6 ☾ SIE
Mit meinen Händen schiebe ich mir die letzten Hindernisse zur Seite. Der Wald scheint mir auf einmal weit weg, nur diese Pflanzen neben mir, durch die ich beinahe schwimme. In diesen natürlichen Bewegungen fühle ich mich unglaublich frei, vergesse für einen kleinen Augenblick, wo ich bin, bis ich auf dem Pfad ankomme. Es ist so ruhig, friedlich, als wäre ich woanders. Fast wie daheim.
Doch der Anblick dieses Weges sowie dieser Hütten und Häuser sagt mir, dass ich immer noch hier bin.
Wo auch immer dieses Hier ist.
Ich folge dem Weg und versuche dabei alles in mich aufzusaugen, diese Gegend kennenzulernen.
Vielleicht können sie nichts dafür, dass es hier so trocken ist. Weiter vorne sticht eine größere Hütte heraus und rückt in mein Sichtfeld. Dort wohnt sicherlich eine große Familie gemeinsam mit vielen Tieren. Ganz bestimmt. Wenn ich Glück habe, treffe ich jemanden an. Mit jedem Schritt – jeder schneller als der zuvor –, dem ich mich dieser Hütte nähere, wächst meine Freude. Doch nicht nur die, ... auch Zweifel steigen in mir hoch.
Kommunikation ... Auf welche Art und Weise? Ich und Sprechen?! Obwohl mir kein plausibler Grund einfällt, warum es so ist, wie es ist, wohl eher nicht. Schreiben?! Es macht den Eindruck, dass die Menschen hier nicht gerne schreiben. Oder können sie es nicht? Zumindest fehlt es an den passenden Utensilien. Mein Blick gleitet an mir selbst hinunter. Dorthin, wo mein Gewand nun faserig ist. Bei Frederik musste ich mein Gewand zerreißen! Den Ruß seiner Feuerstelle musste ich als Ersatz für Tinte nutzen. Ich hoffe nur, dass er des Lesens mächtig ist.
Obgleich vieles auf den ersten Blick ähnlich scheint, ist es so anders hier.
Je näher ich dem Gebäude komme, desto mehr zeigt es sich in dessen wahrer Gestalt. Daheim gäbe es so etwas nicht. Keine Löcher. Nicht in den Häusern, nicht in den Wegen. Doch hier ist kaum eine der Wände heile, es rieselt allein beim Hinschauen daran hinunter ... Ob ich dort wirklich jemanden antreffe?
Was mache ich nur hier? Wieso bin ich hier?
Vor dem Haus bleibe ich stehen und halte mich an der Grundstücksbegrenzung fest. Es war ganz sicher einmal schön mit einem prächtigen Garten. Doch heute ... scheint es ein vernachlässigter Haufen aus Steinen zu sein ... Zudem ist hier augenscheinlich niemand mehr.
Der Weg kommt mir endlos vor. Kaum ein Geräusch durchbricht die Stille, die mich umgibt und es unerträglich werden lässt.
Rechts oder links?, frage ich mich, als ich an einer Abzweigung stehe. Auf meine Augen und mein Gefühl – meine Wahrnehmungen achten.
Rechts sieht es – anscheinend geht das – noch trostloser aus, von links dahingehend strömt mir eine Wirkung entgegen, als würde dieser Ort gerade aufwachen. Einen Hauch Frische in der Luft und dazu einen zwitschernden Vogel geben mir das Gefühl, mich nach links zu begeben.
Es ist wohl kein Reinfall gewesen. Nach kurzer Zeit schon sehe ich eine Person. Mein Herz hüpft vor Freude, weil ich schon Sorge hatte, dass es hier nur Frederik und die drei Männer gibt. Und Fritzi natürlich.
Die Frau kommt in meine Richtung und ich bin so nervös. Doch ich muss gar nichts sagen. Sie spricht mich an. Mir entgeht jedoch nicht ihr Blick.
»Was machst du denn hier so alleine?«, fragt sie zwar, aber ihr Blick gleitet von oben nach unten an mir herab, als würde sie mich entweder ausziehen wollen, um den Stoff für sich zu haben oder abwägen, ob es die Mühe wert ist. Das ist aber meine Kleidung. Und ja, sie ist schöner als ihre.
»Ulp ...« Mensch, so wird das nichts. »Puhwi«, setze ich trotzdem noch dran.
