.:71:. Nähe und Geborgenheit

Zutiefst ergriffen beobachtete Marjan seinen Sohn dabei, wie er seine Frau in den Armen hielt und tonlos weinte. Eleasar weinte sonst nie. Nicht ein einziges Mal in den Jahren nach ihrem Verschwinden hatte er eine Träne vergossen. Doch nun, wo sie wieder da war und an ihren eigenen Unsicherheiten und Schuldgefühlen zu zerbrechen drohte, ließ er seine Gefühle zu.

Rias Augenlider flatterten, als sie aufwachte und zu ihrem Mann aufsah. Marjan erschrak zuerst über ihren leeren und stumpfen Blick, bis er sich an Eleasars Worte erinnerte. Ria war ja blind.

Erkenntnis huschte über ihr Gesicht, ehe sie sich ein wenig umständlich aufrichtete und ihren Mann in ihre Arme zog. Wortlos hielt sie ihn fest, war einfach nur für ihn da.

Erneut kam der Vampir nicht umhin, sich über die innige Verbindung der beiden zueinander zu wundern. Ungeachtet der vergangenen Trennungsjahre waren sie füreinander da und spendeten einander Trost und Halt. Je länger sie einander festhielten, desto sicherer wurde er sich, dass nichts und niemand die beiden auseinander bringen konnte. Mit der langen Trennung und den veränderten Umständen würden sie ebenso fertig werden wie mit ihrem verlorenen Augenlicht. Nur brauchten sie Zeit und Ruhe. Er war entschlossen alles in seiner Macht stehende dazu beizutragen, um sie ihnen zu geben. Seine Kinder hatten dieses Glück verdient.

Nach einer Weile sah Ria auf und wandte ihm ihre Aufmerksamkeit zu, ihre ungewohnt stumpfen Augen fixierten ihn. Irgendwie unheimlich, dass sie ihn trotz ihrer Blindheit noch so genau wahrzunehmen schien. „Danke", flüsterte sie erstickt. „Danke, dass du für meine Lieben da warst."

Er nickte andächtig. Dann fiel ihm ein, dass sie das ja nicht mehr sehen konnte. „Dafür ist Familie da. Leb dich schnell ein und mach sie wieder glücklich."

Entschlossen nickte sie. „Ich habe nichts anderes vor." Abschätzend musterte sie ihn mit stumpfen Blick, ehe sie feststellte: „Das ist aber nicht der Grund, weshalb du hier bist. Wie spät ist es?"

„Kurz vor Sonnenaufgang", kam es von Eleasar, der sich wieder gefasst hatte. Als würde sie wieder verschwinden, wenn er sie nicht festhielt, zog er sie zurück in seine Arme. Glücklich machte Ria es sich auf seinem Schoß bequem. Das war seit jeher ihr Lieblingsplatz. Nirgendwo fühlte sie sich wohler und geborgener als in seinen Armen.

Nicht minder glücklich und zufrieden legte er seine Arme um sie, dann sah er seinen Vater erwartungsvoll an. Seit Rias Verschwinden hatte sich ihr Verhältnis gebessert und war offener geworden. Es basierte nun weniger auf Macht, sondern mehr auf Einverständnis und gegenseitiger Unterstützung. Nie hätte er gedacht, dass das jemals möglich wäre.

Marjan wirkte unglücklich, als er sagte: „Die Nachricht von Rias Rückkehr verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Überall brechen Spekulationen über ihren Verbleib und die Dauer ihrer Abwesenheit aus. Sämtliche Höflinge der Nähe verlangen nach einer Stellungnahme und viele Vertreter von außerhalb senden Schreiben mit der Bitte um Nachricht. Heute Nacht haben einige versucht in den Garten zu gelangen, um einen Blick in eure Wohnung werfen zu können."

Ria schauderte und Eleasars Miene verfinsterte sich augenblicklich. „Ich werde verstärkte Wachen anordnen. Es hat sie nicht zu interessieren, ob meine Frau wieder da ist oder nicht."

