Sechzehn (2) - Rückkehr
Der April kündigte endlich wieder Sonnenschein an und mit ihm begann auch das nächste Semester. Cara sah mit Freude zu, wie sich der Campus langsam wieder füllte. Leider kehrten nicht alle zurück. Susan hatte das Studium aufgeben müssen, da ihr Stipendium nicht verlängert worden war. Es würde komisch sein, wenn sie nun das leerstehende Bett betrachtete. Sie beschlich der leise Verdacht, dass sie wegen des Vorfalls vor ein paar Monaten nicht wiederkehren durfte. Denn sie wusste, dass Susans Klausuren gut verlaufen waren, also lag es nicht an den Noten. Aber hatte man nicht ihre Erinnerungen an Caras Verletzung gelöscht? Vielleicht hält die Manipulation nicht solange an. Die Studentin machte es jedenfalls traurig. Susan hatte ihr damals mit Jade sehr geholfen.
Cara saß auf einer Bank auf dem Gelände, auf ihrem Schoß lag Chione eingerollt. Langsam strich sie über ihr weiches Fell, in Gedanken bei ihrer Freundin Heather. Sie war nun seit etwa einer Woche wieder da, ging ihr aber aus dem Weg. Immer wenn Cara an ihrer Zimmertür klopfte, öffnete niemand und wenn sie sie auf dem Gelände sah, verschwand Heather um die nächste Ecke. Spätestens in den kommenden Vorlesungen würde sie sie zu fassen bekommen.
Auf die Vorlesungen freute sie sich schon sehr. Ein Blick auf den Lehrplan zeigte ihr, dass die Alte Geschichte nun noch mehr im Fokus stand als im letzten Semester. Sehr hoffte sie darauf, dass sie noch mehr über das damalige Leben in Ägypten erfahren würde. Sie wollte Bastets Leben noch mehr verstehen und warum sich die Menschen gegen sie gewendet haben.
Plötzlich vibrierte ihr Handy in der Jeanstasche. Ein Blick auf den Display ließ ihr Herz aussetzten. Linus versuchte schon seit einigen Tagen sie zu erreichen, doch immer wenn er anrief, ignorierte sie den Anruf und ging nicht ran. Er hatte ihr auch schon unzählige Nachrichten geschrieben, die sie alle nicht gelesen hatte. So richtig verstand sie selber nicht, warum sie sich so merkwürdig verhielt. Immer wenn sie seinen Namen las, kam ihr der Moment in der Kapelle in die Gedanken. Eigentlich hatten sie doch alles geklärt, sie hatte ihm gesagt, dass sie Jade liebte. Dennoch hatte sich an diesem Tag etwas verändert. Vielleicht lag es daran, dass er von dem Tod seiner Eltern erfahren hatte und er ihr leid tat. Sie sah Linus nicht gerne leiden und sie war einer der Gründe dafür, weil sie seine Gefühle nicht erwiderte. Aber was blieb ihr anderes über, Jade wollte sie auf gar keinen Fall aufgeben, doch mit Linus konnte es auch nicht so weiter gehen.
Sie seufzte laut und Chione blickte auf. »Ist alles in Ordnung?«, fragte die helle Stimme.
»Nicht mehr als sonst auch. Irgendwie steht meine ganze Welt auf dem Kopf. Manchmal wünsche ich mir auch eine Katze zu sein.«
»Wenn ich dir nur irgendwie helfen könnte, als Katze bin ich so unnütz.«
Cara lächelte. »Schon gut, mir reicht es schon, wenn du bei mir bist.«
Zufrieden stand die kleine Schwarze auf und sprang von ihren Beinen. Sie streckte sich einmal auf dem Boden und verschwand dann im nächsten Gebüsch. Die Studentin machte sich auf den Weg in ihr Zimmer, um ihre Sachen für die erste Vorlesung des Semesters zu holen.
Anna lief in dem Raum hin und her, packte Sachen in ihre Kommode und schien auch etwas zu suchen.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte Cara freundlich.
Die rothaarige Studentin verharrte in ihrer Bewegung und lächelte sie an, doch ihr Blick sah leicht gehetzt aus. »Alles gut. In irgendeiner dieser Taschen befindet sich mein Lehrbuch. Das brauche ich gleich für die Vorlesung. Nächstes Mal packe ich die Bücher nicht verteilt ein, nur damit die Taschen leichter sind.« Sie begann in einer großen Reisetasche zu wühlen. Plötzlich zog sie ihren Arm zurück und hielt ein dickes Buch in der Hand. »Aha, da ist es ja. Mist, ich komme noch zu spät.« Ein Blick auf ihre Armbanduhr ließ sie wie einen Wirbelwind durchs Zimmer huschen. Eilig packte sie ihre Bücher in die Umhängetasche und verschwand durch die Tür. Cara konnte sich ein leichtes Kichern nicht verkneifen.
