Heather
Den ganzen Tag über begleitete sie ein merkwürdiges Gefühl. Wie eine schwere Wolke hing es über ihr. Am Morgen, als sie aufstand um mit ihrem Hund eine Runde zu laufen, bemerkte sie es das erste Mal. Gerade als sie aus dem Haus trat, überkam sie ein kalter Schauer. Zitternd stand sie dort, die Arme um sich geschlungen, und starrte in den trüben Morgen hinaus. Auch in die Stadt zu gehen hatte sie einige Überwindung gekostet, aber der Verlockung einiger neuen Bücher für die Semesterferien konnte sie nicht widerstehen. So verließ sie den kleinen, einsamen Laden mit schweren Taschen in jeder Hand. Niemand war weit und breit zu sehen, nur ein unscheinbares mattschwarzes Auto parkte ihr gegenüber vor der Apotheke. Jetzt schlug die Unsicherheit wieder mit aller Macht über ihr zusammen. Hektisch atmend warf sie einen Blick zurück und eilte in die schmale Gasse, die ihr immer als Abkürzung diente. Die Backsteinhäuser zu ihren beiden Seiten warfen Schatten, die sich in ihren Augenwinkeln zu unförmigen Gestalten verbanden. Einen Moment später ließ der kalte Ruf eines fremden Mannes hinter ihr sie zusammenfahren. Und es war nicht einmal die Situation, die sie so sehr erschreckte, viel eher war es der messerscharfe Ton, der ihr die Worte unter die Haut schnitt.
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Man könnte beinahe meinen, es wäre die Unruhe, die seine Finger auf dem Lenkrad tanzen ließ. Dabei war es nur die Leere, die seinen Geist besetzte - und der Drang, sie zu füllen. Endlich zu vergessen, endlich Frieden mit sich selbst schließen zu können. Mit sich selbst, und, noch weitaus wichtiger, mit seiner Vergangenheit.
Sie war perfekt für seine Pläne geeignet. Sie musste es sein, schließlich hatte er die letzten zehn Jahre damit verbracht sie zu suchen. Gemeinsam mit den anderen, die ihm das wiedergeben sollten was sie ihm damals genommen hatten.
Still und ausdruckslos beobachtete er das Mädchen mit den langen braunen Haaren auf der anderen Seite der Straße. Zufrieden mit sich und der Welt trug sie dieses kleine, spezielle Lächeln auf ihren Lippen, das sie zu seiner Wahl gemacht hatte. Ihr Verhängnis. Jetzt betrat sie mit einem kurzen Blick über die Schulter die dunkle Seitenstraße. Fühlst du es Kleines? Kannst du es unter deiner Haut spüren? Du irrst nicht, deine Zeit ist gekommen.
Mit einem tiefen Atemzug öffnete er die Tür, versicherte sich, dass niemand ihn bemerken konnte und sprang aus dem Wagen.
"Wohin des Weges Heather?", rief er ihr zu, als er kaum mehr zwei Schritte von ihr entfernt war. Es erfüllte ihn mit Genugtuung zu sehen, wie sie zusammenzuckte. Dass sie sich nicht umdrehte dagegen versetzte ihn in einen Zwiespalt. Sollte er ihr großen Mut oder noch größere Feigheit zurechnen? "Läufst du vor mir davon?", säuselte er. "Du hast doch keine Angst?"
Er konnte fast erahnen, wie sie sich versteifte. Jetzt lief er direkt hinter ihr. So dicht, dass er auf ihren Nacken starrte, auf dem sich die feinen Härchen angstvoll aufgestellt hatten.
Plötzlich fuhr sie doch herum, das Gesicht in einer köstlichen Mischung aus Wut und Panik verzerrt. "Lassen Sie mich in Frieden!", flüsterte sie mehr als das sie schrie.
Über die Ironie dieses Ausrufs konnte nur er lachen. Und das tat er, kurz und hohl. Zu nah war die Befreiung, zu berauschend die Aussicht endlich zu bekommen was er begehrte.
Mit seinem rechten Arm griff er nach ihrer Schulter und zwang sie zum Stehen. Wider Erwarten machte sie keine Ansichten sich zur Wehr zu setzten. Innerlich mit den Schultern zuckend nahm er diesen Umstand resigniert zur Kenntnis. Heather machte es ihm leicht, sie zu seinem zweiten Wagen zu schleifen, dem gestohlenen, der auf der anderen Seite des Weges parkte. Dort angekommen sah er auch, warum sie alles über sich ergehen ließ. Als er sie umdrehte um sie auf den Rücksitz zu drücken warf er einen Blick in ihre glasigen Augen. Das Mädchen befand sich irgendwo nahe der Ohnmacht. Schnaubend stemmte er sie hinein und warf die Tür zu. Wieder suchte er sein Umfeld nach Lebenszeichen ab, aber die triste Gegend lag wie tot vor ihm.
