Im Herbst steig ich zu dir hinab (Fantasy + HÖRBUCH)

Auch als Hörbuch, gelesen von @Tabor auf YouTube: 

Knarzend schwang die schwere Eichentür auf. Ein eiskalter Wind pfiff herein und blies vereinzelte Schneeflocken sowie die toten Blätter vertrockneten Herbstlaubes in die warme Kammer. Alle Gespräche verstummten und ein Dutzend mandelförmiger Augenpaare richtete sich auf die Tür. Grobe Wolldecken und Schafspelze bedeckten den Boden, auf dem eine Handvoll Kinder mit handgeschnitzten Holzpuppen, Kastanienmännchen und einigen Stofffetzen lautstark gespielt hatten. Nur das Knistern und Knacken des lodernden Kaminfeuers traute sich, die Stille zu zerbrechen.

Auf ihren knotigen Stock gestützt, trat eine alte in dicke Lumpen gehüllte Frau herein. Ihre schlohweißen langen Haare verbarg ihre Fellkappe nur unzureichend, sodass die Spitzen Ohren deutlich an ihrem faltigen Haupt hervortraten.

„Was ist?", fragte sie heiser. „Will mich denn keiner begrüßen?"

„Valva!", rief Elris, der Kleinste in der Kinderschar, mit heller Stimme und stürmte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, kaum dass sie die Tür geschlossen hatte. „Du bist zurück! Hast du uns eine spannende Geschichte mitgebracht?"

„Sicher mein Kleiner, sicher." Damit humpelte sie zu einer der Bänke, die eine der Mütter zügig freimachte, und ließ sich ächzend nieder.

„Ihr wisst, was heute für ein Tag ist?"

„Natürlich", riefen sie alle im Chor. „Das große Fest!"

„Kennt ihr denn die Legende, wie es entstanden ist?", fragte sie und beugte sich vor.

Sie wartete kurz das gemeinschaftliche Kopfschütteln der Rasselbande ab

„Aber habt acht, das ist nichts für schwache Nerven. Nicht, dass ich nachher Klagen von eueren Eltern höre, weil ihr Albträume hattet."

„Valva", warf erneut der vorlaute Junge ein, „wir sind doch schon groß!"

„Natürlich, da hast du recht. Nun denn. Es ist die finstere Geschichte eines mutigen Mädchens und ihres über alles geliebten Bruders. Damals war der Kleine kaum älter als du, Elris ..."

„Murna, Murna, dunkle Mutter, im Herbst steig ich zu dir hinab, ..." Das düstere Herbstlied singend, sprang sie auf den hölzernen Vorbau. Sonnenflecken, die durch das herbstlich gelbbraune Laub ihrer Kastanie brachen, umspielten ihre nackten Füße.

„Amalia!" Kam die gedämpfte Stimme ihrer Mutter von drinnen aus ihrem natürlich gewachsenen Heim. „Du weißt, dass du diese finsteren Verse nicht singen sollst! Das bringt Unglück. Gerade heute!"

„Ja, ja, Mama." Das war ihrer Meinung nach eh nur Aberglaube und spaßig, die Erwachsenen damit zu verärgern. Aber sie tat ihrer Mutter den Gefallen.

Geschickt sprang sie auf das knorrige Geländer vor ihrer Hüfte, balancierte kurz das Gewicht aus und genoss das Kribbeln, das sich einstellte, sobald sie am Abgrund zwanzig Schritt über dem laubbedeckten Boden schwebte. Ohne zu zögern, griff sie sich das dicke Seil, das neben ihr baumelte, umfasste es mit beiden Armen und sprang.

„Huuiii." Die knotige Rinde der uralten Kastanie, die zehn ausgewachsene Männer nicht zu umfassen vermochten, hölzerne Balkone, Baumhäuser, Hängebrücken und Strickleitern rauschten an ihr vorbei, während sie sich dem Boden rasant näherte.

Der Gegenwind kitzelte die Spitzen ihrer Ohren und ließ ihr langes Haar nahezu senkrecht aufsteigen. Auf halbem Weg kam ihr die leere Plattform des Lastenaufzuges entgegen, der ihr als Gegengewicht am Seil diente. Später würde ihre Mutter schimpfen, dass sie wieder die Arbeitsgeräte zweckentfremdete und nicht wie alle anderen die Leitern hinabstieg. Eine geschickte Mechanik verlangsamte die Fahrt, als sich der Boden näherte und die Lastenplatten ihrem Ziel in den Wipfeln. Den letzten Meter sprang sie.