Auch sie selber suchte nun ihre Sachen zusammen und verließ dann den Raum auf dem Weg zur ersten Vorlesung des Semesters. Die Vorlesung fand in einem der etwas kleineren Säle statt. Vermutlich hatten viele das Studium aufgegeben. Die Prüfungen waren zwar schwer gewesen, doch das war für sie kein Grund aufzugeben.
Sie schaute sich um, ob sie Heather irgendwo sah. Sie sah ihren blonden Schopf neben Bianca, der andere Platz neben ihr war ebenfalls besetzt. Also würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als sich woanders hinzusetzen. Es machte sie traurig, im letzten Semester hatte Heather ihr immer einen Platz frei gehalten.
Plötzlich legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Erschrocken drehte sie sich zu dem Besitzer der Hand um. Jade stand vor ihr, mit leicht getrübten Blick, aber dennoch mit einem Anflug eines Lächeln auf den Lippen. Freudig bemerkte sie, dass seine Augen wieder das helle Grün mit den braunen Sprenkeln angenommen hatten. Überglücklich fiel sie ihm um den Hals. Das war ein Zeichen dafür, dass Seth nicht die Kontrolle über ihn besaß.
»Womit habe ich das denn verdient?«, fragte er, ließ sie aber nicht los, sondern schlang seine Arme noch fester um sie.
»Weil du du bist«, flüsterte die Studentin in sein Ohr. Ihre Stimme zitterte und Tränen der Freude verließen ihre Augen.
Jade löste sich von ihr und wischte ihre Tränen weg. Sein Lächeln war nun echt und auch er wirkte überglücklich. Er nahm sie bei der Hand und gemeinsam gingen sie zu ein paar freien Plätzen.
Cara wollte gerade etwas sagen, als der Redner das Podium betrat. Sie stellte mit Verwunderung fest, dass es keiner der bekannten Dozenten der Universität war, dennoch war er ihr nicht unbekannt. Er legte seine Unterlagen auf das Pult, danach trat er an die Podiumskante und begann zu sprechen.
»Mein Name ist Joseph Plamp und in diesem Semester Gastdozent an der Freyer Akademie. Einige von euch dürften mich von der Exkursion im letzten Jahr kennen. Ich bin Ägyptologe und Spezialist auf dem Gebiet der Religion.«
Plamps Stimme war warm und tief. Man konnte ihm gut zuhören, anders als bei anderen Professoren. Cara kannte auch einige, deren Stimme eher einschläfernd war.
Der grauhaarige Mann trat wieder an seine Notizen heran und begann mit der Vorlesung. »Damit sind wir auch direkt beim Thema. Die altägyptische Religion gehört zu den großen polytheistischen Glaubenslehren der frühen Menschheitsgeschichte. Nachweisen lässt sie sich von den Anfängen der pharaonischen Zeit in Ägypten um 3.000 vor Christus bis zur frühen Römerzeit. Historisch gesehen ist sie aus verschiedenen Kulturen zusammengewachsen. Im Wesentlichen wurde das Leben und der Alltag der Menschen durch kultische und kosmische Dimensionen geprägt. Den Ägyptern half ihre Religion dabei, ihr Umwelt zu verstehen, ihnen Hoffnung auf eine kommende Gerechtigkeit zu spenden und ein Leben nach dem Tod. Dieses Denken kennen wir auch aus anderen götterbezogenen Kulturen. Die Religion hat sich zwar entwickelt und verändert, jedoch hat sich nie eine fundamentale Glaubensrevolution zugetragen im Alten Ägypten.
Aber stellen Sie sich eine Kultur mit rund 2.000 Göttern vor – skurrile Mischwesen in Tier- und Menschengestalt, alle mit unterschiedlichen Charakteren und Zuständigkeiten. Kosmische, naturbezogene oder schützende Gottheiten und noch viele andere – keine Angst meine Damen und Herren, für die Klausur am Ende des Semesters müssen sie keine 2.000 Götter auswendig lernen – und dann gab es in den verschiedenen Zeitaltern andere Götter, die die Menschen als übergeordnet ansahen. Im Alten Reich war es der Sonnengott Re, im Mittleren Reich Amun und später wurde aus ihm Amun-Re. Tragende Rollen spielten ebenfalls der Gott Osiris, der über das Jenseits wacht, seine Frau Isis und ihr gemeinsamer Sohn Horus, der Gott des Himmels und der Pharaonen. Hieran erkannte man, dass die Götter nach ihren familiären Beziehungen, ihrem Charakter und ihrem Schicksal definiert werden. Daraus ergibt sich ein Geflecht aus komplizierten Beziehungen zwischen Göttern und Menschen.