Beschwingt ließ er sich hinter das Lenkrad fallen.
Nach keiner halben Stunde Fahrt erreichten sie ihr Ziel: ein fast schon unsichtbares Einfamilienhaus auf einer abgelegenen Landstraße. Prüfend warf er einen Blick in den Rückspiegel. Noch immer zeigte seine Begleitung keinerlei Regung. Als hätte sie sich bereits mit ihrem Schicksal abgefunden. "Wen kümmert's", murmelte er leise, "so macht sie es mir nur leichter." Mit diesem Wort schwang er sich heraus und hob Heather aus dem Auto. Ächzend unter ihrem Gewicht stampfte er den ordentlich geflasterten Trampelpfad entlang, der ihn genau zur Eingangstür führte. Mit einer Hand suchte er den Blumentopf davor nach dem Schlüssel ab. Und da war er, schimmerte silbern in der Nachmittagssonne. Begutachten hielt er ihn in die Luft. So, wie es das andere Mädchen mit den goldblonden Locken einige Tage zuvor getan hatte.
Als sie den Flur betrachten würdigte er die odentliche, einfach gehaltene Einrichtung mit einem kurzen Nicken. Dann wandte er sich Heather zu. "Nun komm und sieh dir an was ich dir zu zeigen habe", wies er sie an ihm zu folgen. Sie stellte eine halb entsetzte, halb verunsicherte Miene zur Schau und beeilte sich hastig, seinem Befehl Folge zu leisten.
"Das hier", er deutete auf ein gerahmtes Bild an der Wand, "ist die gute Dahlia. Putzig nicht wahr?" Das Photo zeigte das Mädchen im Alter von vielleicht zwölf Jahren mit ihren Eltern an ihrer Seite. Es war eines von der Sorte, die er nie länger ansehen mochte. "Sieh sie dir an! Und jetzt schenke mir deine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich will dir eine Geschichte erzählen." begann er seine Ausführungen. "Dahlia hatte alles was sie wollte, eine gesunde Familie, ein schönes Haus, viele Freunde und, um ihr Glück", bei dem Wort kräuselte er die Stirn, "zu vervollständigen, bekam sie von ihrer Mutter zu ihrem sechzehnten Geburtstag einen süßen Welpen geschenkt." Demonstrativ wies er auf ein weiteres Bild auf dem ein schwarzer Pudel zu sehen war. "Oskar wurde schnell zu ihrem Ein und Alles, noch mehr, als ihre Eltern keine fünf Wochen später bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben kamen." Er ließ eine Pause, um seine Erzählung ganz zu Heather durchdringen zu lassen. "Heute sind es exakt zwei Jahre seit diesem Tag. Das hier", hinter seinem Rücken beförderte er eine Schachtel hervor, "hat sie gestern für ihren Hund gekauft. Denn was könnte sie an diesem Tag besser aufmuntern als dessen Freude?" gekünstelt lachte er.
"Und nun Heather, ist dein Einsatz gefordert. Tritt näher!" sagte er auffordernd gestikulierend. Als sie mit wackeligen Schritten auf ihn zugestolpert kam, hielt er ihr ein harmlos aussehendes Fläschchen entgegen. "Nimm es!" Sie ließ zu, dass er ihr es in die Hand drückte. Dann hob er den Deckel der Schachtel an und befahl ihr, einige Tropfen des Inhalts der flüssigen Lösung darin zu verschütten. Die Erkenntnis in ihren Augen brachte seine Mundwinkel zum Zucken. "Entweder du", raunte er verschwörerisch, "oder der Hund." Man konnte ihr das angestrengte Ringen mit sich selbst förmlich ansehen. Geschlagene zehn Minuten später war die Entscheidung gefallen. Heather erfüllte ihre Rolle in seinem Spiel.
Beim Herausgehen flüsterte er mit einem Grinsen in der Stimme: "Es war ja nur ein Tier, nicht wahr?" Ihr liefen stumme Tränen über die Wangen, die auch dann noch nicht veronnen waren, als er sie schließlich wieder ausgesetzt hatte.
Tief einatmend zog er sich Maske und Handschuhe ab, wand sich aus seinem Mantel und setzte die Flasche an seinen Mund, um den Rest daraus zu trinken. Mit Genugtung begrüßte er das Gefühl der Freiheit, dass er nun seit langer Zeit wieder zu fühlen befähigt war.
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