Kapitel 10


--- Ihre Sicht ---

"Was ist denn?", rufe ich genervt und reiße meine Wohnungstür auf. Jemanden, der samstagmorgens um neun Uhr sturmklingelt, könnte ich erwürgen.
"Hey Az!", sagt der junge Mann und lächelt schief. Schlagartig klappt mir die Kinnlade runter.
"Was willst du hier?", rufe ich.
"Mit dir reden!"
"Vergiss es! Du hast deinen Standpunkt deutlich klargemacht und ich weiß, dass ich dir egal bin. Also hau ab!", schreie ich ihn an.
"Bitte, Az! Es tut mir leid, was passiert ist! Ich hätte nicht abhauen dürfen."
"Das hast du aber! Ich war dir scheißegal, Tim!", schreie ich meinen Bruder an.
"Hör zu, Az! Ich kann nichts dafür, dass ich bin, wie ich bin, ok? Und ich kann mich zwar dafür entschuldigen, aber ändern kann ich es nun mal nicht. Du konntest eben nicht mitkommen."
"Gegen die sieben Jahre Hogwarts sage ich ja auch nichts. Es geht um die Zeit danach. Du bist einfach abgehauen und hast mich alleine gelassen. Hauptsache, du kannst zu deinen Drachen nach Rumänien, nicht? Ich war gerade mal 15, als Mum und Dad gestorben sind. Und du hast nichts Besseres zu tun gehabt, als abzuhauen und mich genau dann alleine zu lassen, als ich dich am meisten gebraucht hätte!"
"Ich weiß, dass das falsch war! Aber ich war genauso am Ende wie du. Wie hätte ich dir helfen können, wenn ich nicht einmal wusste, wie ich mir selbst helfen kann? Bitte! Ich habe es satt, dass wir so tun, als gäbe es den anderen nicht."
"Warum ausgerechnet jetzt?"
"Ich ... Ich heirate. Und ich will, dass du dabei bist!", sagt er.
"Was?" Ich starre ihn an.
"Bitte! Ich will nicht, dass wir uns noch länger streiten! Vor allem jetzt, da Du-weißt-schon-wer wieder da ist. Ich mache mir Sorgen um dich. Und ich will nicht, dass dir etwas passiert! Bitte lass uns das, was passiert ist, vergessen. Ich weiß nicht, wie es weitergeht, aber irgendwann wird Du-weißt-schon-wer handeln und es wird Tote geben. Wenn mir etwas passiert, will ich nicht, dass wir uns vorher nur gestritten haben."
"Das sagt sich so leicht! Mir geht's zurzeit sowieso beschissen und jetzt auch noch du, das ist so viel auf einmal", sage ich leise. Er antwortet nichts, sondern nimmt mich einfach nur in den Arm. Zuerst will ich ihn wegstoßen, aber eigentlich hat er recht mit dem, was er sagt. Ich habe es genauso satt, so zu tun, als würde ich ihn noch hassen.
"Was ist los, Kleine?", fragt er und lässt mich los. Ich lasse ihn in die Wohnung und schließe die Tür, gegen die ich mich dann lehne.
"Ach, nicht so wichtig!"
"Wenn es dir dadurch beschissen geht, will ich wissen, was los ist", sagt er.
"Es ist nur wegen eines Typen! Ich dachte, dieses Mal wäre es anders, aber er war genauso wie die anderen auch."
"Ach so! Das geht wieder vorbei!", sagt er und nimmt mich wieder in den Arm. Ich klammere mich an ihn.
"Dasselbe sagt mir meine beste Freundin schon seit einer Woche und trotzdem wird es nicht wahr."
"Ich weiß, wie das ist! Aber irgendwann vergisst du ihn."
"Ich hoffe es! Ich verstehe nur nicht, was passiert ist. Er hat gesagt, er mag mich, aber zu sehr, um ... ", sage ich und muss wieder anfangen zu weinen.
"Schon ok! Wie heißt er? Den mache ich fertig." Ich lache kurz auf.
"Wie werde ich ihn nur wieder aus meinem Gehirn los?"
"Irgendwann schaffst du das schon."
"Hoffentlich! Sag mal, was machst du eigentlich bei deiner Arbeit? Das würde mich echt mal interessieren", frage ich ihn und löse mich von ihm. Vielleicht lenkt mich das ja von Charlie ab.
"Da weiß ich jetzt gar nicht, wo ich anfangen soll."
"Fang mit dem an, was passiert ist, nachdem du weggegangen bist, ok? Du kannst geradeaus in die Küche. Willst du einen Tee?"
"Gerne", sagt er lächelnd.



--- Seine Sicht ---

Zögernd nehme ich meinen Zauberstab in die Hand und stelle mir mein Ziel vor. Dann appariere ich nach London und finde mich kurz darauf vor meiner alten Wohnung wieder. Es sieht noch genauso aus, wie vor zwei Wochen, als ich nach Rumänien gezogen bin. Eigentlich habe ich nicht vorgehabt, so schnell wieder hierherzukommen. Genau genommen hatte ich es überhaupt nicht vor. Zumindest vorerst. Aber bevor ich ganz gefeuert werde, beuge ich mich lieber Keiths Willen, auch wenn es mir so gar nicht in den Kram passt. Was Az wohl gerade macht? Mist, ich wollte doch aufhören, an sie zu denken.


