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Der Wind hatte zugenommen. Die Blätter der Bäume flatterten wild in der Luft und füllten den Abend mit einer seltsam intensiven Dringlichkeit, als Liana nach oben blickte. Der Wald schien sie zu rufen und sie hörte ein Flüstern in den stürmischen Böen. Es schien immer größer zu werden und allen Platz in ihrem Kopf einzunehmen. Auf einmal wurde ihr schwindelig und sie schloss einen Moment ihre Augen, lauschte den Stimmen der Vögel, die leise, fern im Wald sangen. Das beruhigte sie wieder und sie atmete ein paar Mal tief ein und aus. Sie konnte die Vögel nicht wirklich hören, nein, dafür waren der Wind zu laut und die Vögel zu leise. Aber sie wusste genug über diesen Wald, um zu wissen, dass die Vögel ihre altbekannten Lieder sangen. Sie ging immer hierher, wenn sie mit ihrem Vater gestritten hatte.
Liana öffnete ihre Augen. Vor ihr dünnte sich der Wald aus und gab den Blick auf ein gigantisches Tal frei. Dort, an der Stelle, die die Sonne nie erreichte, lag ihr Dorf. Liana richtete sich auf. Nagis Sonne strahlte so intensiv, dass sich Nagis Bewohner vor ihr schützen mussten. Während die meisten Häuser in den dunkelsten Tälern gebaut waren, so schützten sich die Nagai auch, indem sie ihr alltägliches Leben unter den Erdboden verlagerten.
Liana seufzte und ging näher zum Waldrand. Sie mochte die Freiheit sehr, die ihr in der dünnen Luft um die Nase wirbelte, und würde sie auch nicht missen wollen. Sie konnte sich nicht vorstellen, aus freien Stücken unter der Erde zu wohnen, auch wenn es nur ihrem Selbstschutz diente. Niemals würde sie diese Freiheit aufgeben, die ihr ermöglichte, zumindest kurze Zeit ihrem tyrannischen Vater zu entfliehen.
Fast wie von selbst setzten sich ihre Füße in Bewegung, trugen sie zurück zu dem Ort, von dem sie geflohen war.
Der Weg war eine ganz schöne Kletterpartie, zumindest stellenweise. Und obwohl Liana recht gut in Form war, lief ihr der Schweiß in Strömen über Gesicht und Rücken, als sie unten ankam. Glücklicherweise wohnten sie in einem der obersten Häuser, sodass Liana nicht durch das gesamte Dorf laufen musste.
Sie atmete tief durch, als sie vor der Haustür ihrer Eltern stand und schloss kurz die Augen, bevor sie die Hand zur Klingel hob. Eine fröhliche Melodie ertönte, gefolgt von leichtfüßigen Hüpfern. Ihre Mutter war in die nächste Stadt gefahren, um Lebensmittel zu kaufen. Hier hatte man nicht immer so große Auswahl. Also war sie mit ihrem Vater alleine im Haus, um sich um ihre jüngeren Geschwister zu kümmern und zu kochen.
Es öffnete ein kleines Mädchen mit einem ausgelassenen Lachen auf den Lippen. Sie holte tief Luft, um sie zu begrüßen, wurde aber in dem Moment von einem donnernden „Komm' hier her, Kara!" unterbrochen. Das hübsche, schwarzhaarige Mädchen verschwand und nahm Lianas Lächeln mit. Liana trat in den Flur und entledigte sich ihrer dünnen Jacke und ihrer Schuhe. Sie seufzte, als sie die schweren, schlurfenden Schritte ihres Vaters hörte. Er war schon zu nahe, als dass sie sich einfach hätte davonstehlen können. Also verschränkte sie die Arme und wartete in der Vorhalle auf ihn.
Ihr Vater war ein kräftiger Mann, hochgewachsen und gut bemuskelt. Trotz seines Alters, das nunmehr 130 Sonnen zählte, hatte er eine beeindruckend schlanke Figur, wie eigentlich alle Nagai. Nur die grauen Strähnen, die sich leise, klamm und heimlich in sein volles, schwarzes Haar mischten, sprachen eine andere Sprache. Wäre er nicht ihr Vater, so hätte Liana ihn vielleicht sogar attraktiv gefunden.
Er schüttelte den Kopf und musterte sie lange still, ehe er die Stimme erhob. „Liana."
Er sagte es ganz ruhig; ein sicheres Zeichen, dass ein Sturm bevorstand. Die Angesprochene blinzelte ihn unschuldig und ahnungslos aus ihren großen dunklen Augen an, die zwischen zwei dichten Vorhängen aus schwarzer Seide gefangen waren.
„Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du dich vor Kara, Xavier, Levan und Sara zusammenreißen sollst?" Sein Ton war aufbrausender als erwartet und schmiss Liana etwas aus der Bahn.
„Ich habe doch gar nichts gemacht! Du hast plötzlich und ohne Grund rumgeschrien!", feuerte sie zurück.
„Du sollst nicht immer wie ein verschreckter Vogel davonrennen, wenn dir eine Situation nicht passt! Du bist schon 34 Sonnen alt! Was für eine Nagai bist du, wenn du immer wegrennst?"
Liana schluckte. Er hatte recht, sie war feige. Aber das würde sie niemals zugeben! „Ich wollte vor den Kleinen nicht streiten!"
Er blieb lange still und meinte dann: „Es gab keinen Grund zum Streiten. Du solltest einfach nur Essen machen."
Liana verbiss sich eine Erwiderung und drängte sich an ihm vorbei ins übervolle Wohnzimmer. „Jaja." Von dort aus führte ein schmaler Flur in die kleine Küche. Dort standen stapelweise schmutzige Töpfe und Geschirr. Sie seufzte. Es schien, als wäre ihre Mutter wieder einmal überfordert und sie musste sie im Haushalt unterstützen. Der restliche Abend würde wohl fürs Aufwaschen draufgehen. Und sie hatte gehofft, sie könnte endlich nach Hause gehen. Eigentlich wohnte sie gar nicht mehr hier. Nur heute sollte sie Babysitterin spielen.
Liana griff sich eine Dose mit Nudeln in Tomatensoße aus dem Regal und schüttete den Inhalt in einen Topf. Als sie umgezogen war, hatte sie gehofft, so etwas Abstand von ihrer Familie zu bekommen. Weit gefehlt. Ihr Vater schien seine Krakenarme immer noch um sie zu schlingen, um sie immer zur Unterstützung zu holen, wenn er etwas machen sollte, auf das er keine Lust hatte. Aber was soll's, dachte sich Liana und schüttelte unwillig den Kopf. Die Herdplatte leuchtete in dem Moment grün, ein Zeichen, dass sie sie wieder herunterdrehen sollte. Immerhin ging es um die Familie.
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