༻Zᴡᴇɪ༺

Breaking through the atmosphere
And things are pretty good from here
Remember everything will be alright
We can meet again somewhere
Somewhere far away from here
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Wenige Tage nach meinem Umzug spaziere ich in der warmen Frühlingssonne durch den nahegelegenen Park. Meine Kamera hängt mir um den Hals und ist immer griffbereit, die Schauspiele der Natur einzufangen.

Zwei weiße Schmetterlinge überqueren den schmalen Schotterweg. Tanzen in der Luft einen wunderschönen, spielerischen Tanz. Sie bewegen sich schnell, fliegen mit dem Wind, und bleiben trotzdem beieinander. Als wären sie aneinander gebunden, als würden sie sich aneinander fest halten und trotzdem nicht gefesselt sein. Ausgerichtet nach dem anderen sich bewegen. Voraussehen können, wo es hingeht, und bereit mit zu gehen.

Schon lange habe ich die Wege verlassen, um ihnen folgen zu können, den perfekten Moment zu erwischen.

Kurz verlagsamen sich die beiden. Die Sonne bricht sich in der feinen Beschaffenheit ihrer Flügel, die rosa Knospen der Büsche scheinen sich ein Stückchen weiter zu öffnen. Der Moment ist perfekt, besser wird er nicht werden und - Klick - ist er eingefangen. Eingefangen für die Ewigkeit.

Zufrieden betrachte ich mein Werk und lasse die beiden in Ruhe weiter fliegen.

Wieder auf befestigten Wegen angekommen mache ich mich gemütlich auf den Weg zurück in meine Wohnung.

Plötzlich erklingen schwere Schritte hinter mir und erhöhen meinen Herzschlag augenblicklich. Auch ich beschleunige meine Schritte, versuche so schnell wie möglich zu anderen Menschen zu kommen, meinen Verfolger abzuschütteln. Ich fühle mich wie ein gejagtes Tier. Meine Augen huschen durch den Park, suchen nach irgendetwas, hinter dem ich mich verstecken kann, mich wehren kann.

Der Mann kommt immer näher, ich sehe seinen schwarzen Schatten auf dem frischen Gras. Das ganze bildet einen gewaltigen Gegensatz, was die Sache nicht besser macht.

Er müsste deutlich größer als ich sein, trägt eine Kapuze tief in die Stirn gezogen. Seine ganze Haltung strahlt Gefahr aus, obwohl ich ihm noch nichtmal ins Gesicht geschaut habe. Trotzdem weiß ich sicher, dass ich hier weg muss, und zwar möglichst schnell.

Ich werde immer schneller, beginne fast zu laufen, doch der Mann hinter mir bleibt mir dicht auf den Fersen, ja er holt sogar weiter auf.

Der Weg zieht sich ins Unendliche, unsere Schritte knirschen laut auf den kleinen Kieselsteinen, deutlich hört man nun auch seinen Atem.

Mittlerweile renne ich.
Ich renne und renne.
Hoffe einfach nur, das Menschen in Sicht kommen und ich hier weg komme.

Ich hatte gedacht, das hinter mir lassen zu können, oder wenigstens erst einmal hier ankommen zu können, bevor sie wissen wo ich bin.
Bin ich so durchschaubar, so berechenbar?

Jetzt habe ich einfach nur Angst, falsch entschieden zu haben. Ich hätte überall hingehen können. Ich hätte überall hingehen sollen. Nur nicht hierhin. Hier sind die Menschen, die ich liebe, die mich kennen, die ich lang genug schützen konnte.
Vielleicht nicht mehr lange.

Sein dreckiges Lachen ertönt dicht hinter mir, als hätte er meinen Gedanken hören können, und jagt mir einen eisigen Schauer über den Rücken.

Es ist zu spät.

Irgendwo in der Ferne ertönt Hundegebell und Kinderlachen. Hoffnung durchströmt mich.
Wo Kinder sind, sind auch ihre Eltern, wo Eltern sind kann er mir nichts mehr anhaben.

Mein Atem wird unregelmäßiger, stoßartig. Ich verfluche mich selbst, nicht öfter mehr trainiert zu haben.

