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Kara wimmerte immer noch, als Liana zurückkam. Aber äußerlich konnte Liana nichts feststellen. Sie schwitzte nicht einmal mehr, ihre Stirn war ganz trocken. Ihr Bauch sah schon viel besser aus: Die Rötung hatte abgenommen. Aber sie sah blass aus. Im Kontrast zu ihrem dunklen Haar wirkte ihre Haut fast durchsichtig, zerbrechlich wie eine Porzellan-Puppe. Liana kämmte mit ihren Fingern durch Karas schwarze Mähne. Ihr Herz schlug nur noch sehr schwach und schnell in ihrer Brust. Und ihre Stirn war ganz kalt.
Liana wandte sich seufzend ab. Es gab nichts, was sie für sie tun konnte.
Etwas in ihr drängte sie, weiterzugehen, aber Karas Zustand ließ sie zweifeln. Das Wandern würde sie nur unnötig belasten! Aber was hielt sie schon hier? Sie seufzte und schöpfte etwas Wasser auf die noch verbleibende Glut des Feuers. Aber sie konnte nicht zu lange an einem Ort bleiben. Was, wenn man sie fand?
Sie hielt urplötzlich inne. Wurde sie überhaupt verfolgt? In dem Moment wurde ihr bewusst, wie wenig sie von dieser Willkür verstand. Würde man die Überlebenden jagen? Hatte sie jemand gesehen? Fast wie in Trance schnellte sie aus der Hocke hoch und wäre fast wieder umgefallen, dem aufkommenden Schwindel verschuldet.
Sie hielt inne und lauschte gebannt. In der Ferne glaubte sie, noch mehr Tiere zu hören als in umittelbarer Umgebung. Wenn sie diesen Ort absichtlich immer wieder aufsuchten, musste er etwas bieten, was sonst nicht erhältlich war. Eine Wasserquelle vielleicht?
In dem Moment kam Liana ein Geistesblitz: Sie konnte doch dem Bauchlauf folgen! Ja, das war eine gute Idee, fand sie. Sie nahm Kara auf dem Arm, vorsichtig, sodass sie die Schrapnellsplitter nicht noch weiter in ihren Bauchraum drückte und sah sich auf der kleinen Lichtung um. Sie hatte ja kein weiteres Gepäck, stellte sie fest, und drehte sich um, um zwischen den Bäumen zu verschwinden.
Sie kam nicht schnell voran, und um mehr Distanz zurückzulegen, lief sie bis zum Einbruch der Dunkelheit weiter. So musste sie erst noch zehn Minuten einen geeigneten Rastplatz suchen, ehe sie Kara vorsichtig ablegte. Nun war es schon so duster, dass Liana kein trockenes Holz mehr für ein Lagerfeuer suchen konnte. Verdammt!
Liana seufzte. Die kommende Nacht würde anstrengend werden.
Liana formte ihre Hände zu einer Schale und schöpfte Wasser aus dem Bach. Ihr Mund war wie ausgetrocknet nach dem heutigen Marsch. Gierig schlürfte sie das kühle Nass, und als der nötigste Durst erst einmal befriedigt war, wusch Liana sich das Gesicht, um besser wachbleiben zu können.
Liana setzte sich auf den Boden und lehnte sich an einen Baum, Kara neben ihr. Ihr kleines Herz flatterte in ihrer Brust wie ein gefangener Vogel. Vielleicht hätte sie die Schrapnellsplitter doch herausziehen sollen. Lianas Gedanken kreisten sorgenvoll und sie blickte nach oben. Von ihrem Platz aus konnte sie ein Stück des Sternenhimmels sehen und wie so oft suchte sie Hilfe bei den Sternen. Auf einmal wurde ihr bewusst, was ihre Mutter ihr früher immer gesagt hatte: Die Sterne waren die unsterblichen Seelen von allen verblichenen geliebten Personen. Liana zwinkerte eine Träne weg und konzentrierte sich, aber sie war sich nicht sicher, ob weitere Sterne dazugekommen waren. Wo waren ihre Eltern? Sie wachten doch jetzt über sie, oder nicht? Hoffentlich. Ihre Mutter würde wissen, was Kara fehlte und wie sie ihr helfen konnte. Verdammt! Könnte sie ihr nicht irgendein Zeichen schicken?
Verzweifelt wandte Liana den Blick und beobachtete ihre Umgebung genauer. Etwas hatte sich bewegt, direkt in den Büschen vor ihr! Doch auch als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie nur die stummen, dunklen Silhouetten der Bäume. Liana erzitterte, denn es war deutlich kühler geworden.
Plötzlich schnellte Liana hoch. Das Dickicht unmittelbar vor ihnen wackelte verdächtig sehr. Nervös schauderte Liana und umfasste den Stock in ihren Händen fester. Ein Geräusch ließ sie herumwirbeln und eine dunkle Gestalt, die sehr menschlich aussah, rannte davon. Das hieß, sie war nicht allein! Liana schluckte schwer und ihr Puls beschleunigte sich. Wie verdammt sollte sie auf Kara aufpassen, wenn sie nur einen verdammten Stock hatte, um sich zu verteidigen? Sie schnaubte. Ihr war auf einmal eiskalt und sie zog die verbleibenden Fetzen ihres Pullovers enger über ihre Arme. Sie ließ sich wieder neben Kara sinken und strich ihr die Haare aus ihrem friedlich ruhenden Gesicht.
