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Plötzlich passierten mehrere Dinge gleichzeitig, zu schnell, um sie im Detail zu erfassen: Liana spürte, wie sich Saras Griff in ihrem lockerte und ihr ganz entglitt. "Sara!", schrie Liana und stoppte abrupt. Als sie sich umdrehte, erkannte sie, dass Sara gestürzt war.
Unter Tränen kniete sie einfach nur auf der kaputten Straße und Liana erkannte ihre aufgeschlitzten Knie. Armes Mädchen. Aber sie mussten weiter.
Liana rannte wieder zu ihr und packte ihre kleine Hand. Kara rutschte ihr von der Hüfte und Liana packte sie erneut anders. Verdammt!
Das Knacken des Feuers kam näher und ungeduldig zerrte Liana ihre Schwester auf die Beine. Die heulte wegen ihres schmerzenden Arms.
Gleichzeitig fielen mehrere Bomben und der Boden unter ihnen bebte. Liana erzitterte. "Komm' jetzt, Sara!", schrie sie.
Sara raffte sich heulend auf und folgte Liana durch die qualmenden Ruinen. Als sie durch etwas, das wie eine Lagerhalle anmutete, rannten, stürzte ein Metallpfeiler auf sie und begrub sie unter sich. Sara schrie herzzerreißend und auch Liana konnte sich nicht mehr zurückhalten. Ein Metallstab löste sich und klemmte Lianas Bein ein. Der Schmerz raste ihr in Form eines grellen Blitzes durchs Gehirn. Sie brüllte vor Schmerz, als das schwere, scharfkantige Metall ihre Hose und Haut aufriss und ihr Bein an den Boden nagelte. Sie stöhnte schmerzverzerrt auf und verzog ihr Gesicht.
Sara blickte mit feuchten Augen ängstlich zu ihr und klammerte sich an ihre Hand. "Liana...", flüsterte sie schluchzend.
Entschlossen riss Liana noch ein Stück ihres Pullovers ab und band ihr Bein ab, bevor sie versuchte, die Trümmer wegzuhebeln. Sie waren viel zu schwer, aber irgendwie gelang es ihr, sie ein kleines bisschen anzuheben und sie konnte ihr Bein unter großer Anstrengung und Schmerzen unter dem schweren Metallträger hervorziehen. Als sie auftrat, verzog sie das Gesicht. Verdammt, wie sollte sie damit rennen?
Die Bomben fielen nur noch vereinzelt vom Himmel, und eilig humpelte Liana mit ihren Schwestern weiter durch das Trümmerfeld. Alles war so zerstört, dass sie es gar nicht mehr wiedererkannte. Sie hatte keine Orientierung, sie wusste nur, sie musste weiter, weg von hier. Sara kreischte, als eine weitere Bombe fiel, aber sie war ziemlich weit weg. Schmerzerfülltes Angstgeschrei erfüllte die Luft und Sara weinte. Auch Liana rannen Tränen übers Gesicht. Sie wollte sie retten, doch sie wusste nicht mal, ob sie es selbst schaffte. Alles war so willkürlich, die Zerstörung, die Vernichtung von Leben... Wie sollte sie dagegen ankommen?
Als sie keuchend am Rand des Dorfes ankamen, setzte Liana außer Atem Kara ab. Sie wollte Saras Hand nicht loslassen, aber sie musste.
Erneut strich sie ihrer kleinen Schwester Kara durchs Gesicht, ihre Wange hinab zu ihrem Hals, wo sie ihren Puls fühlte. Er schlug immer noch stetig und versorgte ihren kleinen Körper mit dem lebenswichtigen Sauerstoff. Ihre Atmung ging regelmäßig, aber nur sehr flach und abgehackt.
Erschöpft schweifte Lianas Blick über die Szenerie, die sich ihnen eröffnete. Das einst friedliche Dorf glich einem Schlachtfeld, und sie wusste nicht einmal warum.