Um den Götter zu gefallen, hielten die Menschen Rituale und Zeremonien ab. Große Feste wurden veranstaltet, um die Götter zufrieden, versöhnlich und freundlich zu stimmen. Welcher Gotte – wie sagt ihr jungen Leute es gerne – gerade IN war, hing vom Pharao ab, denn er war der Mittler zwischen Götter- und Menschenwelt.
Ein Begriff ist an dieser Stelle besonders zu nennen: die Maat. Das ist die Ordnung, die das Reich zusammen hält. Das Leben der Menschen kann nur funktionieren, wenn das Maat-Prinzip eingehalten wird, eine geordnete zwischenmenschliche Gemeinschaft. Das Leben und Handeln jedes einzelnen Menschen hat Einfluss auf die Maat, besonders das Tun des Pharaos. Im Grunde richten die Menschen ihr gesamtes Leben darauf aus, nach ihrem Tod auf Erden in der Duat ein ewiges Leben zu erlangen. Eine große Faszination umgibt das Geheimnis des Todes, wie in fast allen Religionen. Alle streben danach ein gutes und gerechtes Dasein zu fristen, damit sie nach dem Übergang vom Diesseits ins Jenseits vor dem Totengericht und Osiris Gnade erwiesen bekommen. Jeder Verstorbene muss dort Rechenschaft ablegen und wenn er im Einklang mit der Maat war, so wurde ihm Einlass zum ewigen Leben gewährt. Alles was sie für das dortige Leben brauchten, wurde ihnen als Grabbeilage beigesetzt.
Bis heute zeigt uns die Glaubensvorstellungen im Alten Ägypten ein ungebrochenes Zeugnis dieser frühen Hochkultur. Durch die Pyramiden, die Gräber und Särge haben die heutigen Menschen viel über die Geschichte und Kultur dieses Landes erfahren. So hat der Totenkult die Lebenswirklichkeit und Glaubenswelt der Menschen vor 5.000 Jahren lebendig gehalten.«
Es folgten einige Bilder, die Joseph Plamp von seinen Ausgrabungen mitgebracht hatte. Cara war so fasziniert und gefesselt von seinen Worten, dass sie enttäuscht war, als er die Vorlesung beendete. Sie konnte es kaum erwarten, seine nächste Vorlesung zu besuchen. Eigentlich wollte sie hinunter zum Podium laufen und mit ihm sprechen, doch Jade hielt sie zurück.
»Hast du noch Zeit? Die nächste Vorlesung ist ja erst heute Abend.«
»Ähm...«, sie zögerte kurz und schaute den Saal hinunter. Der Gastdozent hatte den Raum bereits verlassen. »Ja, klar. Ich müsste vorher aber noch auf mein Zimmer.«
»Kein Problem. Sagen wir in einer halben Stunde vor der Mensa?«
Cara bejahte dies und machte sich sofort auf den Weg ins Wohnheim. Als sie ihr Zimmer betrat, sah sie, dass Ingrid am Schreibtisch saß und in Büchern vertieft war. Sie schaute auf, als sie den Raum betrat.
»Und wie lief deine erste Vorlesung?«, fragte Ingrid und drehte sich mit dem Stuhl zu ihr herum.
Cara setzte sich auf ihr eigenes Bett und legte ihre Tasche daneben. »Ganz interessant. Wir haben dieses Semester einen Gastdozenten. Wir haben ihn schon bei der Exkursion kennen gelernt. Und er ist ein alter Bekannter meiner Eltern.«
»Das ist doch toll.«
»Abwarten«, lachte sie. »Sag mal, Ingrid, du studierst doch Theologie. Sprecht ihr auch über die ägyptischen Gottheiten?«
»Nein. Wir beschäftigen uns hauptsächlich mit dem Christentum. Einmal haben wir kurz die griechische Mythologie angeschnitten.«
»Schade. Glaubst du denn, dass es die anderen Götter gibt? Also die aus Ägypten oder Griechenland.«
Ingrid schaute nachdenklich drein und gab nicht sofort eine Antwort. »Für mich gibt es nur den einen Gott, doch ich will nicht bestreiten, dass die anderen Religionen deswegen nicht gleichwertig sind. Ich bin nun mal Christin, doch andere haben halt einen anderen Glauben, das respektiere ich. Ob es die anderen Götter gibt oder nicht, weiß ich nicht. Schließlich weiß ich auch nicht, ob es meinen Gott wirklich gibt, aber ich glaube an seine Anwesenheit.«
Cara bedankte sich bei ihrer Mitbewohnerin und ging dann hinüber zu ihrer Kommode, um sich etwas Neues anzuziehen. Nachdenklich zog sie eine Jeans und eine bordeauxfarbene Bluse heraus. Der Glaube. Früher hatte sie nie an Götter oder dergleichen geglaubt. Doch Bastet hatte sie vom Gegenteil überzeugt. Sie fragte sich, ob sie irgendwann ihr normales Leben zurück bekommen würde. Doch sie zweifelte daran. Die Göttin würde nicht einfach so wieder verschwinden. Und sie hatte sich damit mittlerweile abgefunden. Wäre nur nicht alles so kompliziert mit ihren Freunden. Linus, der Gefühle für sie hatte. Heather, die ihr aus dem Weg ging. Und Jade, der von seinem bösen Gott immer wieder übernommen wurde. Aber vielleicht konnte sie heute mit ihm die ungeklärten Probleme, die zwischen ihnen standen, aus der Welt schaffen. Wenigstens zum Teil.