Die Luft geht mir aus, meine Muskeln schmerzen. Jeder Atemzug tut weh, ist eine Qual. Meine Seite brennt bei jedem Schritt.
Ich werde langsamer und mein Verfolger holt auf.

Nur für einen Sekundenbruchteil erfasst mein hektischer Blick unsere Schatten.

Er ist mir bedrohlich nah. Ich kann seinen Atem schon fast im Nacken spüren. Nur noch ein kleines Stück dann kann er mich berühren.
Eine Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen, zieht sich über den ganzen Körper.

Das Kindergeschrei wird lauter, ist zum Greifen nah.

Ich muss nur schneller dort sein, als er bei mir. Entschlossen sprinte ich ein letztes mal los. Gebe alles. Nutze meine letzte Kraft.

Jede einzelne Faser meines Körpers protestiert. Mir wird schwindelig und schon lange ist mein Sichtfeld begrenzt. Meine Atmung geht flach und viel zu ungleichmäßig. Mein Puls steigt ins Ungewisse und mein Herz fühlt sich an, als könne es mir jeden Moment aus der Brust springen. Meine Haare fliegen wild durcheinander, wehen im Wind, fallen mir in die Augen.

Als der Pfad eine enge Kurve macht, schlittere ich bedrohlich, kann mich gerade noch vor dem Sturz bewahren und renne weiter. Mein Verfolger hat weniger Glück und landet im Dreck.
In gut hundert Metern stößt der kleine Schleichweg auf den Hauptweg.
Familien, Frauen, Männer und Kinder sind dort unterwegs.
Dort bin ich sicher.

Obwohl ich nicht mehr kann, jede Bewegung schmerzt und meine Lunge nach Sauerstoff lechzt, stürme ich auf die Kreuzung zu, als wäre sie meine letzte Hoffnung.

„Fuck! Scheiße! Das kann doch nicht wahr sein! Fuck!" Die Kapuzengestalt weiß genauso gut wie ich, dass ich sicher bin, wenn ich erst unter Leuten bin.
Seine Flüche werden leiser, ebenso seine dröhnenden Schritte und sein bedrohlicher Atem. Er fällt deutlich zurück, dennoch wage ich mich nicht langsamer zu werden.

Nur noch zehn - acht - fünf - drei - zwei - ein - kein Meter.

Zwischen zwei Hecken hindurch stolpere ich völlig ausgelaugt in die Leute hinein.
Schwer atmend bleibe ich auf der anderen Seite des Weges stehen. In Sicherheit.

Die meisten stolpern mir überrascht aus dem Weg und spähen zwischen in den Pflanzen den Weg hinein.

Niemand ist zu sehen. Der Pfad ist leer, und keine Spur vom Täter.

Ich bin entkommen.
Entkommen!
Die Tatsache alleine wirkt unwirklicher als die, dass sie mich jetzt schon gefunden haben.

Die Angst, die mich eben noch fest in ihren Fängen hatte, so spürbar nah war, löst kaum merklich ihren eisernen Griff um mich.
Ganz loslassen wird sie nicht.
Wird sie nie.
Aber damit lebe ich.
Schon seit Minuten, Stunden, Tagen, Wochen, Monaten.

Weiterhin schweratmend und nach Luft ringend mische ich mich unter die Leute.
Bei der ersten freien Bank mache ich halt und lasse mich schweratmend einfach fallen.

Meine Lunge hat sich immer noch nicht ganz von der Anstrengungen erholt, mein Puls rast, meine Muskeln ziehen, meine Stirn ist schweißüberströmt, meine Haare hängen feucht und verknotet hinab, meine Arme sind immer noch von einer dünnen Gänsehaut überzogen, und meine Hände und Knie zittern wieder.

Meiner Kräfte beraubt, lehnen ich mich zurück und versuche mich zu beruhigen.

Ich weiß nicht, wie lange ich hier so sitze, aber langsam, ganz langsam wird meine Atmung wieder regelmäßig und tief. Die Sonne trocknet Schweiß und Haare. Die Aufregung versickert, meine Hände zittern kaum noch, und meine Knie wirken einigermaßen stabil, selbst die Gänsehaut ist zurück gegangen und nur noch vereinzelte Härchen stehen aufrecht.

