25
Am nächsten Morgen ist Rue immer noch ganz aufgewühlt von dem Abend zuvor, an dem sie etwas mit Raven unternommen hat. Ihre Geschichte lässt Rue nicht los. Sie beschließt, in den Buchladen zu gehen, um etwas zu schreiben. Über Raven, über ihre Geschichte. Irgendwie. Es hat sie bewegt. Vielleicht würde sie das Gedicht Raven geben. Rue selbst hat keine Geschwister, doch es musste eine unglaubliche Verbindung zwischen Geschwistern geben. Das konnte Rue spüren, als Raven von ihren kleinen Zwillingsschwestern gesprochen hat. Sie konnte sich nicht ausmalen, wie schlimm Ravens Vergangenheit sein musste. Sie musste miterleben, wie ihre Familie zerbrochen ist. Sie war einfach weg. Von der einen auf die andere Sekunde. Sie konnte es jetzt kaum noch fassen. Rue hatte zumindest noch ihren Vater. Sie fragte sich, wie einsam Raven sich nun fühlen musste. Sehr einsam. Nachdem sie aufgestanden ist, holt sie sich ihr Skateboard und fährt davon. Als sie im Buchladen ankommt, begrüßt Harry sie freundlich. Sie setzt sich auf das kleine Sofa und beginnt sofort, all ihre Gedanken auf das Blatt niederzuschreiben. Es sind viele Gedanken. Am Ende versucht sie ein Gedicht daraus zu basteln.
"Schreibst du wieder, Rue?", lächelt Harry nach einer Weile, als er zu ihr kommt. Der restliche Laden ist leer. Wenn Harry anderweitig nichts zu tun hatte, setzte er sich gerne zu Rue.
"Ja. Mich lässt eine Geschichte einfach nicht los"
"Deine eigene?" , fragt Harry liebevoll.
"Nein, die einer Freundin"
"Darf ich fragen, was sie erlebt hat?" , fragt Harry.
"Ich weiß es nicht zu hundert Prozent, aber sie hat ihre Familie bei einem Brand verloren. Alle. Ihre Mutter, ihren Vater und ihre beiden kleinen Schwestern. Sie waren Zwillinge"
"Das muss schrecklich sein"
"Sie hat niemanden mehr. Ich habe wenigstens noch meinen Vater. Aber wie muss es sein, niemanden mehr auf der Welt zu haben?"
"Schrecklich. Ich kann es dir ganz genau sagen"
"Das tut mir Leid, Harry"
"Meine Tochter und ich haben uns vor langer Zeit zerstritten. Es war ein dummer Streit. Aber ich kann es nicht mehr rückgängig machen. Sie hat den Kontakt abgebrochen und ich bereue in meinem Leben nichts mehr, als das"
"Das tut mir sehr Leid, Harry. Kannst du sie nicht anrufen und um Verzeihung bitten?" , fragt Rue.
"Nein, sie ist vor einiger Zeit gestorben"
"Scheiße"
"Das kannst du laut sagen"
"Es tut mir so wahnsinnig Leid. Ich wünschte, ich könnte all das rückgängig machen"
"Ich auch. Ich habe sogar ein Enkelkind. Aber ich kenne es noch nicht einmal. Ich könnte ihren Mann kontaktieren, aber alle Nummern habe ich gelöscht. Ich schäme mich so"
"Menschen machen Fehler. Willst du dein Enkelkind denn kennenlernen?" , fragt Rue.
"Ja, aber es war ja der Grund für unseren Streit. Ich weiß nicht, ob der Vater des Kindes mich wiedersehen wollen würde"
"Wieso war das Kind der Grund für den Streit?" , fragt Rue.
"Naja. Sie ist sehr früh schwanger geworden von dem Mann. Ich wollte dass sie das Kind nicht behält. Ich mochte den Mann nicht besonders. Dachte, er täte ihr nicht gut und habe immer wieder versucht, die beiden zu trennen. Bis sie sich von mir getrennt hat" , erzählt er und ihm rollt eine Träne das Gesicht herunter.