Sie nahm nicht ihre große Tasche mit, sondern eine kleine schwarze Umhängetasche. Bei einem Blick aus dem Fenster sah sie den Campus von der Sonne hell erleuchtet und die Blätter bewegten sich nur ganz sanft im Wind. Für eine dicke Winterjacke würde es zu warm sein, aber für keine zu kühl. Also entschied sie sich für ihre Lederjacke.
Sie ging auf direktem Wege zur Mensa. Jade wartete bereits auf sie und lächelte sie freudig an, als er sie sah. Sie machte vor ihm Halt und lächelte ihn auch an, jedoch nur ganz zaghaft. So richtig wusste sie noch nicht, was sie von dieser Situation halten sollte. Er sah normal aus, in seinen Augen war kein Fünkchen von Dunkelheit zu finden. Er verhielt sich auch so, wie vor der Sache mit Seth. Aber so ganz vertraute sie ihm nicht. Irgendwo tief in ihm, steckte die grausame Seele Seth' noch. Sie wollte auf keinen Fall riskieren, diese wieder nach oben zu locken.
»Hast du Hunger?«, fragte Jade.
»Ein Wenig«, antwortete sie ihm leise.
Er griff sogleich nach ihrer Hand und wollte sie ins Gebäude hineinziehen, doch sie entzog ihm ihre Hand.
Der Student warf ihr einen betrübten Blick zu, behielt seine Hand aber bei sich. Er wusste genau, dass er ihr Vertrauen erst wieder gewinnen musste. Cara wusste selber nicht, warum sie sich nun so benahm. Vorhin war sie ihm noch überglücklich um den Hals gefallen und nun zuckte sie vor seiner Berührung zurück. Innerlich verfluchte sie sich. Vor ihr stand Jade. Der Jade, der ihr beim Weihnachtsball seine Jacke zärtlich um ihr Schultern gelegt hatte und der ihr dieses wunderschöne Geschenk zu Weihnachten gemacht hatte. Die Kette lag immer noch gut verborgen in ihrem Nachttisch, wo keiner seine Blicke darauf richten konnte nur sie. Diese Kette war ein Zeichen, eine Erinnerung an den guten Jade.
Nebeneinander her laufend, betraten sie die Mensa. Es war gerade Stoßzeit und der Großteil der Studenten hatte sich hier zum Essen versammelt. Einige Blicke richtete sich auf Cara und Jade, besonders die von den jungen Frauen. Die Studentin merkte, wie ihre Wangen warm anliefen und sie schaute verlegen zu Boden. Immer noch mochte sie es nicht sehr, in der Aufmerksamkeit der anderen zu stehen. Als sie einen Blick auf Jade warf, schien dieser nicht sonderlich Beeindruckt von den anderen zu sein.
Beide nahmen sich ein Tablett und bedienten sich am Buffet. Cara entschied sich für einen Salat, den sie selber zusammenstellte. Gemeinsam suchten sie sich einen Platz am Fenster. Schweigend saßen sie einander gegenüber und aßen. Cara warf immer wieder einen Blick hinaus auf das Campusgelände. Die Sonne schien nun und die Temperatur war nach oben gegangen. Ein paar Studenten hatten große Picknickdecken auf der Wiese ausgebreitet und lagen unter freiem Himmel. Wie gern würde sie nun bei ihnen sein.
»Wie waren deine Semesterferien?«, fragte ihr Gegenüber plötzlich.
Cara schaute auf und sah, wie Jade in seinem Essen herumstocherte und einige Erbsen auf dem Teller hin und her schob. »Nicht sehr spannend. Es war ja kaum jemand hier. Heather nicht. Meine Zimmergenossen nicht. Und du auch nicht.«
»Heißt das, du warst die ganze Zeit alleine?«
Sie wusste worauf er hinaus wollte. Es brachte nichts ihn anzulügen. Früher oder später würde er davon schon noch erfahren. »Linus hat mir hin und wieder Gesellschaft geleistet«, flüsterte sie leise, in der Hoffnung Jade würde es überhören. Doch das tat er nicht. Seine Finger schlossen sich noch weiter um seine Gabel, sodass seine Knöchel weiß hervor traten. Seine ganze Haltung war nun angespannt.
