t w o
Hier mischt man sich nicht in die Angelegenheiten anderer ein, hallten die Worte in meinem Kopf, wie eine Warnung.
Ich atme leise ein und aus, drehe mich um und betrachte den Jungen auf dem Boden. Seine dunklen Haare sind nass und kleben ihm im Gesicht. Ich kann nicht wirklich festlegen, ob es vom Blut oder Schweiß kommt. Seine Nase blutet nämlich ununterbrochen und er streicht mit schmerzverzerrtem Gesicht über die Spitze. Es sieht schief aus und ich befürchte fast, dass sie gebrochen ist.
Als könnte er meine Gedanken hören, murmelt er leise: „Fuck, gebrochen."
Langsam hebt er seinen Kopf und blickt mir in die Augen. Seine langen Wimpern sind beeindruckend. Ich halte ihm meine Hand hin, um ihm beim Aufstehen zu helfen, doch er ignoriert sie. Hasserfüllt blickt er mich an, steht dann mühevoll von allein auf und drängt sich ebenfalls an den vor uns stehenden Leuten vorbei. Geschockt sehe ich ihm nach.
Dankbarkeit sieht anders aus und ich notiere mir auf meinem imaginären Merkzettel, dass ich hier in Zukunft niemandem mehr helfen werde, wenn alle so auf eine rettende Hand reagieren.
Langsam bekomme ich das Gefühl, dass die erste Zeile bereits auf meinem leeren Blatt beschriftet ist und ich ahne, dass mir der Inhalt nicht gefallen wird.
Die Blicke meiner Mitschüler durchbohren mich, weshalb ich eine Gänsehaut bekomme. So viel Aufmerksamkeit am ersten Tag ist nie gut.
„Was glotzt ihr so?", zische ich und die Menge an Jugendlichen kommt langsam in Bewegung. Gemurmel bricht aus und Schritt für Schritt entfernen sich die Meisten von dem Schauplatz, aber nicht ohne mir einen letzten, stechenden Blick zuzuwerfen.
Ich blicke verlegen auf den Boden und seufze schließlich. Ob das wohl eine gute Idee war?
„Mutig. Aber auch unfassbar dumm", höre ich Mayas Stimme und sie stellt sich neben mich, während sie den Mitschülern tötende Blicke zuwirft. Eine Weile stehen wir schweigen nebeneinander, bis sie sich räuspert und mich dann anblickt.
„Du solltest dich wirklich nicht in die Angelegenheiten anderer einmischen, Raven", meint sie und schweift dann nachdenklich mit ihrem Blick über den Gang. „Das letzte Mal, als sich Angelegenheiten vermischt haben, endete es böse", fügt sie leise hinzu und ich frage mich, was sie damit meint.
„Ich kann doch nicht einfach dabei zusehen, wie jemand verprügelt wird", sage ich und sie zuckt mit den Schultern.
„Man gewöhnt sich daran, weißt du. Irgendwann ist es dir egal und du freust dich einfach nur darüber, dass es nicht dich getroffen hat", meint sie und ich sehe sie erschrocken an, doch sie erläutert ihre Aussage nicht.
„In welche Klasse gehst du?", fragt sie und ich halte ihr meinen Zettel vor die Nase, den ich per Mail von der Schulleitung zugeschickt bekommen habe.
Sie überfliegt ihn kurz und lächelt dann. „Wir haben einige Fächer zusammen. Das ist cool, ich sitze im Moment meistens alleine. Total ätzend, wenn der Lehrer einen allein sitzen lässt", lacht sie und ich lächele sie an.
‚Schritt eins; Finde eine Verbündete wäre' somit erledigt und ich kann diesen Punkt beruhigt auf meiner Liste abhacken.
Maya führt mich zu meinen Klassenzimmer und klopft leicht an die Tür, bevor sie diese öffnet und in den Raum lugt.
„Sorry, Mr. Moon. Frauenprobleme, Sie wissen schon", meint sie und zieht mich dann durch das Klassenzimmer.
