8 - Gewalt

Am Ende richtet sich die Gewalt gegen den, der sie ausübt.
Vielleicht fühlt sich derjenige dann als Opfer.
Denn der Schleier des Vergessens hat sich längst über die einst begangene Tat gelegt.

Würdest du den ersten Stein werfen?

※※※

Heute ist so ein Tag, an dem ich am liebsten die Tür meiner Hütte verschlossen behalte. Ohne mich bewegen zu müssen, fühle ich den eisigen Frost und den dicken kalten Mantel, welche sich auf die Erde gelegt haben. Der Wind heult in schaurigem Jammer um mein Haus.

Vehement versuche ich meine Körperreaktion auf diese Kälte in Schach zu halten. Die kleinen Eichhörnchen befinden sich immer noch in ihrem heilsamen Schlaf. Mit leicht gespitzten Lippen entlasse ich den Schauer mit meinem Atem in die Luft.

In meiner starren Haltung überkommt mich das Gefühl von etwas oder jemandem beobachtet zu werden. Bohrend gräbt es sich in mich hinein. Es fällt mir schwer, dem Impuls hinzusehen zu widerstehen. Immer wieder fühle ich, wie mein Kopf zur linken Seite zuckt. An meinem Körper richten sich die Härchen auf und das Atmen fällt mir ebenfalls immer schwerer.

Ein stechen weitet sich in meinem Kopf aus. Dröhnend schallt das Geräusch des erlöschenden Feuers im Kamin, an das innere meines Schädels. Ein Keuchen entfährt mir und damit wende ich meinen Kopf. Der Schatten ist im selben Augenblick verschwunden. Nicht jedoch die Schmerzen.

Die zarten Eichhörnchen bewegen sich und auch Jie hebt brummend seinen Kopf. Bemüht das Pochen in Schach zu halten, fülle ich meine Lungen mit Luft, immer wieder, versuche ich einen entspannenden Rhythmus zu schaffen. Jies Brummen lässt mich beruhigend meine Hand nach ihm ausstrecken.

«Alles gut, mein Brauner, es ist nur mein Kopf», meine Stimme ist kaum mehr als ein leises Flüstern, während ich weiter meinen Atem kontrolliere.

Ein leiser Ruf von draussen, lässt Lenny indes aufgeregt herumflattern. Mein Fokus schwächelt. Mit Rücksichtnahme auf die Eichhörnchen, stehe ich auf. Die beiden wiederum springen elegant zu Jie, auch sie lässt der Ruf von draussen unruhig die Köpfchen wenden.

Mit höchster Konzentration gehe ich zur Tür. Vollauf mit meinem Kopf beschäftig, kommt mir erst in den Sinn, dass ich vielleicht mit einer Jacke gut bedient gewesen wäre, als mir der eisige Wind entgegenschlägt. Augenblicklich frisst er sich durch mein dünnes Gewand und ich erschauere. In diesem Moment wird der Schmerz im Kopf durch den von tausenden Nadelstichen abgelöst, welche sich in meinen Körper bohren.

Nun da ich bereits so von Kälte durchdrungen bin, entscheide ich mich, kurz einige Schritte nach draussen zu gehen. Sofort wandert mein Blick in den Himmel und sucht dies Wolkendickicht nach dem Verursacher der Unruhe in meiner Hütte ab. Immer wieder stösst er seine kehlig geschmeidigen Laute aus. Etwas an seinem Ruf berührt mich und lässt mich alles vergessen.

Als würde mein Geist mit dem Bussard fliegen, sehe ich, was er sieht. Doch das Bild, welches sich mir gibt, passt nicht hier hin. Grüne Wiesen und Hügel und mitten in dieser sanften Anmut werden Zeichen von menschlicher Ordnung erkennbar. Als sich dann das stattliche Anwesen düster unter mir liegen sehe, holt mich der stechende Schmerz wieder in meine Wirklichkeit zurück.

Keuchend, von beissender Kälte durchdrungen, klammere ich meine Arme um meinen zitternden Körper. Mein Atem bildet weisse Wolken, welche sofort vom Wind mitgerissen werden.

Aus meiner Starre befreit, kehre ich schnell in den Schutz der Hütte zurück. Die Tür hinter mir schliessend, überkommt mich ein erleichtertes Aufseufzen. Gegen die Schmerzen hilft es nicht.

Mit zitternden Fingern greife ich nach meinem Wolltuch und schlinge es eng um meinen Körper. Vorsichtig, weil ich kaum etwas fühlen kann, nehme ich einige Holzscheite und lege sie auf die Glutresten.

Schnell züngeln neue Flammen um das Holz und beginnen es seinem Wandlungsprozess zu unterziehen.