»Seid ihr jetzt ein Paar?« In seiner Stimme klang Zorn mit.
Eilig schüttelte sie den Kopf, da kein Wort ihre Kehle verließ. Warum spielten ihre Gefühle nur so verrückt?
»Und wenn es so wäre, könnte ich es dir nicht verdenken«, sagte Jade, was sie stutzig machte. Wieso sagte er nur so etwas? War sie ihm doch nicht so wichtig, wie sie es gehofft hatte? »Ich war gemein zu dir.«
Cara steckte ihren Arm aus und legte ihre Hand auf seine. In Jades Augen stand großer Schmerz geschrieben, was ihr in einen Stich im Herzen versetzte. »Aber das war nicht deine Schuld! Seth hatte die Kontrolle über dich!«
»Weil ich es zu Anfang zugelassen haben. Als dies alles Anfing, als ich rausfand, dass ich eine Reinkarnation bin war ich vierzehn Jahre alt. Da ich zu dem Zeitpunkt bereits mit Milan befreundet war, bin auch ich direkt zum Institut gekommen, wo man mich untersucht hat. Als meine Eltern herausfanden, was Raphael Freyer dort mit mir machte, holten sie mich da heraus und hielten ihn auf Abstand. Milan hatte leider nicht das Glück. Er wurde weiterhin diesen Experimenten ausgesetzt, was seinen Körper und Seele in Mitleidenschaft gezogen hat. Aber mit jedem weiteren Jahr wurden die Träume schlimmer und irgendwann erlitt ich dann auch physische Schmerzen, sofort wurde ich wieder zu Freyer gebracht, der mich dann weiterhin versorgte. Ich hatte gehofft, wenn ich tat was er wollte, mich ganz der Gottheit hingab, würden die Schmerzen und Experimente aufhören. Und als meine Eltern mir auch noch druck machten, wegen dem Erbe der Familie, meiner Zukunft und meiner Beziehung mit Bianca, wollte ich einfach nur Erleichterung dadurch finden, meine Leben einem anderen zu überlassen. Zu dem Zeitpunkt war ich einfach zu schwach, Seth' dunkle Seite zu erkennen und ihn weiterhin zu unterdrücken.«
Cara wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie dankte ihm innerlich, dass er sich so für sie geöffnet hatte. Ihm war es wahrlich schwer gefallen, ihr das zu erzählen. Seine Hand zitterte unter ihrer, die sie noch immer nicht losließ. So saßen sie einige Minuten schweigsam da. Die Studentin traute sich einfach nicht ein Wort zu sagen.
In nächsten Moment verschränkte Jade seine Finger in ihren. Sie schaute ihn an und er lächelte ihr zaghaft zurück.
»Komm, lass uns etwas draußen spazieren gehen.«
Zustimmend nickte sie und stand mit ihm zusammen vom Tisch auf. Die Tabletts ließen sie liegen. Für Jade war es zwar Gewohnheit, dass das Personal diese wegräumte, doch sie brachte ihres immer selber weg. Aber Jade hatte es eilig von hier weg zu kommen, also ließ sie sich mitziehen.
Außerhalb des Gebäudes schlug ihr ein frischer Schwall Luft ins Gesicht. Sie atmete tief durch und reckte ihr Gesicht in die Sonne. Sie liefen zu dem hinteren Teil des Campus, wo die Baumallee die große Rasenfläche umschloss. Jade hielt genau an der Stelle an, wo sie ihm zu Beginn des Jahres mitgeteilt hatte, dass sie Zeit benötigte. Mit dem Rücken zu ihr blieb er stehen und machte keine Anstalten sich zu ihr herum zu drehen.
Der Student räusperte sich kurz und fing dann an zu sprechen. »Du musst mir eine Frage beantworten! Nachdem Seth Bastet so ... verletzt hatte, war er nur noch selten bei ihr. Er hat Wachen zu ihrer Beobachtung abgestellt, kam sie aber dann nicht mehr Besuchen. Einige Teile dieser Erinnerungen sind verschwommen und ich weiß nicht wieso. Warum bleibt mir dies verborgen? Was ist damals aus Bastet geworden?«
Seine Hand hielt noch immer die ihre und er drückte ihre Finger zusammen, sodass es schon leicht schmerzte. Doch sie wollte ihn darauf nicht aufmerksam machen, damit er sie losließe. Sie hielt den Druck aus und überlegte, ob sie ihm alles Erzählen sollte. Sie Entschied sich für die Wahrheit.