"Hast du ein Bild von deiner Tochter?", fragt Rue vorsichtig. Sie weiß nicht, ob sie dies fragen darf. Sie weiß nicht, wie Harry darauf reagieren wird. Sie will sich Zeit lassen. Sich herantasten.
"Ja, ich habe ganze Fotoalben. Sie sind alle oben in meiner Wohnung"
"Wollen wir ein bisschen in Erinnerung schwelgen?" , fragt Rue, doch in diesem Moment kommt ein weiterer Kunde in den Laden, um den Harry sich kümmern muss.
"Tut mir Leid, ich muss mich um die junge Dame kümmern. Sie scheint etwas zu suchen"
Rue beschließt, ihrem Lieblingsmann einen Gefallen zu tun und nach dem Mann seiner Tochter zu suchen. Sie muss nur noch den Namen seiner Tochter oder den des Mannes erfahren, dann könnte sie im Telefonbuch suchen. Da Harry nun allerdings beschäftigt ist, beschließt sie, erst einmal aus dem Buchladen zu verschwinden, Wyn aufzusuchen und sich selbst auf die Suche zu machen.
*
"Wyn, du bist doch Harrys bester Kunde!" , platz Rue in das Zimmer ihres besten Freundes herein.
"Rue!" , schreit dieser.
Rue blickt das erste Mal von ihrem Zettel auf, den sie in den Händen hält und sieht ihren besten Freund mit einem anderen Mädchen in seinem Bett liegen.
"Oh." , erwidert sie.
"Ja, oh. Kannst du bitte gehen?", fragt dieser.
"Ja, ich komme später wieder" , erklärt sie und schließt die Tür hinter sich. Sie muss erst einmal durchatmen. Ist Wyn nicht mehr in sie verliebt? Kann es so schnell gehen? Wieso küsst er dieses andere Mädchen? Ist er jetzt mit der zusammen? Es schießen unendlich viele Fragen in Rues Kopf, die sie eigentlich gar nicht beantworten will. Dann macht sie sich eben allein auf die Suche. Sie wird Harrys Enkeltochter finden. Sie wird die Spuren der Vergangenheit auffinden und ihrem Freund eine Freude bereiten. Doch sie hatte noch nicht einmal einen Namen. Sie hatte gar nichts in den Händen und fragte sich in der nächsten Sekunde, wie sie ohne einen einzigen Hinweis etwas herausfinden sollte. Harry wollte sie nicht fragen, sie wollte, dass es eine Überraschung wird. Sie setzt sich in ihr Zimmer und grübelt eine Weile, bis Raven in das Zimmer kommt. Sie grinst bis über beide Ohren.
"Einen wunderschönen Tag wünsche ich dir, Rue" , lächelt Raven.
"Was ist denn mit dir passiert?" , fragt Rue lachend.
"Ich habe auf deinen Rat gehört"
"Auf welchen von meinen tollen Ratschlägen hast du denn gehört?"
"Ich habe Niv geküsst!" , kreischt sie aufgeregt.
"Echt? Und, wie wars?"
"Einfach nur toll, wunderschön" , erklärt Raven und erzählt ihrer Freundin vom restlichen Abend. Den Beginn lässt sie aus. Sie wollte, dass der schöne Teil des Abends in ihrem Gedächtnis bleibt. Sie wollte den Moment nicht versauen.
Nachdem Raven alles bis ins kleinste Detail geschildert hatte, beginnt Rue mit einer Frage.
"Sag Mal, weißt du, wie Harrys Tochter heißt?" , fragt Rue ihre Freundin.
"Nein. Warum willst du das wissen?"
"Er und seine Tochter haben sich vor langer Zeit zerstritten. Er möchte aber gerne seine Enkeltochter kennenlernen, weshalb ich sie gerne kontaktieren würde"
"Wieso macht er das nicht selbst?"
"Erstens: Er kennt seine Enkeltochter nicht. Und seine Tochter ist vor ein paar Jahren verstorben"
"Oh, das tut mir Leid. Vielleicht fragst du Mal in der Stadt herum. Vielleicht weiß da jemand was. Wieso fragst du nicht Harry selbst?"