Immer schneller renne ich durch den dunklen Gang, während das Lachen rechts und links von mir immer weiter anschwillt. Am liebsten würde ich etwas gegen die Bilderrahmen werfen, aber hier gibt es nichts, außer den schwarzen Steinwänden und der Tür am Ende des Tunnels, die einfach nicht näher kommen will.
"Du bist so ein Versager!", schreit Julia.
"Schwächling!", lacht Lucy.
"Und so naiv noch dazu!", ruft Aria.
"Haltet die Klappe! Lasst mich in Ruhe!", schreie ich und renne wieder den Gang entlang.
"Ich verstehe einfach nicht, was Azure an dir findet! Sieh dir doch nur Bill an", ruft Lucy.
"Oder George!", fügt Aria hinzu.
"Oder Fred!", lacht Julia.
"Richtig! Neben Bill bist du ein Niemand!", sagt Scarlett und lacht.
"Ruhe jetzt! Ich habe es kapiert! Lasst mich in Ruhe!", schreie ich und renne immer weiter auf die Tür zu. Jedoch stolpere ich nach einer Weile und knalle auf den Boden.
Ich fahre aus dem Schlaf und muss mich erst beruhigen. Dann werfe ich einen Blick auf die Uhr und stelle fest, dass es erst drei Uhr morgens ist. Erschöpft lasse ich mich zurück auf mein Bett fallen und schließe die Augen. Wann hören diese Träume endlich auf? Seit ich Az zum letzten Mal gesehen habe, verfolgen sie mich beinahe jede Nacht. Ich muss wieder an den Moment denken, in dem ich sie fast geküsst hätte. Der Moment auf der Bank im Park.
"Das ist so wunderschön", sagte sie leise und sah mich an. Ich konnte meinen Blick nicht mehr von ihr wenden. Vor allem ihre Augen fesselten mich. Ihre Farbe ist einfach wunderschön. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Solche Gefühle hat noch nie jemand in mir ausgelöst. Ich ließ meinen Blick über ihr Gesicht wandern und blieb letztendlich an ihren Lippen hängen. Ich hätte sie wirklich unglaublich gerne geküsst, aber im letzten Moment erschien mir Scarletts Gesicht und ich musste an den Schmerz denken, den sie mir angetan hat. Was wäre, wenn Azure mir genauso weh tut. Noch einmal stehe ich das nicht durch. Also habe ich mich zurückgezogen und meinen Blick abgewandt. Ich habe das gleich beendet, bevor es überhaupt hätte anfangen können, um mir diesen Schmerz zu ersparen. Es ist besser, dass ich den Kontakt zu ihr abgebrochen habe, bevor ich mich richtig in sie verliebt hätte. So ist es am besten. Ich glaube, auch für sie ist es besser so. Wenn ich sie geküsst hätte und ihr dann gesagt hätte, dass ich nicht mit ihr zusammen sein kann, wäre es auch für sie schlimmer gewesen. Und das habe ich ihr damit erspart. Jedoch muss ich mich trotzdem immer wieder am Riemen reißen, um meine Entscheidung nicht zu bereuen. Deshalb habe ich auch so viele Überstunden gemacht. Ich wollte mich einfach selbst dazu zwingen, nicht so oft an Az zu denken. Aber ich kann es einfach nicht lassen. Ich kann nichts dagegen tun. Immer wieder taucht sie in meinem Kopf auf und lächelt mich mit ihrem Lächeln an, das mich einfach nicht 'nein' sagen lässt, das mein Herz immer schneller schlagen lässt, das sie immer aufsetzt, wenn sie etwas Bestimmtes haben will.
Aber sie hätte mir genauso weh getan, wie Julia, Aria, Lucy und Scarlett. Ich gebe meinen Traumgestalten recht. Ich bin einfach nicht so jemand, wie ihn sich eine Frau wünscht. Neben Bill bin ich schon immer nichts gewesen. Jeder hat immer nur auf ihn geschaut, die Mädchen in der Schule sind alle ihm hinterhergerannt, er ist es, den sie immer wollten. Mum und Dad sind so verdammt stolz auf ihn. Wegen seines Amtes als Vertrauensschüler und als Schulsprecher. Er hat alle Erwartungen übertroffen. Und als ich dann Vertrauensschüler wurde, war es keine so große Überraschung mehr. Das Einzige, das ich gut konnte, war Quidditch. Mehr nicht. 'Du bist so ein Versager!', klingt Julias Stimme in meinem Kopf wieder. Sie hat recht. Ich bin einfach nicht wie meine Brüder. Bill ist Mums Liebling, Percy hat einen super Job - wenn auch nichts, was etwas für mich wäre - und mit Abstand den besten Abschluss gemacht, Fred und George haben sich ein Scherzartikel-Imperium aufgebaut und verdienen sich dumm und dämlich daran. Und Ron? Von ihm fange ich erst gar nicht an. Vertrauensschüler, Hüter in der Gryffindor-Quidditch-Mannschaft, bester Freund von Harry Potter und mutiger, als ich es je sein werde. Logisch, dass ich da untergehe.
Und irgendwann hätte Az auch geschnallt, dass ich ein Versager bin. Und dann hätte sie sich auch jemand anderen gesucht. Ich seufze und drehe mich auf die andere Seite. Bevor ich wieder aufstehen muss, sollte ich wenigstens noch etwas schlafen.


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