»Sie wurde schwanger!«
Jades Rücken versteifte sich und er ließ sie los. Ohne zu zögern ging sie um ihn herum, da sie sein Gesicht sehen wollte. Sein Blick war leer und seine Miene versteinert. Sein Mund war schmerzvoll verzogen und Cara hörte ein leises Zähneknirschen. Sie streckte den Arm aus und wollte ihn berühren, doch nun war er es, der zurückwich.
»Und das ...«, er schluckte und atmete schwer. Es kam ihr so vor, als ob ihm das folgende Wort nur schwer über die Lippen kam. »... Kind?«
Nun war es an der Studentin zu schlucken. Dieses Thema war einfach zu schmerzlich und traurig. Zwar war diese Vergangenheit nicht ihre, dennoch ein Teil von ihr. Bastet hatte dieses Kind geliebt, auch wenn die Empfängnis durch Leid geschah und sein Leben nur von kurzer Dauer. Was Bastet fühlt, fühlte auch sie. »Es ist gestorben. Bei der Geburt. Bastet hat den Tod nur schwer verkraftet. Dieses Kind, ihre Tochter, besiegelte das Ende der Götter. Sie verwandelte den Leib des Kindes in die zwölf Wächtersteine, die als Schlüssel für die Weltentore gelten, in denen die göttlichen Kräfte verband worden sind.«
Ihre Wangen fühlten sich nass an. Bastets Gefühle übermannten sie. Und auch Jade schien von Trauer geplagt zu sein. Ihm liefen ebenfalls Tränen das Gesicht herunter. Cara konnte nicht anders, sie trat auf ihn zu und schlang ihre Arme um seinen Hals, sodass er sein Gesicht an ihren Hals betten konnte. Sie hielt ihn und verstand ihn. Die Kontrolle durch Seth hatte ihn innerlich zerstört. Er wusste nicht mehr, wo genau er hingehörte und was sein wahres ich war. Genauso war es ihr ergangen, aber vielleicht nicht in einem solchen Ausmaße. In diesem Moment wurde ihr eines glasklar: Sie wollte ihn. Jade war es, für den ihr Herz schlug. Egal welche Gefühle sie gegenüber Linus empfand, der junge Mann vor ihr war der, den sie wollte und brauchte. Er hatte solch ein Leid durchgemacht, sie wollte für ihn da sein. Ihre Schicksale waren miteinander verflochten, heute wie damals.
Sie nahm sein Gesicht zwischen beide Hände und küsste ihn. Im ersten Moment war Jade verwirrt, doch dann merkte sie, wie er den Kuss genoss. Er legte seine Arme um Ihre Taille und presste sie fest an sich. Caras Arme wanderten wieder um seinen Hals und sie drückte sich ihm entgegen. Seine Lippen waren ganz zart und weich, berührten ihre nur ganz leicht wie eine Feder. Cara merkte, wie er am ganzen Körper zitterte. Sie fragte sich aus welchem Grund, ob er vielleicht nervös war? Plötzlich spürte sie, wie seine Zungenspitze ihre Oberlippe berührte. Dies war der entschiedene Moment. Wenn sie ihn nun gewähren ließe, so bedeutete dies, dass sie sich wieder auf ihn einlassen konnte, dass sie ihm verziehen hatte und die Geschehnisse hinter ihnen lagen. Aber war sie schon so weit? Konnte sie vergessen was passiert war? Je länger sie zögerte, desto mehr spannte sich Jades Körper an. Sein Griff wurde fester und er drückte sie noch näher an sich. Auch er schien zu wissen, dass von diesem Augenblick ihre zukünftige Beziehung zueinander abhing. Innerlich verfluchte Cara sich Selber. Sie wollte nicht so unentschlossen sein, sie musste sich einfach nur überwinden und Nähe zulassen. Seine Nähe. Sie wollte ihn. Sie brauchte ihn. Sie liebte ihn. Vorsichtig öffnete sie ihren Mund und gab ihm somit die Erlaubnis den Kuss zu vertiefen. Sofort drang seine Zunge in ihr ein und umspielte die ihre. Die Studentin fühlte sich wie benebelt und schmolz in seinen Armen dahin. Eine Hand von Jade wanderte nach oben und fing an mit ihren langen Haarsträhnen zu spielen. Cara verlor sich in ihm, während der Student lustvoll aufseufzte. Sie hätten ewig so weiter machen können, die Welt um sie herum war ihnen in diesem Moment egal. Für sie war dies eine wortlose Übereinkunft, dass sie zusammengehörten und ab jetzt ein Paar waren.