»Hm?«, macht sie und ja, ich kann es auch nicht verstehen, aber denk dir bitte nicht, dass ich dir mein Kleid geschenkt habe. Woher kommt nur meine Wut, wenn ich eigentlich Hilfe brauche?
Was macht diese Kleidung mit den Menschen hier? Ich sollte mich vielleicht bei nächster Gelegenheit umziehen und diese andere Kluft tragen, um wenigstens deswegen nicht mehr so aufzufallen ...
»Hier«, sagt diese Frau und hält mir etwas hin. Dann streckt sie ihre andere Hand auch aus. Ich nehme die Flasche aus ihrer einen und klatsche in die andere ein.
»Undankbar also auch noch.« Verärgert stampft sie davon. Ich habe zwar keine Ahnung, aber ich danke ihr im Inneren für das Trinken und lasse schon direkt die ersten Tropfen meinen Rachen hinablaufen.
Da kommen mir direkt die nächsten Gedanken auf: Nahrung und Schlafplatz. Wo bekomme ich etwas zu Essen her? Und wo kann ich geschützt schlafen?
Viele Menschen sehe ich nicht, Läden ebenso wenig. Doch ich benötige so viel. Vor allem Hilfe.
Ich beschließe, in die gleiche Richtung zu gehen, in die die Frau von eben davon gestampft ist. Eventuell finde ich dort wenigstens eine der Antworten.
Auf dem Weg lässt es mich einfach nicht los, warum ich hier bin. Es muss einen Grund geben. Ich weiß, es ist nicht mein Zuhause. Doch weiß ich nicht, wie ich zurückkomme und gleichzeitig weiß ich aber, dass ich es normalerweise weiß. Es bringt mich noch um den Verstand. Und was war geschehen, bevor ich bei Frederik aufwachte? Wie lange bin ich schon hier? Einen Tag? Tage? Wochen? Noch länger? Kreisende Gedanken, ich sehe sie mich in meinem Kopf verhöhnen.
Hoch in den Himmel schauend bemerke ich eine weitere Gemeinsamkeit. Der blau-weiß gestreifte Himmel weicht einem Farbspiel aus unterschiedlichen warmen Tönen, die langsam ineinanderfließen und einem Geborgenheit schenken wollen.
Gelb für Freude; Orange für Heilung; Rot für Zuneigung.
Etwas Wärme flutet mich und kann mich beruhigen.
Der Tag geht zu Ende, die Nacht bricht bald herein. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, einen Ort zu finden, an dem ich mich ausruhen kann. Für heute ist Schluss mit der Suche nach Antworten. So kann ich immerhin auch keine neuen Fragen finden.
Zwei Gabelungen weiter entdecke ich einen schmalen Weg, der in ein bewaldetes Stück hineinführt und auf einer Wiese endet. Mit meinen Augen erkunde ich diese Wiese und nachdem ich vermute, dass ich hier für diese Nacht sicher bin – beziehungsweise nicht wüsste, wo ich sicherer sein sollte –, knie ich mich am Rand hin. Es ist keine Sekunde zu spät. Mittlerweile hat sich der Farbklang zu einem dunklen Blau bis fast Schwarz verwandelt.
Aus der Hocke lege ich mich auf den Rücken, ziehe meine Arme an und umschließe mit meiner rechten das Gelenk meiner linken Hand, die ich auf meinem Oberkörper ablege. Ich lausche mit geschlossenen Augen dem Wind, wie er durch das Gras fegt und die Bäume zum Tänzeln bringt. Es ist schön. Hier an diesem Fleck. Meine Augen wieder geöffnet schaue ich hoch hinauf. Sterne und Mond ... Wunderschön und bezaubernd. Sie haben mich schon immer fasziniert, wie viele andere auch. Eine magische Anziehungskraft besitzen sie. Immer wieder drehe ich eins der Armbänder um das Gelenk, bis ich bei jenem ankomme, was sich nicht bewegen lässt. Es schmerzt nicht, es fühlt sich gänzlich mit mir verbunden an. Es leuchtet sogar. Hat es das schon immer? Ein Mondsymbol mittig oberhalb meines Handgelenks, ... was sogar aufleuchtet. Er ist genauso schön wie der echte oben am Himmel. Ihn anschauend, grübele ich kurz, doch auch die Bedeutung dafür habe ich anscheinend vergessen. Wie so vieles.
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