Teil 46 Das Verbrechen VI


Die Patientinnen und medizinischen Fachangestellten fielen beinahe in Ohnmacht, als das SEK die Praxis von Dr. Schneider stürmte.
„Wo ist Ihr Chef?" fragte der Einsatzleiter bestimmt die Dame am Empfang.
„Der....der...der Chef ist.... ist....ist im Urlaub!" stammelte die. „Schon.... schon ...schon ein paar Wochen!"

„Und wer behandelt die Patientinnen?" fragte der Polizist.
„Dr. Steinmann!"
„Führen Sie mich zu ihm!"

Der junge Arzt hatte den Tumult bemerkt, der losgebrochen war, während er eine Patientin untersucht hatte. Er bat die Frau, sich anzuziehen und einen neuen Termin auszumachen.

Dann ging er nach vorne, bat den schwer bewaffneten Polizisten in das zweite Behandlungszimmer.

Schnell begriff er, dass es um die Geschäfte ging, die sein Chef immer wieder im Ausland durchzog. Deshalb war er wohl auch vor einigen Wochen einfach verschwunden.

„Ich denke, es geht um die Vermittlung illegaler Leihmutterschaften in England!" packte er bereitwillig aus. „Aber ich habe keine Ahnung davon. Ich habe immer nur ein paar Brocken davon mitbekommen, wenn er telefoniert hat."

Die schwerbewaffneten SEK-Männer zogen ab, die Spurensicherung übernahm. Ein Durchsuchungsbeschluss lag natürlich vor.
Zeitgleich hatten Beamte die Wohnung des Arztes gestürmt. Auch hier keine Spur von ihm.
Auch hier nahmen sie alles auseinander, blieben aber wie auch in der Praxis erfolglos.

„Der Vogel hat Lunte gerochen! Er hat irgendwie die Namen der Familien der Opfer rausgekriegt, eins und eins zusammengezählt, wusste, dass eine seiner Geschäftspartnerinnen durchdreht!" war Winter sicher.
„Das heißt, er hätte vielleicht zwei der Kinder retten können?" fragte Kommissarin Speth aus Berlin fassungslos.

„Ja!" erklärte Winter resigniert. „Aber dann wäre er ja aufgeflogen! Aber es beweist wenigstens, dass wir auf der richtigen Spur sind."

Er klatschte in die Hände. „Also, Kira hat gesagt, sie wären auch bei diesem Arzt gewesen! Das heißt, eines ihrer Kinder ist in Gefahr, welches weiß ich nicht. Sie sind zwar untergetaucht, aber es kann ja sein, dass die Täterin die Wohnorte ausspioniert. Wir müssen die Wohnung in Hamburg und das Haus in Regensburg rund um die Uhr unauffällig überwachen." ordnete er an.
„Läuft schon!" rief Ronja von ihrem Arbeitsplatz herüber.

Sie hatten sich alle in Köln getroffen, aber die Federführung hatte irgendwie der Frankfurter Kommissar übernommen. Wahrscheinlich, weil er den Kontakt zu Kira hergestellt hatte, die dem Fall die entscheidende Wende gegeben hatte.

„Danke, Frau Dr. Fellner! Ich finde es großartig, wie Sie kämpfen!" erklärte er.
„Also, entweder Frau Dr. Dr. Fellner, oder Ronja!" antwortete sie. „Es werden auch alle Flughäfen und alle Bahnhöfe überwacht, die Kollegen sind aber gewarnt, ihr nicht zu nahe zu kommen. Wenn sie allerdings mit einem Wagen das Land verlässt, haben wir sie verloren."

„Das haben Sie alles in den paar Minuten gemacht, seit wir Bescheid wissen?" fragte Winter verblüfft.

„Ich habe ein Programm geschrieben, das Meldungen im Schneeballsystem verbreitet!" erklärte Ronja. „Bisher konnte ich den Innenminister noch nicht überzeugen, es einzusetzen, aber dieses Mal habe ich sein Einverständnis einfach vorausgesetzt!"

Winter saß mit offenem Mund an seinem Schreibtisch. Julian lachte zum ersten Mal seit Wochen wieder.

Ja, sie würden überleben!
Alle Familien würden überleben!
Und sie würden das Monster finden, das angeblich eine Frau war, auch wenn er kaum glauben konnte, dass eine Frau zu solchen Grausamkeiten fähig sein sollte. Noch dazu die Frau, die diesen Familien Kinder geboren hatte.

Die ihnen aber im Gegenzug Kinder nahm.

„Wir müssen eine Warnung rausgeben, falls noch mehr Paare von Dr. Schneider an die Täterin vermittelt wurden!" merkte Winter an.
„Schon geschehen!" brummte Ronja.
Winter lachte. „Na, dann gehen wir Kommissare mal in Urlaub!"
„Von mir aus!" stellte sie lapidar fest.