Ihr Füße berührten die feuchten Blätter, die herabgesegelt waren und die Lichtung ihres Baumdorfes in ockergelbe, feuerrote und matschbraune Töne färbte. Ein leicht moderiges Aroma, typisch für die goldene Jahreszeit lag in der Luft. Sie liebte diese leicht melancholische Jahreszeit.

„Ammi!" Ihr jüngerer Bruder wetzte auf sie zu und gab ihr eine Umarmung. „Hat Mama die Sachen für die dunkle Murna gepackt?"

„Klar, Rikkert. Schon heute Morgen." Sie wuschelte ihm durch seine langen braunen Haare. „Wir wandern später gemeinsam zum Gletscher und legen sie dort ab. So, wie jeden Herbst."

„Aber es ist doch ein Fünfer-Jahr. Oder nicht?"

„Das ist egal."

„Aber die Oma hat gesagt ..."

„Rikkert, das sind nur Schauermärchen. Am fünften Jahr ist nichts Besonderes."

„Aber Liria ist vor fünf Jahren verschwunden. Hast du selbst erzählt." Er zog einen Schmollmund und stemmte seine Fäuste in die Hüfte. Damit zauberte er ihr ein Lächeln aufs Gesicht. Sie liebte ihren Bruder.

Trotzdem versetzte ihr diese Erinnerung einen Stich. Sie war zu dieser Zeit deutlich jünger gewesen und Liria ihre beste Freundin. Nach dem damaligen Murnen-Fest war sie spurlos verschollen und ist nie wieder aufgetaucht. Genauso wie andere vor ihr. Niemand redete offen über das Thema, aber angeblich verschwand jedes Fünfer-Jahr eines der Kinder. Es gab einen Grund, warum man dieses Fest zeremoniell beging, jedoch nicht feierte.

„Ist gut jetzt. Ich will nicht darüber reden. Schau, dass du nicht zu spät zum Festzug kommst. Bei Sonnenuntergang ziehen wir los."

Er zog schmollend ab und ihre Stimmung war im Eimer.

Die letzten Strahlen der Herbstsonne verschwanden hinter den schneebedeckten Gipfeln des Muria-Gebirges. Die etwa drei Dutzend Bewohner ihres Dorfes hatten sich am Rand des Waldes versammelt und ließen weißblaue Bälle in ihren Laternen oder auf langen Stäben aufflammen. Jede der acht Familien hatte einen Flechtkorb dabei, der mit Brombeer-Met, Äpfeln, Nüssen, frischem Brot und anderen Leckereien gefüllt war.

Während sie einem ausgetretenen Pfad über trostlose mit Flechten und verkrüppelten Kiefern bewachsenen Felsplatten folgten, kam ihr erneut der alte melodische Vers in den Sinn und sie summte ihn leise mit:

Murna, Murna, dunkle Mutter,

Im Herbst steig ich zu dir hinab,

Ins feste Eis zu dir herunter,

Bring Gaben an dein eisges Grab.


Murna, Murna, weise Dame,

Eingefrorn bis in alle Ewigkeit,

Bis ich dich entfessel,

In unendlicher Einigkeit.

Der Text war düster, aber die Melodie von einer zeitlosen Schönheit und unbestimmten Klarheit. Passend zur herbstlichen Jahreszeit und dem ernsten Murnen-Fest. Trotzdem verboten die abergläubischen Erwachsenen, dass man sie sang.

Rikkert, Rikkert, kleiner Junge,

Im Herbst steigst du zu mir hinab.

Der kurze Vers hallte kaum wahrnehmbar über die Ebene.

„Hey!" Erschrocken drehte sie sich um. Aber hinter ihr schritten nur ihre Eltern und schauten sie verwirrt an.

„Ist was, Amalia?", fragte ihre Mutter.

„Hast du das auch gehört?"

„Was gehört?"

„Ich ... egal." Sie erzählte ihr besser nicht, dass sie erneut den verbotenen Vers gesungen und ein seltsames Echo vernommen hatte. Rikkert tollte weiter vorne im Zug mit ein paar Gleichaltrigen herum. Nichts Ungewöhnliches.

Ihre Prozession näherte sich dem Gletscher. Tagsüber sah man, wie er sich als weißes, glitzerndes Band von den obersten Hängen, bis in ihr Hochtal ergoss. Wie ein breiter Fluss, schlagartig zu Eis gefroren. In der Finsternis warfen die vielen Kugeln wirre Schatten auf die fünf Mann hohe feuchte Eiswand. Wasser tropfte hinab, sammelte sich und floss als Bächlein davon.