„Miss Clark, Sie enttäuschen mich Tag für Tag", wird sie vom Lehrer getadelt und sie wirft ihm ein entschuldigendes Lächeln zu.
Daraufhin blickt der Mann auch mich an und mustert mich kritisch.
„Und Sie sind?", meine Hände werden feucht, als die gesamte Aufmerksamkeit auf mir liegt und ich mir vor der gesamten Klasse vorstellen muss.
„Mein Name ist Raven Anderson, Mister. Heute ist mein ersten Tag hier an der Middleton High School", sage ich langsam und atme erleichtert aus, als er schließlich nickt und mir deutet, mich zu setzen. Etwas, das sich trotz tausender Umzüge niemals ändern wird, ist meine Aufregung.
Ich gehe gerne zur Schule. Die meisten Leute blicken mich immer völlig schockiert an, wenn ich es ihnen offenbare, besonders andere Jugendliche. Aber wenn ich so meine Eltern betrachte, mit ihren unmenschlichen Arbeitszeiten, den finanziellen Sorgen von Strom bis zum Wasser, die erhöhten Ausgaben mit einem Kind, da merke ich, dass ich noch nicht bereit bin. Ich bin noch nicht bereit für die Erwachsenenwelt und ich bin noch nicht bereit, arbeiten zu gehen. Und deswegen gehe ich lieber zur Schule - der Ort, an dem ich im Grunde genommen nichts tun muss, außer meine Zeit abzusitzen und pünktlich ohne Überstunden beim Schulgong nach Hause zu gehen.
Das tue ich auch an diesem ersten Schultag, denn dadurch, dass die Sommerferien bereits seit über einem Monat vorbei sind, hinke ich hinterher - und das ziemlich stark, wie ich merke.
Ich seufze, als mein Klassenleiter noch die Hausaufgaben an der Tafel notiert und packe meine wenigen Sachen in meinen Rucksack.
„Das war wirklich ätzend", meint Maya und ich grinse sie an.
„Hast du einen Spind?", fragt sie mich und ich nicke, krame dabei nach dem vom Schulleiter verfassten Zettel.
„Nummer 173", meine ich und sie zuckt kaum merklich zusammen.
„Oh, okay", sie sieht mich nachdenklich an. „Ich zeige ihn dir."
Ich nicke dankbar und wir verlassen das Klassenzimmer und begeben uns auf den Gang. Es ist viel los und ich bin überrascht, wie viele Schülerinnen und Schüler die Middleton High besuchen. Ich war schon auf vielen großen Schulen, aber diese hier scheint alles zu übertreffen.
„Kennen sich hier die Leute untereinander?", frage ich an Maya gewandt.
Sie denkt kurz nach und zuckt dann mit den Schultern.
„Man kennt sich flüchtig - über eine Begegnung auf dem Gang oder auf einer Party. Aber nichts Inniges. Von vielen weiß ich nicht einmal die Namen, aber man kann sich trotzdem ab und zu mit ihnen unterhalten. Außer mein eigener Jahrgang, unser Jahrgang. Da kennt sich eigentlich jeder."
Ich nicke und lege einen Zahn zu, um hinter sie herzukommen.
„Nummer 173 war Adelines Spind", murmelt sie schließlich und ich schaue sie verwirrt an.
Als Antwort deutet sie auf einen Spind, dem wir uns nähern.
Er ist geschmückt mit Stickern und Post-Its, Bildern und kleinen Blumen.
Wir werden dich nie vergessen, Ade.
„Oh, der ist aber schön geschmückt. Wo ist sie denn? Ist sie auch umgezogen?", frage ich und deute auf die Nummer 173, die ab heute mir gehören soll.
Maya wirft mir einen dunklen Blick zu und seufzt schließlich.
„Nein, sie ist nicht umgezogen. Adeline Carter wurde diesen Sommer umgebracht."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top