Alle Anzeichen auf das Erlebte verschwinden langsam, dafür wird die Erinnerung stärker.
Vermischt sich mit den anderen.

Sie drohen mich zu überrollen, wie eine Welle, unter sich zu begraben, und nur mit Glück wieder freizugeben.
Und selbst dann bleibt das Gefühl des Ertrinkens weiterhin, die Gefahr des Ertrinkens besteht weiterhin, bis ich gerettet werde, und das, das wird nie passieren. Ich werde nie gerettet werden können.
Die Wellen werden mich nie verlassen, immer wieder zurückkehren, um von vorne zu beginnen. Immer und immer wieder neu, bis ich daran zerbreche.
Und irgendwann werde ich keine Kraft mehr haben.
Keine Kraft um nach oben zu schwimmen, mich gegen die Welle zu stellen, zu kämpfen.
Dann werde ich aufgeben, und selbst aufgegeben sein.
Nur noch ein Wrack meiner selbst, zerschellen an den Klippen, die sie mir gebaut haben.
Und dann haben Sie gewonnen, mich gewonnen.
Dann haben die gewonnen und mich zerstört.
Denn dann habe ich aufgegeben.
Wurde zerdrückt von den ungeheuren Wassermassen, die mir die Luft zum Atmen rauben.
Bin ertrunken. Ertrunken in dem Meer aus Erinnerungen, die wie Wellen auf mich einbrechen.
Völlig unberechenbar, bis auf die Tatsache, dass sie kommen, und mir irgendwann den Untergang bringen werden.
Ich werde in den Fluten ertrinken. Ertrinken und lächelnd werden Sie mir zum Abschied winken.

Das verhängnisvolle Geräusch, das seine Schritte auf dem Boden gemacht haben, sein Atem, und sein Schatten.
Ihre Gesichter, ihre Hände, ihre Schatten, ihre Stimmen, ihre Taten.

Die Bilder erscheinen vor meinem inneren Auge, jagen mir wieder Angst und Schrecken ein.
Brechen über mir herein, reißen mich mit sich in die Tiefen.

Ich drohe zu versinken, ich spüre wie ich sinke.
Tiefer und tiefer.
Hinab, so tief, dass ich nicht weiß, ob ich dieses Mal wieder auftauchen werde. Ob ich diesmal kämpfen werde. Ob ich diesmal aufgeben werde. Ob sie schon jetzt gewonnen haben.

Alles verschwimmt, wird zu einer Masse.
Die Welt um mich herum verwandelt sich.
Bilder verschwimmen und setzen sich neu zusammen.
Altes und neues, vertrautes und fremdes.
Alles verschwimmt.

Geräusche und Bilder, Erinnerungen und Fantasie.

Rauschen.
Lautes Rauschen.
Und mittendrin einzelne Stimmen.

Stimmen, die über belanglose Dinge reden.
Stimmen, die ich nicht kenne.
Stimmen, die ich nicht zuordnen kann.
Stimmen, die sich nach mir ausstrecken, mir zuflüstern, ihnen zu folgen, mich an ihnen fest zu klammern und einfach nur zu vertrauen.
Stimmen, die mir ein Rettungsring im sicheren Untergang sind.

Und ich halte mich fest, lasse mich von ihnen tragen.

Die Welt nimmt wieder Form an.
Lässt mich wieder fühlen, sehen, hören, nicht nur denken.
Die Sonne auf meinem erschöpften Gesicht, die Menschen um mich herum, die Stimmen der Menschen.

Jeder einzelne von ihnen schenkt mir eine Sicherheit, die sie nur gemeinsam schaffen können.

Die junge, strahlende Frau mit dem Kinderwagen, in den sie mit einem liebevollen Blick hineinschaut.
Der Familienvater, der mit seinem Sohn auf den Schultern, seiner Tochter an der einen und seiner Frau an der anderen Hand, durch den Park spaziert und den freien Nachmittag mit der Familie genießt.
Das alte Ehepaar, die glücklich Hand-in-Hand den ersten warmen Sonntag dieses Jahres nutzten und sich über die Natur freuen.
Der Jogger im schwarzen Hoodie und kurzer Sporthose, die Kapuze sein Gesicht verdeckend, sodass man nur seinen Dreitage-Bart und die Kabel seiner Kopfhörer sieht.