Plötzlich ertönte eine leise Melodie und in Caras Hosentasche fing ihr Handy an zu vibrieren. Nur wiederwillig löste sie sich von Jade und fischte schwer atmend ihr Telefon heraus. Auf dem Display erstrahlte ganz deutlich der Name Linus. Noch bevor sie das Handy aus dem Blickfeld von Jade nehmen konnte, merkt sie, dass er den Namen bereits gesehen hatte. Seine Hand, die noch immer auf ihrer Hüfte lag, krallte sich in ihre Bluse hinein. Für ihn war Linus der größte Rivale, das wusste Cara sehr wohl. Ein bisschen ärgerte sie sich über Linus. Warum musste er auch ausgerechnet in so einem Moment anrufen. Entschuldigend schaute sie den Studenten neben ihr an, aber dieses Mal musste sie wirklich ran gehen. Viel zu oft hatte sie seine Anrufe schon ignoriert. Doch nun hatte sich etwas geändert, in ihr herrschte kein Gefühlschaos mehr. Jade brauchte sich keine Sorgen machen, denn sie gehörte nun ganz und gar ihm.
Cara drückte auf den grünen Hörer und hielt ihr Handy ans Ohr. »Hey, Linus!«
»Na, endlich! Seit Tagen versuch ich dich zu erreichen«, beschwerte er sich.
»Ich weiß. Ich hatte viel zu tun.« Sie wusste, dass diese Ausrede nicht wirklich überzeugend war, doch etwas Besseres viel ihr auf die Schnelle nicht ein.
Auf der anderen Seite der Leitung ertönte ein missbilligendes Schnauben. »Hast du denn wenigstens meine Nachrichten gelesen? Ich vermute mal nicht, sonst hättest du ja wenigstens darauf antworten können.« Linus klang wirklich wütend und Cara tat es schon leid, dass sie nicht reagiert hatte. Nun wusste sie nicht, wie sie ihr Verhalten erklären sollte. Da sie kein Ton von sich gab, sprach er weiter. »Ich wollte dich jedenfalls um die Tagebücher bitten!«
»Die Tagebücher? Wofür brauchst du die denn?«
»Um sie zu lesen, wofür auch sonst.«
Cara zuckte bei seinem scharfen Ton zusammen. Jade hörte zwar nicht, was Linus zu ihr sagte, bekam aber anhand ihrer Reaktionen einen finsteren Blick. Er hielt seine Hand hin, als Zeichen dafür, dass sie ihm ihr Handy geben sollte. Die Studentin schüttelte nur eilig mit dem Kopf. Auf keinen Fall wollte sie, dass die Situation eskalierte. Dazu würde es mit Sicherheit kommen, wenn Jade nun mit Linus sprechen würde.
»Ich will gucken, ob irgendwo noch was über meine leiblichen Eltern steht. Also kann ich sie nun haben?«, hakte er nach.
»Heute bin ich noch sehr beschäftigt, willst du sie morgen abholen?«
»In Ordnung. Ich schreibe dir wann ich komme.« Mit diesen Worten legte er einfach auf, ohne eine Verabschiedung. Cara konnte nur verdutz dreinschauen.
»Was für Tagebücher?«, fragte Jade, nachdem ihr Handy wieder in ihrer Hosentasche verschwunden war.
Sie erzählte von ihrem Erlebnis in den Gängen unter der Freyer Akademie. Wie sie mit Linus zusammen die Kammer gefunden hatte und von Res Tagebüchern. Auch von den Büchern der Wächterjägern berichtete sie ihm. Sie sagte ihm einfach alles. Zwar waren diese Informationen gefährlich, wenn Seth wieder die Kontrolle übernehmen sollte, aber es war notwendig. Keine Geheimnisse sollten mehr zwischen ihnen stehen.
Cara warf einen Blick auf ihre Uhr, silberne Fassung mit dunkelbraunem Lederband, ein Geschenk von ihrem Vater. Bei dem Anblick der silbernen Zeiger schreckte sie auf. »Oh nein, wir kommen noch zu spät. Die Vorlesung fängt gleich an. Ich kann auf keinen Fall am ersten Vorlesungstag des Semesters zu spät kommen.«
Jade lachte und strahlte sie freudig an. »Du bist einfach unverbesserlich.« Er gab ihr einen schnellen, zärtlichen Kuss und nahm ihre Hand.
Vor dem Wohnhaus trennten sie sich. Der Student wollte schon mal vorgehen und ihnen Plätze sichern, während Cara in ihr Zimmer eilte, um ihre Bücher und Unterlagen zu holen. So schnell sie konnte rannte sie zum Vorlesungssaal und kam dort völlig aus der Puste und schwer atmend an. Jade winkte ihr zu und sie setzte sich schnell neben ihn, denn der Professor betrat bereits das Podium.
