Alexanders Erkenntnis
Es war ein amüsanter Abend.
Pix' Wohnzimmer stand völlig auf dem Kopf, doch das interessierte keinen von uns so richtig. Nach der erfolgreichen Probe hatten wir uns bei ihm getroffen, um den Abend ausklingen zu lassen. Die harte Arbeit in den letzten Wochen zahlte sich aus. Allmählich lief alles in den Bahnen, in der wir es haben wollten, aber nicht nur das hob die Stimmung der Jungs enorm.
5. März lief als Hintergrundmusik bei der Werbevorschau eines namhaften Fernsehsenders. Der Song hatte es sogar in die Top 10 der Deutschen Singlecharts geschafft und auch unser frisch erschienenes Album war im Vormarsch. Es hätt nicht besser laufen können und diese Tatsache motivierte uns alle gleichermaßen.
Ich genoss das letzte Stück meiner Pizza und verfolgte amüsiert den Streit zwischen Achim und Jürgen um den Controller der Spielekonsole. Pix sprang unterdessen jubelnd auf, denn er hatte die Spielerunde für sich gewonnen, weil die beiden anderen sich nicht einig wurden.
Dominik streckte die Füße auf den Couchtisch und las in einem alternativen Musikmagazin, während er die Songs der beigefügten CD durchzappte.
Alexander hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht und nippte an seinem Bier. Er schien etwas geistesabwesend, während er Dodo dabei zusah, wie dieser die Pizzakartons stapelte.
Ich legte den letzten Bissen meiner Pizza zur Seite, rückte zu Alex auf und stieß ihn an.
„Du bist am Träumen!"
„Nur in Gedanken vertieft", antwortete er mit seinem charmanten Lächeln.
„Wir sollten uns demnächst nochmal wegen der Bühnenshow zusammensetzen."
Ich nickte nur. Das Konzept, das wir erarbeitet hatten, war schon ganz gut, doch auch ich hatte im Nachhinein vereinzelt neue Ideen gehabt und das wäre die Gelegenheit, sie einzubringen.
Dodos Handy klingelte und er kletterte über Dominiks Beine und verschwand aus dem Wohnzimmer, weil ihn die Musik störte.
„Und danach sollte wir einen Termin mit Pignon von A.I.M. Abmachen zum Vorspielen", sagte ich und erhob mich, um die Pizzakartons wegzutragen, wurde jedoch von Dodo unterbrochen.
Er war ins Wohnzimmer gestürmt, hatte unter Proteste die Stecker von Anlage und Fernseher gezogen und strahlte uns an. Sogar die Fluchtirade von Achim und Pix prallten an ihm ab und er mahnte sie zur Ruhe.
„Da war gerade Herr Dippel am Telefon", sagte er und die Jungs verstummten augenblicklich bei der Nennung des Managers. „Unser Song ist auf Platz 1!"
Das Geschrei der Jungs machte mich fast taub. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Sie fielen über mich her, als sei es allein mein Verdienst. Schlossen mich in die Arme und klopften mir auf die Schulter, während ich gar nicht richtig begreifen konnte, wie mir geschah. Alle plapperten durcheinander, lachten, gratulierten und Dodo kam mit einer Flasche Sekt aus der Küche und lies den Korken knallen. Es war einfach unglaublich! Nach so vielen Jahren in der Musikbranche hatte ich mich damit abgefunden, dass meine Art von Musik hauptsächlich Anklang in der Schwarzen Szene fand. Meine Werke waren zu schwer, zu kritisch und manchmal auch zu morbide für den Mainstream.
Natürlich war 5. März anders gewesen, doch mit einem Nummer-eins-Hit hatte auch ich nicht gerechnet.
Eine schwere dunkle Vorahnung legte sich über mein Gemüt. War dies das Ende meines Szenedaseins? Wie viele Fans würden mich nun aus Boykott ablehnen, jetzt da ich zu ‚kommerziell' war?
Ich wäre bei weitem nicht der erste Künstler, dem ein Chart Hit das Genick brach. Dabei wollte ich von Anfang an nur meine Musik machen.
„Jo?!"