Bei seinem Anblick kehrt die Gänsehaut wieder zurück, und mein Puls steigt weiter.
Ich muss zweimal hinschauen, starre den großgewachsenen Mann offensichtlich an.
Er kommt mir bekannt vor, und das heißt bei seiner Aufmachung nichts gutes.

Meine Augen hüpfen über die Menschen um mich herum, aber keiner von ihnen scheint ansatzweise so bedrohlich wie mein Verfolger, selbst der Jogger nicht.

Lachend und schnatternd mischt sich nun auch eine Gruppe Jugendlicher unter die Menschen, und ich staune darüber, wie unbesorgt und glücklich sie wirken.
Waren wir auch so? War ich jemals so?
Wehmütig schaue ich ihnen hinterher.

Der Jogger, die junge Mutter, der Familienvater, das Ehepaar, die Jugendlichen sind längst in der Masse verschwunden, zur Masse geworden, genauso wie mein Verfolger, aber nicht so die Angst, die mir immer noch tief in den Knochen sitzt.

Einige der Passanten werfen mir mitleidige Blicke zu, und bei jedem einzelnen von ihnen zerbricht etwas in mir.

Ein Teil von mir.
Ein Teil, den ich nicht rechtzeitig schützen konnte.
Ein Teil, den ich abgeschoben habe.
Ein Teil, der seit Monaten Stück für Stück immer mehr in zehntausend Splitter zusammenfällt.
Ein Teil, den ich aufgegeben habe.
Nicht mehr retten muss, nicht mehr retten kann, nicht mehr retten will.
Weil ich ihn aufgegeben habe.
Weil sie ihn zerstört haben.

Ewigkeiten sitze ich hier und lasse das Treiben auf mich wirken, verliere mich in ihm und bleibe trotzdem hier, halte mich an den Menschen fest, die gar nicht wissen, dass sie mein Anker sind.

Eine schwarzhaarige Frau in meinem Alter kommt unschlüssig auf mich zu.
Auf den Fuß folgt ihr ein hellbrauner, fast weißer Hund, der laut hechelnd sein scharfes Gebiss zeigt und demonstrativ die Zunge aus seiner Schnauze hängen lässt.

„Ist alles okay bei dir? Du sitzt hier ja schon etwas länger und du siehst auch so aus, als hättest du geweint. Deine Augen sind ganz rot, genauso wie deine Nase und vor allem deine Wagen", fragt sie vorsichtig mit besorgter Stimme.

Kraftlos schüttel ich den Kopf und trockne meine Tränen, die ich wohl unbewusst vergossen haben muss.

Der alte Mann, der sich vor wenigen Minuten neben mich auf die Bank gesetzt hatte, steht wortlos auf, und macht dem netten Mädchen Platz.
Selbstverständlich setzt sie sich neben mich und fängt an zu kramen.
Während sie sich mit der Leine arrangiert, mache ich mich auf die Suche nach einem Taschentuch, um mir auch die Nase zu putzen und bestenfalls alle Spuren des eben Geschehenen wenigstens äußerlich verschwinden zu lassen.

Doch in den Taschen meiner Jeansjacke finde ich keine, egal wie oft ich in die Taschen fasse.
Plötzlich wird mir von links wortlos eine rosa Packung entgegengehalten. Dankbar nehme ich sie an und ziehe ein Taschentuch heraus.

Ebenso wortlos will ich der Asiatin die übrigen Taschentücher zurück geben, doch mitten in der Bewegung halte ich inne, mein Blick ist an der weißen Schrift auf dem hellblauen Plastik hängengeblieben und ich schaue mir den Aufdruck genauer an.

Der Spruch bringt mich zum Schmunzeln und bei dem Liedtext kommen Erinnerungen hoch.

„Just stop your crying, it's a sign of the times!", rezitiert die Besitzerin ohne einen Blick drauf geworfen zu haben. 
„Komm her, Fiete. Lass das arme Eichhörnchen, oder was auch immer. Wir haben gerade deutlich größere Probleme", weist sie ihren Hund energisch zurecht und zieht einige mal kraftvoll an der grauen Hundeleine und schon Sekunden später erscheint sein Kopf im Gebüsch.