Behutsam legte Ria ihm eine Hand auf die Brust. Sie hatte das untrügliche Gespür, dass Eleasar zu einer überfürsorglichen Glucke mutierte, wenn sie dem nicht schnellstmöglich Einhalt gebot. „Ich habe nicht vor, mich zu verstecken. Gib mir Zeit, mich an Dinge wie Orientierung und Etikette zu gewöhnen, dann werde ich dir nicht mehr von der Seite weichen und dich zu jeder noch so kleinen Veranstaltung begleiten." Sobald die Nachricht vollends bei Eleasar angekommen war, wandte sie sich an ihren Schwiegervater. „Leistet ihr uns beim Essen Gesellschaft? Ich könnte ein wenig Hilfe bei der Tischetikette gebrauchen."

Ihr Vorschlang fand Anklang. Bevor Marjan den Raum verlassen konnte, erkundigte er sich bei seinem Sohn, was er den Neugierigen sagen sollte. „Ich werde keine Fragen zu meinem Privatleben beantworten", erklärte dieser sofort. „Sobald Ria sich an das Leben hier gewöhnt hat, möchte ich einen Tag Auszeit. Bis dahin brauche ich Zeit, sie auf den neuesten Stand zu bringen."

Auf den Zügen des Vampirs malte sich ein zufriedenes Lächeln ab. „Ich werde es weiterleiten." Er horchte kurz in die Wohnung und fragte dann: „Wie wollt ihr es mit Eilean halten? In der Schule wäre sie vielen Fragen ausgesetzt. Das war sie gestern schon."

Eleasar wirkte ratlos, Ria hingegen schnaubte verständnislos. „Was für eine Frage. Sie bleibt natürlich hier. Es wäre verantwortungslos, sie dahin zu schicken."

Ihr Schwiegervater seufzte schwer. „Ich sagte doch, sie sind sich ähnlich", bemerkte ihr Mann schmunzelnd.

Irgendetwas über Gene vor sich hin murmelnd verschwand der Vampir aus dem Raum. Zurück blieben Ria und Eleasar, die einen Moment schweigend dasaßen. Dann ließ Elea sich nach hinten aufs Bett fallen und zog seine Frau mit sich. „Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie glücklich ich bin, dich endlich wieder bei mir zu haben."

Mit einer Hand tastete sie nach seinem Herzen. „Das brauchst du auch gar nicht. Ich kann es spüren."

Zutiefst berührt hob er ihr Kinn leicht an und küsste sie zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren wieder unendlich liebevoll auf den Mund. Ihre Lippen waren noch weicher, als er es in Erinnerung hatte.

Ebenso sanft erwiderte sie seinen Kuss. Als sie sich voneinander lösten, war ihr, als schwebe sie auf Wolken. „Wow", flüsterte sie gerührt und versuchte sich einen weiteren Kuss zu stehlen. Leider erwischte sie seine Nase. „Ach, Mist", brummte sie enttäuscht. Das hatte sie sich etwas anders vorgestellt.

Lachend gewährte ihr Mann ihr einen weiteren Kuss. Für ihn war es eine ungemeine Erleichterung, dass sie seine Nähe zuließ. Zwar war ihm bewusst, dass sie einander nach all der Zeit erst wieder neu entdecken mussten, doch hatte er nicht damit gerechnet, dass es sich so leicht und gut anfühlen würde. Nicht nur ihn schien dieser Umstand euphorisch zu stimmen, denn seine Frau wirkte auf einmal unglaublich gelöst und entspannt. Vielleicht war das ja der Schlüssel dazu, ihr all die negativen Gefühle auszutreiben. Sie stimmte in sein Lachen ein, ehe sie ohne Vorwarnung aufsprang und prompt vor die Wand lief. „Au!" Frustriert schlug sie gegen das Mauerwerk. „Hier war doch vorhin noch die Tür!"

Eleasar musste sich auf die Lippen beißen, um nicht erneut zu lachen. Darauf bedacht, sich nicht zu schnell zu bewegen, trat er hinter sie und griff nach ihrem Kopf, um ihn zu inspizieren. Nichts passiert. Bis auf eine kleine Beule, die sich erst später zeigen würde, war sie unversehrt davon gekommen. „Zwei Schritte weiter links", erklärte er ruhig und beobachtete amüsiert wie sie andächtig zum Türrahmen schlich und vorsichtig die angelehnte Tür aufstieß. Noch ehe er fragen konnte, was sie beabsichtigte, rief sie schon „Halt! Eilean, du bleibst hier!" und lief in Richtung Wohnzimmer davon. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als ihr auf den Fersen zu folgen und sie auf im Weg stehende Gegenstände aufmerksam zu machen.


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