Sie folgte den anderen zum Fuß der steilen Wand, bis der finstere Eingang zu einer mannshohen Höhle im Eis erkennbar war. Dieser führte nicht weit hinein, maximal ein paar Schritte. Trotzdem gab es Schauergeschichten, in denen man sich erzählte, die alte Murna lebe hier. Na ja, irgendwer würde sich all das Essen schon holen, ging ihr durch den Kopf. Wahrscheinlicher war, dass es sich um wilde Tiere oder Bergtrolle handelte. Allein wäre sie um diese Zeit nur sehr ungern in diesem Teil ihres Tales unterwegs.

---

Es war bereits tief in der Nacht, als sie sich in ihrem Baumhaus in die mit trockenem Laub und Stroh gefüllten Decken kuschelte. Warum nannte man es Murnen-Fest, wenn nichts gefeiert wurde und angeblich Kinder verschwanden? Es war nur ein langweiliger Marsch zum Gletscher und zurück.

„Murna, Murna, dunkle Mutter, ..." Nein! Sie stoppte sich selbst und erlaubte dem Ohrwurm nicht, erneut zurückzukommen. Das vorhin auf der Ebene war zu verstörend.

Finsteres Eis zog sich um sie zusammen.

„Ammi!" Das war Rikkert! Seine Silhouette hinter dem Eis. Verzweifelt schlug er mit seinen Kinderfäusten gegen die undurchdringliche Barriere. „Ammi!" Sie tastete hilflos mit ihren Fingern über die glatte Eisfläche. Ihr Bruder war auf der anderen Seite gefangen.

Schweißbedeckt und mit pochendem Herzen schreckte sie auf. Dunkelheit umfing sie. Durch die geschlossenen Fensterläden stach ein fahler Strahl weißen Mondlichts. Nur ein Albtraum, beruhigte sie sich. Trotzdem stand sie auf und warf zur Sicherheit einen Blick in das Bett ihres Bruders.

Es war leer!

„Rikkert!", flüsterte sie. Keine Antwort.

Sie lief hinaus. Eventuell war er nur auf der Toilette. Ein Plumpsklo auf ihrer Ebene. Es wäre albern dafür ihre Eltern zu wecken. Am Klo war er nicht.

„Rikkert! Bist du hier? Das ist nicht witzig", flüsterte sie erneut.

Rikkert, Rikkert, kleiner Junge,

Im Herbst steigst du zu mir hinab,

Ins feste Eis zu mir herunter,

Springst in dein eisges Grab.

Leise umwehte sie das Flüstern dieser gruselig verdrehten Form des Verses. Es hatte keinen bestimmten Ursprung, zog zwischen den Häusern und Baumwipfeln hindurch.

Sie sah ihn! Seine mondbeschienene Silhouette verschwand in diesem Moment rennend von ihrer Lichtung hinter den Bäumen. In Richtung des Gletschers! Sollte sie ihre Eltern wecken? Nein. Das dauerte zu lange. Er war für sein Alter ein exzellenter Läufer. Wenn er zur Eiswand rannte, würden sie ihn nach den notwendigen Erklärungen nicht mehr einholen.

Um keine Sekunde zu verlieren, schwang sie sich über das Geländer und ließ sich vom Seil hinuntertragen. Unten angekommen, hetzte sie ihm hinterher in Richtung des Gletschers.

Kurz darauf brach sie außer Atem aus dem Waldrand hervor. Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben. Die Felsenebene lag in nahezu vollständiger Finsternis. Egal. Sie sprintete weiter, dem ausgetretenen Pfad nach, den sie gut genug kannte.

Wenige Minuten später war sie bereits an der steilen, in der Dunkelheit schwarzglänzenden, Gletscherwand angekommen. Keine Spur von Rikkert. Vorsichtig kletterte sie über die feuchten, glitschigen Steinblöcke zur Höhle hinab. Ein eisiger Hauch wehte ihr aus dem pechschwarzen Loch entgegen und verdrängte die deutlich wärmere Herbstluft.

„Rikkert? Bist du hier?" Ihre Stimme hallte von den Höhlenwänden wieder.

Keine Antwort. Mist. Wo war er nur?

