartet?

Ich erhob mich von der Couch. Ich ertrug den Anblick meiner Mutter nicht. Sie saß da mit ihrem viel zu starken Make-Up und tat so, als würde ich überreagieren. Als wäre ich kindisch und könnte Entscheidungen von Erwachsenen nicht verstehen. Vielleicht verstand ich es auch wirklich nicht im Detail. Aber ich verstand, dass weder mein Vater noch meine Mutter mich bei sich haben wollte und das war ein Schmerz, der mein Herz in Fetzen zerriss. Das Herz, das eben noch auf Wolke 7 geschwebte war, war nun nur noch eine große Gewitterwolke, die von Blitzen durchzuckt wurde. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top