08. Dezember
Am nächsten Morgen war Smilla entgegen ihrer üblichen Gewohnheiten nun schon den zweiten Tag in Folge überraschend früh auf den Beinen. Sven werkelte bereits in seiner Backstube und war inzwischen nicht mehr ganz so überrascht, wenn Smilla so still wie jeder andere Mensch auftauchte. Allerdings fehlte ihm ihr Gesumme. Früher wünschte er sich tatsächlich hin und wieder einmal Momente der Ruhe. Da wusste er noch nichts davon, wie schrecklich sich ungewollte Stille anfühlen kann. Smilla wirkte jedenfalls zumindest nicht mehr ganz so niedergeschlagen wie am Vortag. Ja, Sven würde sie rückblickend vielleicht sogar als leicht energisch beschreiben.
Als am Abend zuvor das Wort 'Erdbeertörtchen' laut aus Smilla's Mund purzelte, war das wie eine Befreiung. Sie hatte das sichere Gefühl, mit ihrer Suche nach dem gewissen ETWAS einen gewaltigen Schritt vorwärts gekommen zu sein. Vielleicht lag ja hier auch schon die Lösung vor ihr. Den ganzen Abend hatte Smilla danach im Bett zugebracht, alte Rezepte durchgelesen und sich eifrig Notizen gemacht. Die Törtchen sollten einen weißen Vanilleboden bekommen, darüber eine dicke Schicht frischer Erdbeeren mit Glasur und oben drauf als Dekoration frische grüne Minze. Farblich passte das wunderbar in die Weihnachtszeit. Sie konnte förmlich den Saft der Erdbeeren schmecken, während sie an ihrem neuen Rezept schrieb. In eine Tabelle trug sie alle Zutaten ein und berechnete Mengen wie auch die Kosten.
Wie Sven ihr geraten hatte, machte Smilla sich nun gut vorbereitet auf den Weg, um bei Klaas van Frugteren die wichtigste Zutat - große, rote, saftige und frische Erdbeeren - einzukaufen. Klaas war der beste Obstverkäufer in Gnuffelsborg. Genau wie Sven die einzige Bäckerei betrieb, führte Klaas den einzigen Fruchthandel der kleinen Stadt, was allerdings in beiden Fällen dennoch höchste Qualität versprach. Wie schon erwähnt, machte ja in dieser Ansiedlung mitten in Rubina jeder gerade das, was er am besten kann. Es war also eher normal, dass es die meisten Berufe und Gewerke nur einmal gab.
Gerüchte wussten zu berichten, dass die Vorfahren von Klaas irgendwann nach Nordanien eingewandert wären und ursprünglich aus den sogenannten Niederlanden stammten. Dagegen weiß doch bereits jedes Kind, dass es außerhalb Nordaniens nichts gibt, als frostige Einöde. Nordanien hörte einfach an seiner äußeren Grenze auf und wo man nicht raus kommt, geht auch keiner rein.* Allerdings waren alle van Frugteren nicht ganz so gemütlich rund im Körperbau und auch etwas größer als die anderen Gnuffels. Sie nannten sich untereinander 'Dutchman' [datschmaen], auch die Frauen und sprachen mit einem eigenartig kehligen Akzent.
Auf dem Weg begegneten Smilla viele Gnuffels. Alle wünschten ihr Glück bei der Suche nach einem neuen ICH, sprachen ihr Mut zu und von der Hoffnung, Smilla möge bis zum großen Feuer vielleicht doch noch eine neue Leckerei erfinden, man würde sich allerdings auch wieder über die gewohnten Plätzchen sehr freuen. Smilla war ergriffen und bedankte sich höflich. Sie rückte dann jedesmal etwas verlegen ihre Brille wieder gerade und ging eiligen Schrittes weiter, um ihren gestern gefassten Entschluß umsetzen zu können.
Nach kurzer Zeit erreichte sie dann auch den Obsthof der van Frugteren. Das Wohnhaus hatte lustigerweise die Form und Farbe einer reifen Ananas. Man konnte es also weder übersehen noch verwechseln. Hier war alles frisch und knallbunt. Klaas erwartete Smilla bereits vor seinem kleinen Laden und hielt ihr galant die Türe auf. "Guten Morgen Smilla, ich freue mich, dich zu sehen. Du wurdest auch schon fleißig angekündigt." begrüßte er sie lachend. Man kannte sich sehr gut. Die Bäggerssons waren inzwischen nicht mehr einfach nur sehr gute Kunden, sondern sie wurden als Freunde der Familie betrachtet. Doch Smilla war heute viel zu aufgeregt für den üblichen Plausch. Sie kam direkt auf den Punkt. "Hallo Klaas, sicher hast du gestern bereits in der Zeitung gelesen, was mich umtreibt. Ich komme also nicht zufällig zu dir. Du kannst mir gerade sehr helfen. Ich brauche bitte Erdbeeren und Minze, beides absolut frisch und jeweils soviel, wie du hast. Allerdings muss alles blitzschnell zu unserer Backstube geliefert werden. Schaffst du das?" Diese Worte sprudelten flink und ohne Satzzeichen in einem einzigen Atemzug aus Smilla heraus. Jetzt schaute sie ihn erwartungsvoll an.
*Hier verweise ich auf "Die Feuersucher", welche zu einem etwas späteren Zeitpunkt das Gegenteil dieser Ansicht anschaulich bewiesen.
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