«Ich muss mich hinlegen. Wollt ihr Wissen woran ich mich erinnere?»

Zaghafte Zustimmung geht durch den Raum, während ich mich unter meine Decke verkrieche und darauf warte, dass mein Körper wieder weiss, wie viele Extremitäten er hat. Langsam breitet sich das vertraute Kribbeln darin aus, während das Pochen in meinem Kopf erneut an Dominanz gewinnt. Lenny und die beiden Eichhörnchen setzen sich zu mir auf die Decke, während Jie es sich wieder am Boden gemütlich macht.

«Gut, na dann. Also in dieser Geschichte geht es um Geschwister, sie hätten Zwillinge sein können...», erfüllt meine Stimme die Hütte zittrig und trägt uns in weite Fernen.

※※※

Die schreiende Frauenstimme bricht sich durch die Stille über dem Anwesen. Vögel schrecken aus ihren Verstecken empor und suchen flüchtig das Weite. Schwarze Raben hüpfen über die Wiesen des Anwesens, ohne sich von den Schreien oder dem wabernden Nebel irritieren zu lassen. Hin und wieder gesellen sich ihre rauen Schreie zu jenen der Frau, wie von Schmerzen, Erschöpfung und auch Wut erzählen.

Im Schlafgemach der Lady des stattlichen Hauses wuseln die Bediensteten hin und her. Mit kühlen Lappen wird der Schweiss von ihrer Stirn getupft, eine Kammerzofe streicht der Lady das dunkle Haar aus dem Gesicht, während diese ihren Bauch mit wütenden Blicken niederstarrt.

Der teure Arzt steht bereits seit einiger Zeit eher nutzlos und überfordert neben dem Geschehen, während die Hebamme den Bediensteten Anweisungen und der Gebärenden stärkende Worte entgegenbringt.

«Das ist das letzte Balg, bei der heiligen Mutter...», brüllt Lady Uí Néill aus voller Leibeskraft, während sich der kleine Körper in ihr erbarmungslos, seinen Weg nach draussen in die kalte Welt bahnt.

«My Lady, gleich ist alles vorbei, dann geht das alles vergessen. Denkt an euer Kind. Sicherlich schenkt ihr eurem Gemahl erneut einen Sohn», redet die Bedienstete mit dem kühlen Lappen auf sie ein.

Ihre Stimme ist in einem beruhigenden Ton und dennoch ist es besser für sie, dass ihr der Blick ihrer Herrin entgeht, welcher die junge Frau wie Messer erstechen könnte.

Es dauert noch eine volle Stunde, bis das Gebrüll der Lady von einer sanfteren Stimme abgelöst wird. Die ersten Klänge, die das Neugeborene von sich gibt, lassen den Lord erleichtert aufatmen. Unsäglich war ihm dieser Lärm.

Wenige Augenblicke später erscheint der Arzt im Zimmer des Lords, um diesem die frohe Botschaft mitzuteilen. «Es ist ein Mädchen mein Lord, ein gesundes Mädchen.»

Der Lord sieht den blassen und arg mitgenommenen Mann an und schreibt dessen Begeisterung dem Ende dieser unsäglichen Situation zu. Einen Sohn hatte ihm seine Frau bereits geschenkt. Dementsprechend konnte es ihm egal sein. Er würde sowieso nie näher an das grosse Familienerbe kommen. Dafür müsste es schon so einige dahinraffen.

Ein Geräusch des Arztes, der nicht so recht wusste, wohin er mit sich sollte, holt den Lord zurück in die Gegenwart.

«Erwartet die Lady meine Anwesenheit?», fragt er nach kurzem Räuspern.

«Nun...der Name...my Lord», stammelt der Mann.

Kurz darauf hält der Vater das kleine Bündel im Arm, und sieht auf das hell und durchaus lieblich wirkende Gesicht.

«Ich nenne dich Finia. Finia Oí Néill.»

Damit übergab er sie der Kinderfrau und entschwand in seine Räume.

Finia, in den Armen der Amme begann zu weinen. Die geübte Kinderfrau schaukelt das wunderschöne Mädchen, deren Namen mehr als passend scheint. Ein rötlichblonder Haarflaum bedeckt den Kopf und in den nächsten Monaten wird sich zeigen, welche Farbe ihre Augen annehmen.

Zügig wandelt Einin durch die Gänge des Herrenhauses, während sie draussen neben den Rufen der Raben, nun auch jenen eines Bussards vernehmen kann. Als sie das Kinderzimmer des jungen Lord Deron erreicht, betritt sie dieses leise. Trotz des ganzen Trubels, schläft der Kleine seelenruhig in seinem Bett. Um die Kälte ihrer Eltern wissend, legt die Kinderfrau das Neugeborene neben dessen Bruder, der vor etwas mehr als einem Jahr das Licht der Welt erblickte.