Ein Rascheln schreckte Liana auf. Sie hob den Kopf und ergriff den Stock, den sie neben sich auf das Gras gelegt hatte. Ein Ast knackte, etwas weiter links. Da war jemand! Liana sprang auf, denn sie hatte einen Schatten gesehen und ging in die Richtung, allerdings nicht zu weit von ihrem Rastplatz entfernt. In der Ferne hörte sie eine Eule schreien. Sie konzentrierte sich darauf, welche Geräusche sie hörte.
Plötzlich flog direkt vor ihr wild kreischend ein Vogel aus dem Gebüsch und Liana wich mit einem leisen Aufschrei zurück. Dann verzog sie die Miene. Hatte sie sich vor einem Vogel gefürchtet?
Missmutig stapfte Liana zurück. Auf einmal hielt sie ruckartig inne und zwinkerte mehrmals. Sie glaubte, vor den Bäumen eine winkende Gestalt stehen zu sehen. Als sie jedoch nochmals zwinkerte, war diese verschwunden. Vielleicht hatte sie es sich nur eingebildet, dachte Liana und setzte sich. Dabei fühlte sie etwas Weiches unter sich. Als sie genauer fühlte, identifizierte sie dies als weichen Stoff. Eine Decke! Wo kam die denn her?
Aus Reflex hob sie den Blick und sah sich suchend um. Sie spürte ein durchdringendes Augenpaar auf sich und schaute sich nach dem Besitzer um. Aber die Dunkelheit erschwerte es ihr und plötzlich ließ sie die Wärme des Blickes los. Liana fröstelte und legte sich schnell die warme, flauschige Decke um die Schultern.
Es schien schon weit nach Mitternacht zu sein, als Liana durch ein Knacken aus einem unruhigen Sekundenschlaf gerissen wurde. Liana war unglaublich müde und hatte Mühe, ihre Lider offen zu halten. Aber als sie ihre Augen ganz öffnete, war ihre Müdigkeit sofort verpufft. Vor ihr knisterte unbekümmert ein Lagerfeuer. Liana war der Mund offen stehen geblieben. Sie blinzelte, um sicherzugehen, dass das Feuer keine Einbildung war. Aber es war noch da, als sie die Augen wieder öffnete. Also war sie noch nicht verrückt. Aber wie... Wer hatte es entfacht? Liana starrte es immer noch an, als wäre gerade ein Ufo vor ihr gelandet. Als sie die Wärme spürte, die das Feuer ausstrahlte, wurde sie schläfrig. Irgendwann fielen ihr die Augenlider zu. In der Ferne hörte sie Wasser plätschern, bevor sie in einen traumlosen Schlaf sank.
Liana schreckte auf. Es dämmerte schon und das Feuer war weitestgehend heruntergebrannt. Verwirrt blickte sie sich um. Hatte sie nicht gerade ein Knacken gehört? Sie stöhnte und rieb sich ihren dröhnenden Kopf. Das dumpfe Pochen übertönte beinahe die anderen Geräusche. Dann fiel Liana auf, dass sie Karas Herzschlag gar nicht mehr hörte. Sie hatte sich sehr an ihre feine Wahrnehmung gewöhnt und wollte sie nicht mehr missen. Hektisch schälte sie sich aus der Decke und sprang hinüber zu der reglosen Gestalt. Ihr Herz schlug nur noch schnell, schwach und kurz in ihrer Brust. Kara stöhnte auf, als Liana ihren Kopf auf ihre Brust legte, um ihren Herzschlag zu hören. Liana fasste sie an der Schulter an. "Hey Kara, Kara!" Lianas Stimme war flehender und dringlicher geworden. "Oh bitte, wach' auf!" Sie wischte sich die Tränen weg. Ihre Sicht wurde auf einmal verschwommen und sie zitterte. Sie konnte nicht genau erkennen, ob Kara ihre Augen öffnete.
"Kara? Oh mein Gott, Kara!", schluchzte Liana.
"Liana", wimmerte Kara schwach und wand sich. "Hunger... Ich hab' Hunger! Liana, mach' mir was zu Essen!"
Tränen verschleierten Lianas Blick und sie blinzelte, um überhaupt etwas zu erkennen. Ihr Kopf war auf einmal unglaublich schwer und ihr Nacken schmerzte. "Ich hab' selber Hunger, Kara, aber ich hab' nichts zu essen", weinte Liana. Kara öffnete die Augen ganz und sie waren komplett schwarz. Liana wich irritiert zurück, als sich Kara aufsetzte.
Sie öffnete ihren Mund und entblößte eine Reihe spitzer Reißzähne. "Mach' mir was zu essen, Liana, hörst du? Mach' doch einmal, was ich dir sage! Ich brauche was zu essen, sonst ess' ich dich auf!"
Liana schrie auf, als Kara aufsprang. Sie stolperte und fiel rücklings auf den Waldboden.
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