Kapitel 36
„Finn hat sich so beschissen angestellt, dass ihn selbst die Hebamme ausgelacht hat! Du hättest sehen müssen wie rot er geworden ist! Schlimmer als eine reife Tomate!"
Maja bekommt vor lauter Lachen keine Luft mehr, was Luke und mir genau so geht, während Finn bloß die beleidigte Leberwurst spielt und ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter zieht. Da ist wohl jemand nicht gerade in der Stimmung über sich selbst zu lachen.
Die beiden hatten heute an einem Geburtsvorbereitungskurs teilgenommen und danach beschlossen mir noch einen Besuch abzustatten. Meine beste Freundin konnte es sich daraufhin natürlich nicht entgehen lassen Luke und mir zu berichten, wie unheimlich blöd sich ihr Freund angestellt haben muss. Finn war noch nie sonderlich geschickt gewesen, aber von dem was ich bis jetzt alles gehört habe, hat das Baby schon Glück, wenn sein Vater es nur einmal fallen lässt.
Er schaut stur nach vorne, wir anderen haben uns immer noch nicht eingekriegt, doch als Maja ihm einen liebevollen Kuss auf die Wange drückt entspannen sich seine Gesichtszüge und ein kleines Lächeln entsteht auf seinen Lippen, was er jedoch zu verstecken versucht.
„Ich hab das ganz genau gesehen! Jetzt zieh nicht so ein langes Gesicht."
Sie umschlingt seinen Oberarm mit ihren Händen und lehnt sich an ihm an, woraufhin Finn ihr einen sanften Kuss auf den Scheitel drückt. Die beiden werden tolle Eltern, da bin ich mir absolut sicher. Ihr Kind wird so viel Liebe von ihnen erfahren wie es sich das kleine Würmchen noch nicht in seinen kühnsten Träumen vorstellen kann.
„Und ihr wollt nun wirklich mit deinen Eltern in den Urlaub fahren?"
„Ja, Lukes Mama kommt auch noch mit. Wir fahren nächste Woche."
Ich grinse übers ganze Gesicht, da ich mich unglaublich auf diesen Urlaub freue. Ich liebe das Meer und es wird toll sein mal von hier wegzukommen. Nicht ständig mit den Erinnerungen und meinem jetzigen Alltag konfrontiert zu werden. Meine Eltern hatten mit Andrea wegen des Ganzen gesprochen und sind dann zu dem Entschluss gekommen, dass sie auch mitkommen sollte.
Andrea habe ich in letzter Zeit nur sehr selten gesehen, da Luke immer zu mir kommt und sie eben bei ihnen zu Hause oder auf der Arbeit ist, was ich sehr schade finde. Jedoch war sie gestern da um mich zu besuchen und mit meinen Eltern einen Kaffee zu trinken, sodass ich sie noch einmal zu Gesicht bekommen konnte. Mich fasziniert es immer wieder aufs Neue, was für eine großartige und starke Frau sie ist und wie viel sie Luke mit auf den Weg gegeben hat, was ihn zu diesem wunderbaren Menschen macht, der er heute ist.
„Seid bloß anständig, eine Schwangere reicht."
Luke schüttelt verlegen den Kopf, was meiner Meinung nach ziemlich niedlich aussieht, während Maja frech grinst.
„Ich denke nicht, dass mein Körper momentan dazu fähig wäre, sich eine Eizelle befruchten zu lassen, also kannst du dich ebenfalls entspannen, während wir ganz unanständig am Strand liegen."
Das „Liegen" betone ich extra, indem Gänsefüßchen mit meinen Fingern mache. Wir werden weder am Strand liegen, weil es erstens nicht warm genug sein wird und zweitens nicht sehr vorteilhaft für mich ist und auch werden wir höchstwahrscheinlich nicht unanständig werden. Mir fehlt die nötige Puste und Kraft.
Picasso, der neben mir sitzt, wird leicht rot, obwohl hier allen klar ist, dass ich nur Spaß mache, aber es scheint ihm etwas unangenehm zu sein. Die Ironie, dass ausgerechnet Maja, die ungewollt schwanger ist, mir etwas von Anständigkeit erzählen will, lasse ich jedoch unkommentiert, auch wenn es mir auf der Zunge brennt. Aber mittlerweile ist es mir teilweise selbst zu anstrengend zu reden.
„Naja, wir müssen los, ich muss meiner Mutter auch noch von Finns Unfähigkeit erzählen, bevor sie zur Arbeit muss."
Mit diesen Worten verabschieden sich meine besten Freunde von uns, wobei Luke sie noch hinunter zur Tür begleitet, da der Weg nach unten und wieder hoch zu anstrengend und kraftraubend für mich ist. Ich werde schon müde vom liegen und reden, da ist Treppensteigen sicherlich keine so passende Alternative.