Auf einmal zog Sara an ihrem Ärmel. "Wir müssen in den Wald gehen!", rief sie aufgeregt und deutete auf die Schiffe am Himmel, die schnell näherkamen. Eilig folgten Lianas Augen ihrem Finger und ihr entfleuchte ein kleiner Schrei. "Schnell!" Ohne zu überlegen nahm sie Kara wieder auf den Arm und stieß einen leisen Fluch aus, als sie auftrat. Der Schmerz jagte ihr Tränen in die Augen und das zusätzliche Gewicht von Kara machte es nicht besser. Humpelnd folgte Liana Sara, die bereits vorneweg gerannt war. Mit den Tränen in den Augen konnte sie kaum was erkennen, und sie sah die Schiffe direkt über ihnen zu spät. Bedrohlich schwebten sie über den drein wie ein Damoklesschwert, ehe sie ein dunkles Paket entließen und dieses rasend schnell näher kam. "Sara - halt!"
Aber es war zu spät. Die Druckwelle schleuderte Liana zu Boden und sie drehte sich instinktiv zur Seite, um ihren empfindlichen Bauch und vor allem Kara zu schützen. Als sie sich wieder aufsetzte, dröhnte ihr Kopf, als wäre sie aus einem langen, aber nicht erholsamen Schlaf erwacht. Verwirrt verstand sie erst gar nicht, was vor sich ging. Bilder und Ton ergaben keinen Sinn und so sehr sie es versuchte, sie konnte sie nicht in Zusammenhang bringen. Eine heiße Flüssigkeit rann ihr über Stirn und Wange, doch sie wischte sie weg. Erst, als sie Kara schlaff in ihren Armen fand, roch sie das Feuer und den Rauch und die Erinnerungen kamen wieder. Sie musste hier weg!
Im Hintergrund hörte sie weitere Bomben fallen, aber sie ignorierte es und rappelte sich auf, um weiterzugehen. Sara!, fiel ihr in dem Moment ein. "Saraaa!", schrie sie verzweifelt über das brennende Trümmerfeld. "Sara!" Doch sie bekam keine Antwort. Natürlich nicht. Alles, was vorher an dieser Stelle gestanden und gelebt hatte, war nun nichts weiter als Asche und Rauch. Liana schluchzte schwer, konnte nicht glauben, dass ihre Schwester fort war. Sara! Die Tränen wuschen etwas der Asche von Karas Gesicht und erinnerten Liana, worum es hier ging. Sie musste sie retten!
Ihre Sicht klarte auf und offenbarte ihr, dass sie sich ganz in der Nähe des Waldes am Rand des Dorfes befand. Sie musste nur den Wald erreichen und...
Eine Explosion riss sie aus ihren Gedanken und trieb sie an. Nur weg hier!
Sie hetzte durch die brennenden Gemäuer, die wohl mal Gebäude dargestellt hatten. Dann eine schmale Seitengasse, hier waren viele Häuser noch intakt. Lianas Atem ging schwer und sie hatte das Gefühl, dass ein riesiger Sandsack auf ihrer Brust lag und ihr die Luft abdrückte. Trauer schnürte ihr die Kehle zu und sie schluchzte, als die durch die Gasse stolperte. Tränen rannen ihr übers Gesicht. Aber sie roch schon den Wald. Er roch ganz anders, als sie in Erinnerung hatte, und doch nahm dieser Duft ihr eine unheimliche Last von den Schultern. Sie hatte alles verloren, ALLES, aber der Wald würde sie mit offenen Armen empfangen. Er würde sie retten und Kara auch.
In der Ferne schallten Explosionen durch das Tal, doch die Schreie hatten fast aufgehört und das Fehlen dieser glich einer Totenstille, obwohl es alles andere als still war. Es schien beinah wie auf einem Friedhof, so ruhig und so schwermütig. Der Boden erzitterte erneut unter ihren Füßen und Liana humpelte weiter, so tief in das Dunkel des Waldes, bis all die unheilbringenden Geräusche in der Ferne verebbten.
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