Ich wandte mich zu Alex um. In seinem Gesicht stand Freude und Stolz und er hatte die Arme ausgestreckt. Mein Herz klopfte aufdringlich und ich ließ mich gerne in seine Umarmung ziehen.
Ich verharrte einige Sekunden länger in seinen Armen als bei den anderen. Legte meinen Kopf auf seine Brust, schloss die Augen, sog seinen herrlichen Duft ein und lauschte den gleichmäßigen Schlägen seines Herzens. Es war ein magischer Moment für mich und erst, als mir ebendies bewusst wurde, löste ich mich von Alex. Unsere Blicke begegneten sich. Ich sah in diese wunderbaren braunen Augen, die noch immer voller Glück strahlten.
Etwas war anders an seinem Blick. Ich konnte bloß nicht sagen, was.
„Jetzt stoßen wir erst 'mal an!", Dodos Stimme riss mich zurück in die Realität.
Ich schenkte Alexander ein schüchternes Lächeln, schlug die Augen nieder und löste mich von ihm. Matthias füllte unterdessen die Gläser und wir stießen klirrend an.
„Kann's jetzt noch besser werden?", fragte Pix in die Runde.
„Warte ab, bis du deinen Kontoauszug am Ende des Monats siehst!", sagte ich und grinste spitzbübisch. „Die Bonuszahlungen von A.I.M. sind nicht zu verachten!"
Die Jungs lachten und Alex fügte hinzu: „Damit wäre das nächste Ziel doch klar, oder? Platz 1 bei den Albumcharts!"
„Das wird ein Klacks!", feixte Achim.
„Wäre doch gelacht, wenn wir das mit Joanne nicht auch schaffen!", meinte Jürgen zwinkernd.
„Erst einmal", mahnte Dominik, „steht jetzt die Tour an!"
„Domi hat Recht! Bleiben wir realistisch", spach Alex und leerte sein Glas in einem Zug. „Zunächst jedoch gehen wir den Erfolg feiern!"
Und in diesem Punkt waren wir uns plötzlich wieder alle einig.
Da stand er nun vor der Wohnungstür. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend war er zurückgekehrt, fast schon widerwillig. Doch wenn er sich an die letzten Wochen – an die letzten Monate erinnerte – da fiel ihm auf, dass dieses Gefühl kein neues Phänomen war.
Er fühlte sich schon lange nicht mehr wohl zu Hause. Er würde es zweifellos auch nicht sein zu Hause nennen, wenn er eine andere Option gehabt hätte. Doch Alexander hatte keine weitere Option.
Er war alleine in dieser Stadt. Seit vielen Jahren schon. Seine Eltern waren bereits verstorben und die einzige lebende Verwandte, die er kannte, war eine Tante in Norddeutschland, zu der er noch nie Kontakt gehabt hatte. Von den vielen Leuten, die ihn täglich umgaben, nannte er niemanden seinen Freund – niemanden außer Pix natürlich. Eine schmerzliche Lektion in der Vergangenheit hatte ihn gelehrt, sparsam mit Vertrauen zu sein.
Es war eine messerscharfe Lektion gewesen, die all seine Hoffnung, all seinen Glauben an eine gute heile Welt mit einem gezielten Schnitt zertrennt hatte. Es war eine Lektion gewesen, dessen Verse er selbst verfasste vor langer Zeit, und deren Reaktion gleichermaßen wie ein Bumerang zu ihm zurückgekommen war, als er es am wenigsten erwartete; als er es am wenigsten gebrauchen konnte und sie hatte mit einem Male alles zerstört, was ihm in diesem Leben wirklich wichtig gewesen war.
Er sah hinab auf seine Hand, die krampfhaft den Schlüssel der Wohnung umklammerte, und fixierte die beiden, silbern glänzenden Ringe an seinem Finger. Ein einziger Einschnitt in seinem Leben hatte ihn gleichzeitig aller Dinge beraubt, die ihm je etwas bedeutet hatten: seine Frau, sein Kind, seinen Freund, seine Band und sein Vertrauen.
Und seit dieser Zeit war er alleine, zumindest emotional.