Als der Dunkelhaarige wieder in mein Zimmer tritt, kramt er in der Tasche, die er mitgebracht hat und setzt sich mit mehreren Flyern und Broschüren wieder zu mir aufs Bett, die er dann vor uns ausbreitet. Mir springt sofort das Wort Universität ins Auge und mir kommt unser Gespräch vor wenigen Tagen in den Sinn, wo Luke mir erzählt hatte, dass er mit der Suche nach einem Studienplatz beginnen will, woraufhin ich ihm meinen Hilfe angeboten hatte.
„Hast du schon einen Favorit?"
Wir schauen gemeinsam das Informationsmaterial durch und mir springen einige Unis ins Auge, die mir sehr gut gefallen und wirklich gut zu sein scheinen. Ich freue mich, dass Luke das mit dem Studium wirklich in die Hand nehmen will, er sollte sein Talent nicht verschwenden und davon hat er definitiv schon fast zu viel, falls das möglich sein sollte.
„Nein, nicht wirklich, die Auswahl ist einfach zu groß."
„Hast du schon ein Portfolio zusammengestellt?"
Da ich selbst einmal mit dem Gedanken gespielt hatte etwas in Richtung Kunst zu studieren weiß ich, dass ein Portfolio und je nachdem eine Aufnahmeprüfung erforderlich sind, um einen Platz bekommen zu können. Ob Luke angenommen wird ist für mich eigentlich gar keine Frage, denn wenn sie es nicht tun sollten sind sie entweder blöd oder blind auf beiden Augen.
„Zum Großteil, ich bin aber noch nicht ganz fertig. Rate mal, was mein Hauptstück sein wird?"
Sein schiefes Grinsen und der komische Gesichtsausdruck machen mir auf eine gewisse Art und Weise etwas Angst, doch die Neugierde überwiegt wie immer. Da ich keine sonderlich große Lust habe zu raten, zucke ich bloß mit den Schultern und fordere ihn so still auf mit der Sprache hinauszurücken.
„Das Porträt, dass ich von dir gemalt habe. Erinnerst du dich?"
Natürlich erinnere ich mich, wie könnte ich auch nicht? Es ehrt mich, schmeichelt mir und macht mich verlegen zugleich, dass er genau dieses Bild mit mir als Motiv ausgewählt hat. Ich liebe das Bild, einfach weil es von Luke stammt, weil ich jeden einzelnen Pinselstrich von ihm liebe und die Tatsache, dass ich selbst in seinen Kunstarbeiten den Mittelpunkt darstelle, lässt mich fast ein wenig erröten.
„Du bist großartig, sie müssen dich einfach nehmen, egal wo du dich bewirbst!"
Ich rücke näher zu ihm, um mich an ihm anzulehnen und kuschle mich dicht an ihn ran, während wir die verschiedenen Angebote weiter durchforsten. Es tut gut einfach so mit ihm Zeit zu verbringen, so als wären wir ein stinknormales Paar. Als wäre ich stinknormal.
„Hast du schonmal drüber nachgedacht ob du vielleicht sogar ins Ausland gehen willst?"
Ihm stehen alle Türen offen und bald ist er komplett frei, er sollte seine Chancen nutzen. Luke würde sicherlich super in einem neuen Land klar kommen und ich denke, dass ihm ein Tapetenwechsel im erweiterten Sinne nicht schaden würde. Ich wünsche mir das Allerbeste für ihn und vor allem wünsche ich mir, dass er glücklich wird und seine Träume lebt. In gewisser Weise erfüllen sich auch meine Träume so, denn diese bestehen in einer tollen Zukunft für Picasso.
„Schon, aber ich weiß es noch nicht, das wäre ein sehr großer Schritt..."
„Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Das Leben ist zu kurz um sich einfach nicht zu trauen, das müssten wir beide doch mittlerweile am besten wissen, oder?"
Ich möchte ihn ermutigen. Ihn ermutigen alles in Betracht zu ziehen, seinen Horizont zu erweitern und nichts auszuschließen, nur weil er vielleicht Angst hat. Die Angst mag zwar einer unserer größten Feinden sein, doch wir dürfen ihr nicht die Chance geben uns einzunehmen und zu hemmen.
„Aber weißt du, was ich weiß? Dass es nicht schlecht wäre hier mal kurz rauszukommen und ich bin mir ziemlich sicher, dass du das genauso siehst."
„Können Sie etwa Gedanken lesen, Mister Bennett?"
Sein wunderschönes, raues Lachen erfüllt den Raum und ertönt wie die schönste Musik in meinen Ohren. Es ist wie Balsam auf meiner Seele.