Da sie ihn nicht eingeholt hatte, kam es auf ein paar Sekunden nicht mehr an. Kurz konzentrierte sie sich, um die Energie für einen simplen Zauber zu weben. Mit wenigen Gesten und einem Kribbeln in der Handfläche erschien dort eine leuchtend weiße Kugel. Die Umgebung tauchte sie in hartes kaltes Licht.

Die Körbe mit den Speisen stapelten sich unangetastet vor dem Eingang. Genauso wie sie ihn heute Abend verlassen hatten. Mit Bedacht stieg sie ganz hinunter und leuchtete in den eisigen Hohlraum.

Zu ihrer Überraschung endete dieser nicht nach ein paar Schritten. Das Licht ihrer Kugel reichte sicherlich zwanzig in einen schnurgeraden Tunnel hinein. Alles dahinter verbarg sich in undurchdringlicher Schwärze.

„Rikkert?" Sie erwartete keine Antwort und schlich durch den Eingang. Ihre Tritte hallten von den finsteren Eiswänden wider, auf deren Feuchtigkeit sich das Licht spiegelte, und vermischten sich mit dem Tropfen von Schmelzwasser.

„Rikkert, Rikkert, ..." Schallte ein fremdes Flüstern durch den Flur und verlor sich. Das war nicht ihr Echo.

Inzwischen war sie mindesten hundert Schritte in das Loch hineingelaufen. Etwas erregte ihre Aufmerksamkeit. Eine Reflexion im Eis rechts von ihr. Sie trat auf die glatte Eiswand zu. Eine menschliche Silhouette!

Mit klopfendem Herzen wischte sie mit dem Ärmel über das Eis und leuchtete mit ihrer Kugel hinein. Das erstarrte Gesicht von Liria blickte ihr mit aufgerissenen Augen entgegen. Erschrocken stolperte sie rückwärts und landete mit dem Hintern auf dem nassen Boden.

„Liria!" Ihre sich überschlagende Stimme hallte von den Wänden wider.

Das war sie! So wie sie ihre damalige Freundin in Erinnerung hatte. Was war das für ein Fluch? Ein helles Lachen echote durch den Gang.

„Was?" Sie schaute sich um. Da war niemand.

Ammi, Ammi, dumme Göre,

Im Herbst steigst du zu mir hinab,

Ins feste Eis zu mir herunter,

Spazierst in dein eisges Grab.

Das gehässige Flüstern schien keinen Ursprung zu haben.

„Nein! Hey! Zeig dich", rief sie. Ihre Stimme zitterte.

Erneut das fiese Lachen. Plötzlich leuchteten Eiswände von innen heraus in einem bläulichen Ton auf. Eine weitere menschliche Silhouette tauchte hinter dem Eis auf. Noch eine. Und eine weitere. Eine ganze Kette Eingefrorener!

„Nein! Was hast du getan?"

Sie rannte zur nächsten Gestalt. Ein vielleicht zehnjähriger Junge, den sie nicht kannte. Dann ein älteres Mädchen. Alle in der Bewegung eingefroren mit erstaunt aufgerissenen Augen.

Am Ende fand sie ihn: Rikkert. In seinen Schlafklamotten, als hätte ihn das Eis mitten im Sprint überrascht und schockartig gefroren.

„NEIN!" Sie kratzte mit ihren Fingernägeln über die glasharte, glatte Wand. „NEIN! Nicht Rikkert! Das darfst du nicht!"

„Ach, nein?", ertönte eine brüchige Stimme hinter ihrem Rücken.

Ihr Puls schoss in die Höhe, als sie herumwirbelte. An der gegenüberliegenden Eiswand – mitten im Eis – stand eine gebeugte Alte in grauen Gewändern auf einen knorrigen Stock gestützt. Sie lächelte, aber es war eiskalt ohne eine Spur von Freundlichkeit.

„Was ... Wer bist du?"

„Na wer schon? Murna. Willkommen in meinem Gletscher."

„Aber warum ...?"

„Ist doch egal. Willst du deinen süßen Bruder zurück?"

„Was? Ja!"

„Dann darfst du gerne mit ihm tauschen." Sie lächelte breit und zeigte ihre Zähne. Spitze Zähne. Wie die einer Fledermaus.

Ihre Gedanken rasten. Das machte alles keinen Sinn. Wenn dieser seltsame Geist es könnte, hätte sie sie längst eingefroren. Warum sollte sie extra fragen? Und tauschen? Auf keinen Fall! Am Ende fände sie sich neben ihrem Bruder wieder. Damit wäre niemandem geholfen.