Die gesamte Vorlesung konnte Cara sich nicht auf den Vortrag des Professors konzentrieren. Jade und sie verhielten sich wie zwei alberne Teenager. Sie hielten unter dem Tisch Händchen, er spielte andauernd mit ihren Haaren oder sie kritzelten sich gegenseitig etwas auf die Notizblöcke. Das Einzige, was die Studentin von ihrem Freund – sie liebte den Gedanken an dieses Wort – ablenken konnte, war Heather. Sie saß nur drei Reihen vor ihr, direkt neben Bianca, die immer wieder stechende Blicke zu ihnen warf. Ihr gefiel es wahrscheinlich zu einhundert Prozent nicht, dass sie und Jade vereint und glücklich waren. In ihren Gedanken hatte sie sich bestimmt noch Chancen bei ihm ausgemalt. Aber diese konnte sie jetzt vergessen. Cara würde Jade so schnell nicht wieder hergeben.
Verwirrst schaute sie umher, als sich die anderen Studenten erhoben. Die Vorlesung war vorbei und alle räumten ihr Sachen zusammen. Schockiert stellte sie fest, dass sie sich nicht eine einzige Notiz gemacht hatte. Sie schwor sich das nächste Mal besser aufzupassen und sich nicht von Jade ablenken zu lassen.
Dieser sah sie verschmitzt aus seien grünen Augen an. »Immer noch froh, dass ich jetzt dein Freund bin«, zog er sie auf.
»Sag das nochmal!«, bat sie ihn.
»Was? Freund? Ich. Bin. Dein. Fester. Freund. Wolltest du das hören?«
Cara kicherte wie eine zwölfjährige, was ihr schon etwas peinlich vorkam. Dennoch lehnte sie sich zu ihm herüber und küsste ihn. »Ja«, flüsterte sie an seinen Lippen.
Schockierte und erstaunte Laute ertönten um sie herum. Jade schien dies zu ignorieren, doch sie ließ dies nicht völlig kalt. Der junge Mann mit den karamelblonden Haaren war einer der begehrtesten Studenten auf dem Campus. Er sah gut aus, hatte eine reiche Familie und war zudem noch von Adel. Die meisten Mädchen hatten immer einen großen Bogen um ihn gemacht, weil seine Ausstrahlung sie ein wenig eingeschüchtert hatte. Aber auch, weil Bianca, die Dramaqueen der Freyer Akademie quasi seine Verlobte war. Und nun sahen alle, wie er offiziell etwas mit einer anderen hatte. Mit ihr: Cara Jackson. Die kleine, arme Stipendiatin, die ihm eigentlich nichts zu bieten hatte.
Mit einem Ohr lauschte Cara dem Getuschel. Einige redeten über das Ereignis am Anfang der Semesterferien, als Bianca und Jade sich lauthals in der Eingangshalle des Wohnheims gestritten hatten. Schon damals hatten einige vermutet, dass sie es gewesen war, die Inhalt der Auseinandersetzung gewesen war, doch nun wussten alles es mit Sicherheit. Andere sprachen darüber, dass sie die schlechtere Wahl für Jade war und machten sich über Bianca lustig, dass sie gegen Cara verloren hatte. Nur ein ganz paar Studentinnen beneideten sie dafür, Jade so nahe zu sein.
»Gib nichts auf die Meinung der anderen«, sagte Jade, der wohl ihr bedrücktes Gesicht gesehen hatte. »Hauptsache wir sind glücklich, oder nicht?« Sie stimmte ihm zu. Trotzdem verunsicherte das Getuschel sie ein wenig.
Sie standen auf und verließen den Saal. Im Foyer beobachtete Cara, wie Heather sich von Bianca verabschiedete und alleine in eine Richtung verschwand. Jetzt hatte sie die Sache mit Jade schon geklärt, nun sollte es auch mit Heather wieder in Ordnung werden. Sie hatte vor der Vorlesung die ganze Zeit das Bedürfnis gehabt, zu ihrer besten Freundin zu laufen, um ihr von ihrem Glück zu erzählen. Doch noch immer ging sie ihr aus dem Weg. Damit musste jetzt endgültig Schluss sein.
»Ähm... ich muss noch was erledigen. Ich schreibe dir später noch. Bis dann«, sagte sie zu ihrem Freund und drückte ihm noch einen eiligen Kuss auf die Wange.
Ohne zu zögern lief sie hinter Heather her. Aber plötzlich musste sie stocken, als sie begriff, wohin ihre Freundin unterwegs war. Das Institut baute sich wie ein Mahnmal über ihr auf und warf einen langen und tiefen Schatten über den Campus. Dieser verbotene Ort war für Studenten nicht zugänglich. Dennoch ging Heather auf direktem Weg darauf zu und betrat das Gebäude ohne sich auch nur umzusehen. Was hatte das nur zu bedeuten? Was wollte sie dort drin?
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