„Hier her! Du kennst die Regeln!"
Ohne zu zögern setzt er sich in Bewegung und liegt schon wenige Augenblicke später zu unseren Füßen.

„Gut! Fein gemacht!"
Bei ihren Worten krault sie ihm den Kopf und Ohren. Entspannt lässt das große Tier den Kopf sinken und bettet ihn auf seinen Vorderpfoten.

Jetzt wendet sie sich wieder mir zu.
„Sign of the times von-" „Harry Styles. Ich weiß", vollende ich und mein Gesicht entspannt sich etwas.

„Aber er hat recht! Egal was oder wer es war, du solltest aufhören zu weinen. Du kannst es nicht ungeschehen machen."
„Aber ich würde so gerne!", flüstere ich ganz leise. Die Worte kommen mir kaum über die Lippen, und ich bin mir nicht sicher, ob sie sie gehört hat.
Mitleidig schaut sie mich von der Seite aus an.
„Ich kenn das! Aber du kannst nicht. Das geht nicht. Es einzige, was du tun kannst, ist vergessen, und neu starten."
Traurig nicke ich.
Sie hat recht, und trotzdem hilft es mir nicht.
Beides habe ich versucht, und beides scheint unmöglich.
Beides wird von ihnen verhindert.

„Warum?", wechsel ich das Thema, bevor ich Dinge sage, die wirklich niemand zu Ohren bekommen sollte.
Dieses mal ist meine Stimme etwas lauter und fest.

„Warum was?"
„Warum machst du das? Zu mir kommen. Mir helfen. Mich trösten. Mit mir reden. Mich aufmuntern. Mir deine Harry Styles Taschentücher geben."

Die letzten Wörter kann ich nicht ohne ein Schmunzeln  rüberbringen, obwohl der Rest der Fragen durchaus ernst gemeint war.

„Weil du Hilfe brauchtest", antwortet sie schlicht.
„TPWK, you know?"
Ich muss grinsen.
„Treat People with Kindness", zitieren wir zeitgleich und lachen los.

„Außerdem sahst du verdammt verloren aus, wie du da zusammengesackt saßt. Wie ein Häuflein Elend und hast dich kein Stück bewegt. Nur die vorbei gehenden Menschen angestarrt. Trotzdem hast du sie nicht gesehen.
Ich habe dich schon etwas länger beobachtet gehabt, ich hoffe, das ist nicht schlimm?", entschuldigend sieht sie mich an.

„Aber dann lief dir stumm die erste Träne runter, aber du schienst es garnicht zu merken, und dann wurden es immer mehr. Du sahst immer hilfloser, immer verlorener aus."

Sie macht eine Pause und schaut nachdenklich in die Menge, während sie ihren Hund, Fiete, wieder zwischen und hinter den Ohren krault.

„Zwischendurch, für wenige Minuten, sah es so aus, als wärst du gar nich' da. Mit den Gedanken ganz wo anders. In der Zeit wurden die Tränen mehr. Du hast dich an irgendwas erinnert, und diese Erinnerung zerreißt dich von innen."

Sachlich fasst sie die, durchaus komplexe Situation, für sich und mich zusammen.

Ihre dunklen, beinahe schwarzen Augen wenden sich wieder mir zu.
„Ich konnte einfach nicht zu sehen, wie du so leidest, und nur stumm daneben stehen. Ich hoffe, du bist mir nicht böse?"

Völlig verdattert schüttel ich den Kopf.
„Ne ne, ist gut so. Ich bin froh, dass du gekommen bist. Sonst säße ich morgen noch hier", antworte ich ihr ehrlich.

„Puh", erleichtert hält sie mir die Hand hin.
„Also ich bin Miju und das Fiete, mein treuer Begleiter. Nh, mein Großer, das bist du."
Liebevoll beugt sie sich zu ihm hinab und streichelt ihm durchs Fell.

Dann richtet sie sich schnell wieder auf und blickt mir erwartungsvoll mit leuchtenden Augen ins Gesicht.