Luca lag eine Woche im Krankenhaus auf Leben und Tod. Der Schock, als er seine Tochter tot aufgefunden hatte, hatte ein heftiges Nervenfieber in ihm ausgelöst.
Er warf sich in Fieberträumen hin und her, rief nach Zoe, fand sie, sprach mit ihr, verlor sie wieder, rief nach Anna, nach Joshua. Die Ärzte waren ratlos. Kein fiebersenkendes Mittel sprach an.

Die richtigen Worte fand Joshua, der alles noch nicht so ganz richtig verstand. Seine Schwester war weg, sein Papa lag hier im Bett, die Mama weinte den ganzen Tag, die Großeltern auch.
Nichts war mehr, wie es sein sollte!
Nichts war mehr wie früher!

Er stand am Bett seines Vaters und brauchte dringend Hilfe.
„Meine Welt ist kaputt, Papa! Du musst sie reparieren!" sagte er leise.
Diese Worte eines Achtjährigen drangen durch das Fieber.
Die Welt seines Sohnes war kaputt!
Das durfte nicht sein!
Er war noch so klein!
Er brauchte eine heile Welt!

Ja, er musste sie reparieren!
Er konnte das!
Er musste auch Annas Welt reparieren, die schon einmal kaputtgegangen war.
Und nicht zuletzt musste er auch seine Welt reparieren, weil er weiterleben wollte, mit Anna und seinem Sohn.
Er wollte sich nicht feige davonstehlen.
Er war ein Mann.
Er trug Verantwortung.

Endlich öffnete er seine Augen. Sein Blick war noch trübe, aber er sah sie an.
Endlich!
Anna bedeckte sein Gesicht mit tausend Küssen. „Reparieren! Ja, ich werde unser Leben reparieren!" flüsterte er und sank in einen tiefen Schlaf der Genesung.

Auf die Suche nach weiteren Paaren, die Dr. Schneider aufgesucht hatten, meldete sich zwölf.
Doch sie hatten ihre Kinder eindeutig von anderen Leihmüttern bekommen. Niemand hatte die Frau auf dem Foto identifizieren können.
Das war wenigstens einmal eine gute Nachricht.

Die Polizei gab eine weltweite Fahndung nach Dr. Schneider raus.
Ein Team flog nach Kiew, Anna hatte sich an den Namen des Hotels erinnert, in dem sie Joshua abgeholt hatten. Die Beamten legten den Angestellten das Foto vor. Doch es war schon Jahre her.

Sie kannten aber das Datum. Die Unterlagen zeigten nur eine Buchung an diesem Tag: Eine Engländerin namens Georgina Hammond.
Sie hatten einen Namen.
Sie war auch an dem Tag, als die Fellners dagewesen waren, eingecheckt gewesen.

Ein zweites Team war in dem Londoner Hotel, in dem die anderen drei Kinder übergeben worden waren. An allen drei Tagen hatte Dr. Schneider ein Zimmer gebucht, jeweils für einen Tag, aber eine Georgina Hammond tauchte nirgends auf. Zwei Frauen oder zwei Namen? Sie wussten es nicht sicher.


Walter Wissmann stellte 100.000 Euro als Belohnung zur Verfügung, in ganz London und in der Umgebung wurden Plakate angebracht mit dem Gesicht der Leihmutter. In Nachrichtensendungen wurde um sachdienliche Hinweise gebeten.

Scotland Yard arbeitete Hand in Hand mit den Kollegen zusammen, Ronja hatte die englische Polizei mit Deutschland vernetzt.

Hunderte von Hinweisen wurden überprüft. Nichts Brauchbares kam ans Tageslicht.
Bei Befragung 356 waren die Beamten müde, erledigt, ohne jede Hoffnung.

Und dann kam noch diese Alte, die mit ihren rotgeschminkten Lippen und den knallrosa Haaren wie eine sehr in die Jahre gekommene Puffmutter aussah. Wahrscheinlich vereinsamt suchte sie ein wenig Ablenkung.

Doch dann wurden sie hellhörig. „Das ist Lorena Brewster! Die hat mal bei mir gewohnt!" erklärte die Frau. „Sie müsste mittlerweile 30 sein." Sie hatte sogar ein paar alte Fotos von der jungen Frau dabei.
Bingo! Sie hatten einen zweiten Namen für ein und dieselbe Frau.

Die Alte hatte lange überlegt, ob sie ihr ehemaliges Pferdchen hinhängen sollte. Doch die Höhe der Belohnung war doch zu verlockend gewesen. Außerdem war Ehrgefühl etwas für die, die es sich leisten konnten und in ihrem Milieu nicht sehr verbreitet.
Doch die Belohnung würde erst ausgezahlt, wenn sie Lorena gefasst hätten, erklärte der Kommissar.

Kommissar Winter flog seinem Team nach London nach. Das war ihr Fall! Ronja wollte unbedingt mit, doch Julian sprach ein Machtwort.

„Du hast noch ein Kind!" erinnerte er sie liebevoll. „Bitte, Süße! Du hast genug getan! Bleib bei uns!"
Ronja beugte sich zuerst widerwillig. Doch sie wusste, dass er recht hatte.

Leonie brauchte sie.
Julian brauchte sie.
Patrick brauchte sie, und Greta brauchte sie auch!