"Wir haben darüber geredet, wurden aber unterbrochen. Und nun würde ich ihm gerne eine Freude machen"
"Ich würde vielleicht bei dem kleinen Cafe anfangen, in dem wir immer sind. Ich glaube, die ältere Frau und Harry sind ganz gut befreundet. Frag einfach Mal rum, irgendjemand weiß bestimmt etwas" , erklärt Raven freundlich.
"Danke, Raven. Du bist echt die Beste! Ich freu mich, dass wir inzwischen Freundinnen sind!"
"Ich mich auch, Rue"
Rue stürmt ganz aufgeregt aus dem Zimmer. Sie wollte unbedingt so schnell wie möglich den Ehemann von Harrys Tochter ausfindig machen, um darüber seine Enkeltochter ausfindig zu machen. Rue läuft noch einmal in das Zimmer zurück, um ihr Skateboard zu schnappen, und macht sich auf den Weg in die Stadt.
"Mist, verdammt!" , flucht Rue vor dem Cafe. Das Cafe ist schon geschlossen und macht erst am Montag wieder auf. An der Tür steht ein Schild, dass ein Familiennotfall vorgefallen ist und deshalb geschlossen ist. Rue hofft innerlich, dass es allen gut geht, aber ärgert sich auch ein bisschen. Die ältere Dame wäre so eine heiße Spur gewesen. Rue versucht es bei den anderen Geschäften , doch niemand scheint etwas von Harrys Tochter zu wissen. Es ist einfach zu lange her, dass sie hier gelebt hat. Es ist zu lange her, dass sie jemand gesehen haben könnte. Nur ältere Menschen könnten sie noch kennen, weshalb ihre einzig realistische Chance tatsächlich das Cafe wäre. Nach ein paar Stunden, die Rue in der Stadt verbracht hat, fährt sie enttäuscht zurück ins Internat und findet Raven im Zimmer vor. Dieses Mal sieht sie allerdings überhaupt nicht glücklich aus.
"Ist alles okay?", fragt Rue und Raven schüttelt den Kopf.
"Was ist denn passiert?"
"Ich habe dir doch von dem schönen Abend gestern erzählt"
"Ja, ist irgendwas passiert?"
"Nein, mit Niv ist alles gut. Aber davor ist etwas vorgefallen. Du kennst doch meine Freundinnen" , sagt sie und setzt die Freundinnen in Anführungszeichen.
"Ja?", fragt Rue vorsichtig.
"Ich bin gestern Abend zu ihnen, sie wollten einen Spieleabend machen. Eigentlich wollte ich erst gar nicht hin, aber Niv hat mich überredet. Dann bin ich dort aufgetaucht und das erste was sie machen, ist über Niv lästern. In meiner Gegenwart! Und sie wollten mir Alkohol andrehen, obwohl ich Nein gesagt habe. Ein paar Mal. Ich hab sie angeschrien, ihr den Mittelfinger gezeigt und bin gegangen"
"Und was ist daran so schlimm? Ich finde das genau die richtige Reaktion!"
"Was ist, wenn jetzt wieder die Gerüchte losgehen?"
"Waren die Mädchen das etwa mit den ganzen Gerüchten?"
"Keine Ahnung. Aber seitdem ich mit ihnen befreundet bin, gab es keine Gerüchte mehr über mich"
"Oh man Raven, das tut mir so Leid"
"Ich hab kein Bock, dass der ganze scheiß wieder von vorne beginnt. Aus meiner alten Stadt bin ich weg, weil dort alle über den Brand geredet haben"
"Hast du es denen den erzählt?"
"Nein, eigentlich nicht. Aber ich glaube, sie haben irgendwie- ich weiß selbst nicht wie, etwas darüber herausgefunden. In den Artikeln sieht man meinen Nachnamen. Da steht immer R. Und mein Nachname. Aber man kann es sich doch denken, wenn man mich kennt, oder?" , fragt sie nun schniefend. Rue holt ein Taschentuch und reicht es ihrer Freundin. Sie versucht sie zu trösten.