„Ich bin Aimée. Schön dich kennen zu lernen!"

„Aimée... Aimée..."
Ein paar mal wiederholt sie den Namen, mal schnell, mal langsam, als würde sie ihn ausprobieren wollen.

„Aimée, ein sehr schöner, aber außergewöhnlicher Name, oder?"
Sie lässt mir keine Zeit zu antworten.
„Weißt du was, Aimée? Warum ich auch zu dir gekommen bin. Den Hauptgrund eigentlich?"
Ihr schmalen, rosigen Lippen verziehen sich zu einem Lachen.

„Weil ich schon ewig, seit Jahren, diese Taschentücher bei mir trage, und sie schon immer jemandem wortlos anbieten wollte, der vielleicht mehr hinter den Worten sieht, so wie ich, versteht was sie bedeuten, und zwar nicht nur sprachlich"
Feixend sieht sie mich an.

Laut pruste ich los.

Es fühlt sich gut an einfach nur eine junge Frau ohne jegliche Sorgen zu sein.

Ohne drauf achten zu müssen, was als nächstes passiert oder kommt, einfach nur im Park sitzen und sich unter Menschen mischen, unbeschwerte Gespräche führen, neue Leute kennenzulernen ohne drüber nachdenken zu müssen, ob sie 'echt' sind.

„Das ist natürlich auch ein guter Grund!"
„Ja, ich weiß. Wenn nicht sogar der beste. Hätte auch schief gehen können. Stell dir vor ich hätte dir die Taschentücher gegeben, aber du hättest nicht geschnallt um was es geht, und sie mir ohne 'n Reaktion zurück gegeben.
Dann hätte ich eine von zehn möglichen Chancen vertan Gleichgesinnte zu finden. Zum Glück gehörst du zu den Guten!"
Verschwörerisch zwinkert sie mir zu und tut so, als würde sie mir unauffällig eine VisitenKarte zustecken. Immer noch schmunzelnd spiele ich ihr spiel mit.

„Wie gut, dass uns niemand beobachtet. Die würden denken wir sind verrückt."

Da wär ich mir nach eben lieber nicht so sicher.
Doch den Gedanken spreche ich nicht aus, schließlich muss ich sie nicht unnötig beunruhigen.
Das Ganze hat auch nichts mit ihr zu tun, also brauchst du jetzt bloß kein schlechtes Gewissen bekommen, nur weil du ihr die Wahrheit verschweigst, ermahne ich mich selbst.

In der Zwischenzeit ist Fiete aufgestanden und trottet unruhig vor uns hin und her.

„Wir sollten dann mal", gesteht Miju und steht schwungvoll auf.
„War schön dich kennen zu lernen. Hast du Lust dich mal auf 'nen Kakao oder Kaffee mit mir zu treffen? Dann könnten wir mit etwas mehr Zeit quatschen und vielleicht auch ungestörter. Also ich hätte mega Bock dich näher kennenzulernen."

Auch ich bin nun aufgestanden und erwartungsvoll blickt sie mich an.

„Gerne!", stimme ich ihr zu. Schon jetzt freue ich mich auf unser Treffen. Endlich mal reden, von andern hören, ohne ständig alte Themen wieder und wieder durchzukauen.

„Hast du - Ach ne, warte! Tada!", grinsend zieht sie die Plastikpackung und einen pinken Kuli aus der großen Tasche ihres warmen Mantels.
„Wofür diese Taschen alles gut sind. Ich verliere immer, wirklich immer irgendetwas in ihnen. Tja. Irgendwann kommt es doch immer wieder zum Vorschein."
Schulterzuckend lässt sie alles außer den zwei Dingen wieder hineingleiten.

Sehr zu Fietes Leidwesen.
„Nein, Fiete! Für dich gab es heute schon genug Leckerli! Du wirst noch ganz dick."
Feiner Staub und einige wenige Brösel rieseln auf den dreckigen Boden und Fietes Schnauze, die er seinem Frauchen hechelnd entgegenstreckt.

„Immer wenn ich irgendwas in diesem Mantel suche, fühle ich mich wie Hagrid, das ist ganz sicher nicht mehr normal. Aber wer möchte schon normal sein? Hm?"