Picasso bringt mir meine Jacke und den restlichen Kram, den ich mir unter großer Mühe anziehe, packt mich daraufhin unter den Kniekehlen und dem Rücken und trägt mich die Treppe hinunter bis zu seinem Auto, wo er mich auf dem Beifahrersitz niederlässt. Als Dankeschön küsse ich ihn sanft auf die Wange.
Er lässt sich neben mir in den Sitz fallen, startet das Auto und mit aufgedrehtem Radio fahren wir von unserem kleinen Hof. Wir sind die letzten Tage öfters einfach so mit dem Auto durch die Gegend gefahren, damit ich aus meinem stickigen und erdrückenden Zimmer komme, aber mich nicht anstrengen muss und zudem ist das Auto schön warm. Meistens so mollig warm, dass mir innerhalb kurzer Zeit schon die Augen zufallen, was jedoch heute nicht der Fall ist, denn ich habe noch ein Anliegen.
„Picasso?" Sein Blick richtet sich kurz auf mich, es scheint als hätte er Sorge gehabt, dass etwas nicht stimmt, doch dann blickt er erleichtert wieder zur Straße.
„Kitty."
„Versprichst du mir was?"
Ich hatte meine Eltern und alle anderen, die mir nahestehen schon um dieses Versprechen gebeten, aber da zu Luke mehr dazu gehört, hatte ich bei ihm bis zum Schluss gewartet.
„Alles."
„Okay, versprichst du mir dann, dass du auf meiner Beerdigung in pinker Unterwäsche mit Leoprint strippst?"
Es handelt sich hierbei natürlich nicht um das wirkliche Versprechen, jedoch konnte ich es mir nach Lukes Antwort einfach nicht verkneifen. Manchmal werde eben auch ich schwach.
„Dann vielleicht doch nicht alles." Sein Kopf dreht sich kurz lächelnd zu mir, was ich erwidere.
„Versprichst du mir, dass du dein Kunststudium antrittst und mutig bist? Dass du dich traust deinen Weg zu gehen und über deinen Schatten zu springen? Wenn ich-... Wenn ich bald nicht mehr da bin kann ich das leider nicht mehr alles miterleben und dir deswegen auch nicht ab und zu mal in den Arsch treten. Du hast alles Glück der Welt verdient, nein, du hast die Welt verdient, also hol sie dir, ja? Denk nicht zu viel an mich, mir wird es wo auch immer es für mich weitergeht besser gehen und du kannst ganz sicher davon ausgehen, dass ich dich im Auge behalte, mein Freund. Such die jemanden, der dich genauso liebt wie ich. Ich hätte ja gesagt noch mehr, aber ich bezweifle stark, dass das möglich ist. Und versprich mir bitte, dass du mich nicht vergisst, okay?"
Winzige Tränen kullern mir die Wange herunter. Der Gedanke Luke loslassen zu müssen schmerzt mehr alles jeder Schmerz, den ich je gespürt habe. Ich habe keine Angst vor dem Tod, nicht mehr, aber ich habe Angst, dass er mich vergisst, dass meine Eltern und Freunde mich vergessen, denn das ist es, was meine Existenz nach meinem Tod noch ausmacht. Ich weiß, dass es total bescheuert und eigentlich irrelevant ist, aber ich kann nichts gegen diese Angst tun, sie ist eben da, ob ich nun will oder nicht.
„Okay, versprochen. Wie sollte ich dich jemals vergessen können, Kitty, wie?"
Luke schluckt schwer, seine Stimme bricht zu Ende des Satzes leicht und die Bewegung seiner Hand über seine Augen verrät, dass er wohl auch nicht die Tränen verhindern kann, sie aber vor mir verstecken möchte.
„Ich werde dich vermissen, aber wir werden uns wiedersehen, Kate, ich weiß es. So leicht kommst du mir nicht davon. Gott hat sicherlich schon eine Wohnung für dich vorbereitet."
Ein ersticktes Lachen gemischt mit einem Schluchzer verlässt meinen Mund und ich versuche akribisch meine Tränen zu stoppen, ich will nicht weinen. Es wird alles gut werden, da bin ich mir sicher. Es muss alles gut werden, denn wenn es nicht gut ist, ist es auch noch nicht das Ende.
„Du mir auch nicht."
Und ich weiß, dass alles vergänglich ist, dass wir geboren werden um zu sterben und dass auf dieser Erde ein ewiger Kreislauf von Geburt und Tod stattfindet und dass ich Platz machen muss, so wie alle anderen irgendwann auch. Ich weiß, dass wir uns alle damit abfinden müssen, da es nun mal das Leben ist.
Wenn ich jedoch mit Luke bin, fühlt es sich an, als wären all diese Gesetze außer Kraft gesetzt. Als würde die Welt stehen bleiben und der Augenblick für immer anhalten. Als wäre ich unsterblich.
Was auch immer die nächste Station sein mag, ich bin bereit. Bereit den nächsten Schritt zu gehen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top