Alexander zögerte. Er wusste, dass sie da war. Er konnte den Fernseher im Wohnzimmer hören und wo sollte sie sonst auch sein um diese Uhrzeit. Jessica war nur dann fort, wenn sie von ihrer Modelagentur gebucht wurde und das war inzwischen immer seltener der Fall. Sie wurde nun einmal auch älter und irgendwann würde der Zeitpunkt kommen, an dem sie beide sich fragen mussten, was ihnen noch blieb.
Sie verband nichts, nichts außer ihrem Pakt, doch mit jedem Jahr, das er mit Jessica verbracht hatte, mit jedem weiteren Jahr, hatte er sich mehr an ihrer Art gestört. Ihre Arroganz, ihrer Kaltherzigkeit und nicht zuletzt ihrer Überheblichkeit, mit der sie allen anderen Menschen begegnete.
Er hatte schon lange mit dem Gedanken gespielt, sie zu verlassen. Getrennte Wege zu gehen und sich damit abzufinden, alleine zu sein. Er war es mit ihr doch auch. Dass Jessica bei ihm wohnte, dass sie ein Bett teilten und ab und an gemeinsam zu Abend aßen, war nichts anderes als Selbsttäuschung – all die Jahre schon.
Er hatte es hingenommen, weil er geglaubt hatte, dass ihre Abmachung die beste Lösung für ihn wäre. Er hatte es akzeptiert, weil sie so etwas wie einen stillen Vertrag hatten, da sie beide dasselbe gesucht hatten: Gesellschaft und Sex, doch nun war er all dies leid geworden.
Alexander war es leid, sich selbst zu belügen. Er war es leid, sich mit Jessica zu streiten, und er war ihre Lieblosigkeit leid.
Er lehnte müde die Stirn gegen die Wohnungstür und schloss die Augen für einen Moment. Seine Kiefer waren fest aufeinandergepresst, als ihn all diese Gedanken wieder heimsuchten.
Er sehnte sich nach Liebe. Sehnte sich nach einer Frau, die sich für ihn interessierte, die sich um ihn sorgte und die an seiner Seite war: loyal und treu.
All das würde er bei Jessica nie finden – das hatte er bereits zuvor gewusst, doch damals hatte er auch geglaubt, darauf verzichten zu können.
Alexander atmete tief durch und richtete sich wieder auf. Es gab einen Ausweg aus seiner verfahrenen Situation. Nach all dem, was geschehen war, war wieder ein kleines bisschen Hoffnung in ihm. Die Hoffnung auf eine zweite Chance, doch bevor er diese ergreifen konnte, musste er zunächst diese eine bittere Sache zu Ende bringen.
Das Schloss klickte und er trat ein. Die Tür fiel leise hinter ihm zu, doch er war nicht unbemerkt geblieben. Als er hinüber zum Wohnzimmer ging, hatte Jessica sich bereits erhoben. Sie lächelte aufreizend und ihm war sofort klar, dass sie etwas von ihm haben wollte. Jessica war nie grundlos freundlich.
„Ich hab' schon auf dich gewartet!"
Sie trug nur einen Morgenmantel aus einem seidigen Stoff und darunter nichts, wie er sogleich feststellen konnte. Sie hatte ihr langes blondes Haar in den Nacken geworfen und die Schlaufe um ihre Taille gelöst.
Ihr Anblick brachte ihn kurz aus dem Konzept, doch im nächsten Augenblick besann er sich wieder.
„Lass uns 'rüber ins Schlafzimmer gehen", säuselte Jessy und nickte mit dem Kopf in die Richtung.
Sein Blut begann heftig in seinen Adern zu pulsieren, doch Alex zwang sich, ihr nur in die lieblosen Augen zu sehen und schüttelte den Kopf. Jessica schien irritiert. Das Lächeln auf ihrem Gesicht gefror.
„Nein?" Ihre Stimme klang ungläubig und doch war sie einige Nuancen kälter geworden.
Alexander atmete tief durch und als er auf sie zuging, erschien das selbstzufriedene Lächeln wieder auf ihrem Gesicht. Er hob die Hände auf Brusthöhe, ergriff den Morgenmantel an beiden Seiten am Revers und bedeckte Jessicas Körper mit dem Stoff, bedacht darauf, sie nicht mehr zu berühren, als es notwendig war.