Und sie brauchte die vier, unbedingt!
Denn zu Hause war die Leere ohne Marlon spürbar, greifbar, unerträglich wirklich.

Julian hielt sie Stunde um Stunde im Arm. Ihre Tränen mischten sich mit seinen. Leonie kam dazu, weinte mit den Eltern. Patrick und Greta weinten mit.

Doch dann fühlte Ronja mit einem Mal, durch alle Trauer hindurch, dass sie noch fühlen konnte.
Dass der Eisklotz, der an der Stelle ihres Herzen gewesen war, tauen würde.
Dass sie noch immer Liebe für Julian und Liebe zu den lebenden Kindern empfinden konnte.

Sie brachte sogar ein Lächeln zustande.
„Ich liebe dich, Räubertochter!" flüsterte Julian.
Sie legte den Kopf schief. „3017 oder 3018?" fragte sie. „Aber andererseits kommt es darauf auch nicht wirklich an. Denn ob du mich 3017 oder 3018 mal genervt hast, ist ja wirklich egal. Und so schlimm ist dieser Name eigentlich gar nicht mehr, weil du der Einzige bist, der mich so nennen darf. Weil es mir eigentlich sogar gefällt, weil du es immer sehr liebevoll sagst." Sie holte tief Luft. So lange Reden war sie gar nicht mehr gewohnt.

Julian lächelte sie an. „Gott sei Dank! Sie quasselt wieder!"


Die Westens hatten sich auf Lanzarote ein unauffälliges Leihauto genommen und sich gleich an eine Agentur gewandt, die Ferienhäuser vermietete.
Sie wählten das abgelegenste.

Der Angestellte wunderte sich etwas, dass der Vater immer wieder nervös vor die Türe trat und die Straße beobachtete.
Na, hoffentlich hatten die keinen Dreck am Stecken! dachte er.

Als sie weg waren, googelte er die Namen sicherheitshalber. Überrascht las er, welche Stars das in Deutschland waren. Na ja! Sie waren wohl auf der Hut wegen der Papparazzi!
Im Haus angekommen, ließen sie sich auf die Gartenstühle fallen.

„Was ist eigentlich los?" fragte Nicola. Sie konnte nicht mehr warten. Sie brauchte eine Antwort.
Robin und Kira sahen sich an, er nickte leicht.

Kira versuchte, ihnen das Notwendigste verständlich zu machen.
„Es gibt eine ganz böse Frau, die Kinder umbringt!" begann sie. „Vier hat sie schon getötet. Und sie kennt die Familien, und sie kennt uns. Deshalb haben wir Angst bekommen, dass einem von euch beiden auch etwas passiert."

„Und du hast das rausgefunden? Deshalb kann uns nichts mehr passieren, oder?" fragte die Tochter beinahe ehrfürchtig.
„Ja!" Doch Kira hatte Tränen in den Augen. „Doch wenn ich es einen Tag früher herausgefunden hätte, könnte Zoe vielleicht noch leben!" Sie marterte sich sehr mit immer wieder dem gleichen Gedanken.

Robin nahm sie in den Arm. „Nicht, Süße! Nicht! Gib dir nicht die Schuld für etwas, das ein Monster getan hat! Sie werden sie erwischen, weil du so klug bist. Unsere Kinder können in Frieden aufwachsen, weil du allein die Lösung gefunden hast. Du musst stolz sein, nicht traurig."

Nicola sah ihren Papa bewundernd an. Er fand immer so liebe Worte für die Mama.
So einen Mann wollte sie auch mal. Als sie fünf war, wollte sie ja den Papa heiraten, aber der hatte gemeint , das ginge nicht, weil sonst die Mama traurig wäre.

Aber er sprach ja auch mit ihnen immer so nett. Nie wurde er laut, und wenn er etwas nicht erlaubte, erklärte er immer genau, warum sie das nicht durften.
Bei vielen ihrer Freundinnen war das nicht so! Da schrien die Papas oft, waren manchmal sogar betrunken und hauten auch schon mal zu.

Fürchterlich! Sie konnte sich das gar nicht vorstellen!

Sie musste ihre Eltern einfach in die Arme nehmen und küssen, und weil sie einmal dabei war, küsste sie auch Lukas.

Da begannen bei Robin die Tränen zu laufen. Mein Gott, sie hatten dieses wunderbare Kind nicht verloren! Er ahnte, dass es knapp gewesen war, wenn auch nicht, wie knapp!

Die Beamten in England suchten fieberhaft nach Lorena Brewster oder Georgina Hammond. Nach zwei Tagen bekamen sie Rückmeldung von einer kleinen Gemeinde am Meer. Das englische SEK rückte aus, stürmten das Cottage.

Nichts! Das Haus war düster und muffig. Auf einem Tischchen entdeckten sie das Foto einer strahlenden Dreijährigen mit einem Trauerband am Rahmen. Nachforschungen brachten die Informationen über den Tod des Kindes.
Nun schien es auch etwas wie ein Motiv zu geben.


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