"Wir kriegen das irgendwie hin. Und wenn ich alle abmurksen muss, um sie zu vergraben"
Ein Lacher entfährt Raven. In diesem Moment klopft es an der Tür. Im nächsten Moment, ohne eine Antwort abzuwarten, geht die Tür auf und Wyn steckt seinen Kopf hinein.
"Rue, was-?", fragt er, doch weiter kommt er nicht, denn er erblickt Raven.
"Du störst!" , sagt Rue eindringlich. "Sorry" , erwidert Wyn und macht die Tür hinter sich wieder zu.
*
Nachdem Rue ihre Freundin getröstet hat, sucht sie Wyn auf.
"Was wolltest du vorhin?" , fragt sie. Sie spricht es unfreundlicher aus, als es sein sollte.
"Was ist eigentlich dein Problem, Rue?" , fragt Wyn daraufhin.
"Was, wieso?", fragt sie verdutzt.
"Ich hab dir meine Liebe gestanden. Du wolltest mich nicht. Nun versuche ich mich irgendwie abzulenken, aber wenn du mich mit einem anderen Mädchen siehst, wirst du eifersüchtig, blockst ab und wirst kalt. Warum?"
"Vielleicht habe ich einfach ein kaltes Herz"
"Nein, Rue! Das geht mir auf den Senkel. Sobald ich mich für jemand anderen interessiere bist du beleidigt. Aber dich soll ich auch nicht mögen. Was ist denn das für eine Einstellung?"
"Verdammt, ich kann meine Gefühle einfach nicht einordnen! Ich hab sowas einfach noch nie gefühlt"
"Das Problem ist dabei nur einfach, dass du mir immer wieder dabei wehtust. Denk da Mal drüber nach" , sagt er und verschwindet. Das ist der Auslöser. Rue nimmt den nächsten Bus und fährt zu ihrem Vater.
"Hey", ist das einzige, was sie sagt, als ihr Vater die Haustür öffnet. Er zieht sie in seine Arme.
"Wyn und ich haben uns gestritten."
"Worüber denn?" , fragt er.
"Ich bin zu eifersüchtig, aber gleichzeitig zu weit weg"
"Das musst du mir näher erklären" , sagt er und holt ein paar Erdnüsse, um sich mit Rue auf das Sofa zu setzen und eine ganze Weile mit seiner Tochter zu reden.
"Wie wusstest du, dass du Mama magst? Also, mehr als mögen?" , fragt sie nach einer Weile.
"Ich wusste einfach, dass ich mein ganzes Leben mit ihr verbringen will. Dass ich niemanden mehr mag, als sie. Dass sie die Schönste für mich ist. Alle anderen waren egal. Und sie ist immer bei mir. Hier" , sagt er und zeigt auf sein Herz.
"Ich konnte einfach nicht aufhören zu denken. Sie war immer die erste, der ich alles erzählen wollte. Sie war immer in meinen Gedanken. "
"So ähnlich geht es mir mit Wyn. Woher weiß ich denn, ob ich ihn liebe oder ob ich das nicht doch mit Freundschaft verwechsele?"
"Immer, wenn du die Person siehst, hast du ein Kribbeln im Bauch und bist ganz aufgeregt. Du kannst es gar nicht abwarten, die Person wieder zu sehen. Du sehnst dich nach ihr und würdest gerne jede einzelne Sekunde mit ihr verbringen"
"Ich glaube, ich muss einfach ein paar Personen fragen, was für sie Liebe ist. Meinst du, ich finde dann heraus, ob ich Liebe für ihn empfinde?"
"Lass dir nicht zu viel Zeit, meine Süße. Das Leben ist viel zu kurz, um sie ohne die Leute zu verschwenden, die du liebst"
"Ich muss wieder ins Internat zurück"
"Okay, lass dich nochmal drücken" , sagt er und umarmt seine Tochter.
"Ich hab dich lieb"
"Ich hab dich auch lieb" , sagt Rue und macht sich auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle, um ins Internat zu fahren und dann Niv zu befragen, was er für Raven empfindet.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top