Bei den Worten kritzelt sie schnell etwas unordentlich eine ellenlange Handynummer auf das oberste Taschentuch und reicht mir die gesamte Packung.

„Du meldest dich bei mir!", fügt sie hinzu, während ihr Kugelschreiber wieder in den Tiefen ihres Mantels verschwindet.

„Willst du nicht deine Taschentücher wieder haben? Um weiter auf geheime Mission zu gehen?", halte ich sie zurück.

„Ne ne, ich glaube ich habe keinen Bedarf mehr daran. Habe eben meine Partneragentin gefunden, da brauch ich niemanden mehr.
Es wirkt so, als ob sie ein Griff in eine Goldgrube war, obwohl ich geneigt wäre, sie demnächst in besserer Verfassung zu Gesicht zu bekommen.
Trotzdem sieht es so aus, als hätte ich heute 'nen dicken Fang gemacht.
So gut, dass er für die nächsten Jahre reichen sollte. Oder was meinst du Fiete?"

Sie geht in die Knie und tätschelt ihm den Kopf. Gleichzeitig verschwindet ihre Hand im Mantel und kommt erstaunlich schnell wieder mit einer Hand voller Hundeleckerlis zum Vorschein.

„Hier nimm!"
Sie streckt mir die volle Hand entgegen. Zögernd nehme ich die braunen Krümel in die Hand und halte sie Fiete entgegen.
Wie eine Brunnenfigur eingefroren stehe ich da.
Mein ganzer Körper versteift sich.

„Hast du etwa Angst, Aimée? Vor Fiete? Braucht du nicht. Der tut nichts!"
Sanft zieht sie meine Hand auf die Höhe seines Kopfes. Vorsichtig schnuppert er an meiner Hand, dann berührt seine nasse Schnauze meine kalte Haut und lässt mich zurück zucken.

„Komm!"
Miju sieht mich aufmunternd an, und seufzend hocke ich mich neben sie.

„Ahh, das kitzelt", kicher ich als der Hund anfängt nun auch meine Hand abzuschlecken, bis auch der letzte Krümel sicher von meiner Hand verschwunden ist.

Mit großen schwarzen Augen schaut er mich an.

„Ich hab nichts mehr. Alles alle!"
Entschuldigend zeige ich ihm meine leeren Hände.

„Was ist er eigentlich für einer?", wende ich mich wieder an Miju und richte mich auf.

„Hauptsächlich 'n Golden Retriever, aber mit tausend anderen Arten gekreuzt. War nie ganz klar, was alles in seinem Blut fließt. Von allem ein bisschen", führt sie ihre Antwort immer weiter aus.
„Guck, so schlimm war's doch nicht, oder?"
„Naja, meine Hand ist jetzt voll mit Hundesabber, aber sonst..."

Lachend steht nun auch meine neue Freundin auf.
„Ich glaube wirklich, ich muss mal los. Du rufst mich an?" Ich nicke vor freudig.
„Wo musst du lang?"
„Keine Ahnung, ich schau gleich mal. Kann komplizierter werden, also geh schon mal. Wir sehen uns dann irgendwann in der nächsten Woche und telefonieren vorher. Bis da-"
Da sind die Arme der kleinen Asiatin schon um meinen Körper geschlungen und drücken mich fest an sie. Erfreut erwidere ich die unerwartete Umarmung.

„Dann bis bald! Meld' dich schnell! Bin ziemlich busy nächste Woche, und vergiss deine Kamera nicht."

Verdattert blicke ich mich um. Die Kamera liegt alleine und verlassen auf der Bank. Wie sie dort hin gekommen ist, weiß ich nicht.

Ich kann mich noch nicht mal daran erinnern, sie bei meiner Flucht oder danach dabei gehabt zu haben.

„Dank-", doch ein Blick über die Schulter lässt mich verstummen. Muji ist schon längst in den vielen Menschen verschwunden.

Ob sie die Kamera gefunden hat und nur zu mir gekommen ist, um sie mir wieder zu geben? Hat sie mich und meinen Verfolger gesehen?

Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken.
Wahrscheinlich wird sich das nie ändern, wenn ich an sie denke.

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