„Ich will, dass du ausziehst, Jessy!"
Das überhebliche Lächeln war mit einem Mal aus ihrem Gesicht gewischt worden und nun zeigte Jessica wieder ihr wahres Antlitz.
„Wie bitte?", fauchte sie, entriss sich seinem Griff und band sich den Morgenmantel um ihre Hüfte fest. „Das ist nicht dein Ernst?!"
„Doch." Sein Ton war leise und sachlich und er hatte Jessys Blick nicht gemieden.
Ihre Gesichtszüge verzogen sich zu einer wütenden Fratze, während sie um das Sofa herum stapfte, ohne Alexander aus den Augen zu lassen.
„Wegen diesem Flittchen, oder? Mein Gott, bist du tief gesunken Alex!"
„Das lass in Zukunft meine Sorge sein", antwortete dieser trocken.
„Du bist so erbärmlich!"
„Pack deine Sachen und geh zu Sonja. Den Rest kannst du morgen abholen."
„Arschloch!", rief sie ihm ins Gesicht und verschwand im Schlafzimmer.
Diese Worte hätten ihn treffen können, wenn sie nicht aus Jessicas Mund gekommen wären, denn von ihr war er weitaus Schlimmeres gewohnt. Und als endlich die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, war ihm, als wäre ihm ein tonnenschweres Gewicht von den Schultern genommen worden, und zum ersten Mal seit Monaten war er wieder froh, zu Hause zu sein: alleine.
Ich war leicht angesäuert. Der Grund dafür lag auf der Hand: Alexander war wieder einmal zu spät. Wir hatten keinen wichtigen Termin. Wir drei wollten lediglich etwas zusammensitzen und plaudern, doch Alex' Unzuverlässigkeit machte mich rasend.
Ich versuchte, es mir Jochen gegenüber nicht anmerken zu lassen, erst recht nicht, als Alex endlich zu uns stieß.
„Servus!", seine Stimme klang müde und matt. „Sorry, dass ich zu spät bin. War 'ne turbulente Nacht."
„Das sieht man", sagte Pix nüchtern.
Alexander ließ sich auf den Stuhl fallen und winkte Susanna herbei, um sich einen Kaffee zu bestellen. Ich mied seinen Blick, weil ich verärgert war, und ich dazu noch befürchtete, dass ich mir nun auch noch die Bettgeschichten der beiden Jungs anhören musste.
„Was ist passiert?", fragte Pix, nachdem Alex bestellt hatte, weil er seinen Freund besser kannte als ich.
„Ich hab' Jessy gestern rausgeschmissen. Sie packt g'rad ihre Sachen zusammen."
Ich sah zu ihm auf. Unsere Blicke begegneten sich. Meine Wut war wie weggeblasen und wurde augenblicklich in aufrichtiges Mitleid verwandelt.
„Das tut mir leid!", sagte ich ehrlich.
„Das muss dir nicht leidtun!", meinte Alexander mit einem bitteren Lächeln.
„Das muss dir wirklich nicht leidtun", bestätigte Pix, „ich glaube, das war die beste Entscheidung, die du in den letzten Monaten getroffen hast."
„Vielen Dank für dein Vertrauen, Pix", sagte Alex amüsiert.
„Gerne, dafür sind Freunde doch da."
Ich beobachtete Alexander noch während des Gespräches unauffällig. Er sah müde aus, aber nicht mitgenommen. Ich war ein bisschen überrascht, wie kalt ihn diese Trennung offensichtlich ließ, doch wenn ich darüber nachdachte ... Jessica war, so wie ich sie kennen gelernt hatte, keine Person, von der ich dachte, dass man sie vermissen würde.
Alex hatte allem Anschein nach dieselbe Eiszeit erlebt, die mein Herz vor Monaten gefroren ließ. Doch einen großen Unterschied gab es zwischen unseren Trennungen – und da war ich mir nun sicher: Bei Alexander hatte scheinbar keine Liebe mitgemischt.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top