Sie verschränkte ihre Arme und schüttelte ihren Kopf. „Nein. Keinesfalls. Ich glaube dir nicht ein Wort. Du hättest mich längst angegriffen, wenn du es könntest."

„Oh. Sieh an. Eine Schlaubergerin. Na, vielleicht überlegst du es dir ja noch."

Ansatzlos erlosch jegliches Licht. Es war stockfinster. Auch ihre eigene Leuchtkugel war verloschen. Das Lachen der Alten hallte von allen Seiten wider, danach kehrte Stille ein. Totenstille. Selbst das Tropfen des Wassers war verstummt.

„Hey!" Sie war eher verärgert als ängstlich. Die Macht des Geistes war offensichtlich begrenzt.

Das erneute Weben eines Leuchtzaubers funktionierte nicht. An diesem Ort gab es keine Energie. Er war bar jeder Magie.

So einfach gab sie nicht auf und bewegte sich zur eisigen Wand. Dann tastete sie sich vorsichtig nach rechts zum Ausgang. Die Richtung hatte sie sich gemerkt. Krachend schlug sie nach wenigen Schritten mit Kopf und Körper gegen eine Mauer und schrie vor Schmerz auf. Was zum Teufel war das? Eine Eiswand, die vorher nicht existiert hatte, knickte im rechten Winkel ab.

In den nächsten Minuten stellte sie fest, dass sie in einem rechteckigen Raum festsaß. Die Alte war scheinbar doch nicht ganz so machtlos, wie sie angenommen hatte. Mist. Was nun? Sollte sie nochmals mit dem Geist sprechen? Nein. Das führte zu nichts.

Langsam zog eisige Kälte in ihre Glieder. Die Temperatur in dieser Kammer war nahe dem Gefrierpunkt gefallen. Sie zitterte. Verdammt. Lange hielte sie das nicht aus. Wie sollte sie sich selbst und vor allem Rikkert befreien? Wenn sie auf das Angebot einging, wären sie garantiert beide verloren. Zauber ließen sich hier nicht weben. Die Wände nicht durchbrechen.

Sie gestand sich ein, dass ihre voreilige Rettungsaktion an dieser Stelle zu Ende war. Eventuell sogar ihr Leben. Oh Mann. Hätte sie nur ihre Eltern geweckt. Würde sie sie je wieder sehen? Käme hier demnächst ein weiteres unvorsichtiges Kind an und fände ihre gefrorene Leiche? Oder würde die Alte sie ebenfalls in die Wand verbannen, sobald sie tot wäre? Ging es dem Geist darum?

Ihre verzweifelten Gedanken drehten sich in Kälte und Dunkelheit im Kreis. Erneut kam ihr der Vers über Murna in den Sinn. Sie summte die Melodie leise vor sich hin.

Hm ... wie hieß es in der zweiten Strophe?

Murna, Murna, weise Dame,

Eingefrorn bis in alle Ewigkeit,

Bis ich dich entfessel,

In unendlicher Einigkeit.

Weise Dame? Entfesseln? Das klang vielversprechend. Sie sang diese Strophe vor sich hin. Nichts passierte.

Wie entfesselte man etwas aus dem Eis? Indem man es schmolz. Oder zerstörte. Hartes Eis war ähnlich brüchig wie Glas. Sie versuchte es nochmals in einer höheren Tonlage. Eine für Erwachsene unerreichbare. Intonierte bewusst die Klänge. Folgte der Klarheit in den Tönen und der wohlgeformten Melodie, ließ sich in der Dunkelheit treiben. Gab sich ganz den Versen hin.

Eine Gänsehaut lief über ihren Rücken, während sie weiter sang, breitete diese sich aus und erfasste ihren gesamten Körper. Das war es! Langsam spann sich ein hauchzartes Muster feinste Magie um die Klänge. Füllte die Lücken auf und verwob sich mit ihnen.

„NEIN!" Der schrille Schrei der Alten durchschnitt ihr Klangmuster. „LASS DAS!"

Sie ließ sich von dem weiteren Gekreische und Gekeife nicht irritieren. Bestätigte es doch, dass sie auf dem richtigen Weg war. Es zog durch ihren gesamten Körper. Inzwischen strahlte sie einen goldenen Schimmer aus. Auch die Silhouetten der Eingefrorenen leuchteten.

Einem Gefühl folgend stoppte sie nach dem letzten Vers. Magisch aufgeladene Energie knisterte. Eine schier unglaubliche Menge. Sie brutzelte durch den Raum, sprang als leuchtend gelbe Blitze wild durch die Höhle. Erneut konzentrierte sie sich und leitete gedanklich den mächtigen, gewobenen Zauber auf die Kinder in den Wänden um. So, wie sie es bei anderen Sprüchen gelernt hatte.

Krachend und berstend zerplatzten die Eiswände, die der sich schlagartig ausdehnenden Energie nicht standhielten. Bruchstücke flogen ihr um die Ohren. Sie wurde von der Wucht der Explosionen schmerzhaft durch den Raum geworfen, schlug mit dem Kopf gegen eine Wand und verlor das Bewusstsein.

„Ammi?" Rikkerts Gesicht schwebte über ihr, als sie ihre Augen öffnete. Ihr Schädel hämmerte, als bearbeiteten ihn Zwerge auf ihrem Amboss.

„Rikkert? Oh Brüderchen." Sie umarmte ihren geliebten kleinen Bruder in unendlicher Erleichterung. „Wir haben es geschafft?"

Erst jetzt sah sie sich um. Morgendlicher Sonnenschein beleuchtete die Szenerie, über die sich ein tiefblauer Herbsthimmel mit einigen Wolken spannte. Vögel flatterten vorbei. Die Energie des Zaubers hatte nicht nur die Körper befreit, sondern die gesamte Höhle explosionsartig gesprengt. Sie saßen in einer Art Eiskrater, den der Spruch in den Gletscher gerissen hatte.

Neben Rikkert standen sechs weitere Elfen unterschiedlichen Alters. Ihr Bruder war der jüngste, die älteste etwa Mitte dreißig. Sie redeten leise miteinander. In einem Gesicht meinte sie Liria zu erkennen, war sich jedoch nicht sicher. Das Mädchen hatte ungefähr ihr Alter. Später wäre genug Zeit zum Reden. Als Erstes mussten sie ins Dorf zurück.

Kurz darauf empfingen sie unendlich erleichterte Erwachsene. Die anderen sechs Befreiten waren bei ihren eigenen Eltern untergekommen. Zum Glück lebten diese noch, denn die älteste Entführung war erst 35 Jahre her. Der Dorfälteste vermutete, dass der Gletschergeist sich von der Lebensenergie der Gefangenen ernährt hatte. Aber warum sie ihm nicht zum Opfer gefallen war, blieb ein Rätsel. Eventuell hatte der magische Vers sie geschützt.

Das herbstliche Murnen-Fest begingen sie ab diesem Zeitpunkt nicht mehr.

↼⇁

„... und so ergab es sich, dass wir seitdem im Herbst das Amalien-Fest feiern. Bereits seit vielen Jahrhunderten", schloss sie ihre Erzählung.

Stille kehrte ein. Einige der Eltern warfen sich besorgte Blicke zu und fingen an zu tuscheln.

„Aber Valva", natürlich hatte Elris, der die ganze Zeit gebannt zugehört hatte, noch etwas einzuwerfen, „hier gibt es doch gar keinen Gletscher! Das kann nicht sein."

„Oh, der Gletscher und das Dorf in den Bäumen existieren schon lange nicht mehr. Auch die alten Sitten und Gebräuche sind in Vergessenheit geraten. Aber", nochmals beugte sie sich vor und sprach im verschwörerischen Tonfall, „wenn ihr euch jedoch in den Hain hinter dem Dorf begebt, den mit den uralten Kastanien, und aufmerksam lauscht ... könnt ihr noch heute die mächtige Melodie von Amalias Zauber vernehmen."

Jetzt kicherten sie alle.

„Murna, Murna, dunkle Mutter", intonierte Elris mit betont tiefer Stille.

„Sch ... still, Junge!", ihre flüsternde Stimme fuhr wie ein Peitschenhieb dazwischen. „Darüber macht man keine Scherze."

„So, ein Quatsch Valva. Das glaubt doch kein Kind", warf er großspurig ein und ließ sich nicht beeindrucken. „Und überhaupt. Sooo gruselig war das nun wirklich nicht."

Die Alte schüttelte den Kopf und erhob sich ächzend auf ihren Stock gestützt. „Wie du meinst, mein Junge. Ganz wie du meinst ..."

Langsam schlurfte die uralte Elfin zum Kamin und summte vor sich hin:

Valva, Valva, hohe Mutter,

Zum Frühling steig ich zu dir hinfort,

Ins steile Bergreich zu dir hinauf,

Bring frische Beute in dein Hort.

»»————- ★ ————-««

2. Platz beim "Fall in Love" Award von _MaliaFox_

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