Schlafend dreht sich der Junge zu dem Mädchen. Eine leise Träne der Rührung kullert Einin über die Wange. Ein wenig von ihrer Anspannung befreit, setzt sie sich in den Schaukelstuhl neben dem Bett und geht ihren Gedanken nach. Was wohl in der Lady vorgeht? Will kaum etwas von ihren Kindern wissen.

Die Amme schauert erneut und versucht sich den Gedanken zu entledigen. Es hilft alles nichts, bald wird die kleine Finia sie und ihre Milch brauchen.

Einige Jahre ziehen ins Land. Einin beobachtet die Geschwister draussen in den Gärten, wie sie tobend spielen. Sie würde später schnell die Kleider wechseln müssen, sonst würde die Lady wieder in Ärger verfallen, wenn sie diese ruiniert sähe. Dabei waren es so robuste Materialien.

«Deron warte, nicht so schnell», dringt Finias melodische Mädchenstimme über das Land.

«Komm schon, Fini, du musst dir schon Mühe geben.»

«Du bist gemein, ich bin kleiner als du.»

Das Lächeln der Kinderfrau verrät, dass sie das aufgebracht gerötete Gesicht des Mädchens genau vor sich sieht, auch wenn die beiden gerade um die Büsche jagen.

Hin und wieder leuchtet das rötlichblonde Haar Finias zwischen den Gewächsen auf, die Sonne meint es gut heute mit ihnen. Für einen Frühlingstag ist es aussergewöhnlich warm.

Nachdem sie den beiden noch eine Weile beim Spielen zusah, ist es Zeit sie für das Abendessen vorzubereiten.

«Deron, Finia, es wird Zeit.»

Etwas Geduld muss sie aufbringen, denn natürlich wollen die zwei erst einmal nichts gehört haben. Doch ohne, dass sie ein zweites Mal rufen muss, kann sie sie wenig später auf dem Weg zu ihr, ausmachen. Deron den Arm brüderlich um seine kleine Schwester gelegt und beide über das ganze Gesicht strahlend.

Nah genug, fixiert Deron Einin mit seinen dunklen, aber so sanftmütig warmen Augen.

«Du musst uns die Kletten aus den Haaren entfernen. Aber achte darauf, wer von uns mehr im Haar hat», mit schelmischem Blick sieht er zu seiner Schwester, «wobei ich glaube, auch so zu wissen, dass ich gewonnen habe.»

Einin verdreht spielerisch genervt die Augen und zupft neugierig in Derons schwarzem Haar.

Nach einer genauen Bestandsaufnahme ist klar, dass sie die beiden Waschen muss, damit sie auch nur ansatzweise ansehnlich zum Dinner erscheinen. Indes erklärt sich Deron zum Sieger, da Finias Haar eindeutig mehr Pflanzen aufwies.

Mit Wasser und einem warmen Lappen unterzieht Einin erst Finia einer gründlichen Wäsche, die diese mit freudigen Kieksern quittiert, weil sie sie dabei kitzelt. Anschliessend widmet sie sich Deron.

«Nein, nicht...», versucht er ihr zu entwischen, als sie sich seinem Rücken zuwenden will.

«Doch halt still...», erwidert sie, bevor sie verstummt und die roten Striemen auf dem Rücken des Jungen sieht.

Ein Schauer fährt ihr über den Rücken und Übelkeit breitet sich in ihrem Magen aus. Doch sie versucht sich nichts anmerken zu lassen und gibt acht, dass Finia die Spuren der Züchtigung der Lady nicht sieht.

Sie würde alles tun, um die beiden vor dieser strengen und mittlerweile verhärmten Frau zu schützen. Schon mehrfach hat sie mit sich gerungen und überlegt, ob sie es beim Lord ansprechen solle. Bisher jedoch fehlte es ihr an Mut. Die Angst wieder in die Armut geschickt zu werden überwiegt diesen. Also versucht sie den jungen Deron so gut es geht zu pflegen, wenn dieser wieder einmal den Zorn seiner Mutter weckte.

Was geht nur in der Lady vor, war sie schon früher so?, fragt sich Einin leise für sich, vielleicht der neue Priester? Seine Predigten unterscheiden sich von jenen des früheren Paters.

Löffel um Löffel schaufelt Einin ihre Mahlzeit für Bedienstete in sich hinein, ohne die Aromen der würzigen Brühe wahrzunehmen, die dennoch ihren Bauch wärmt.

«Finia, komm her. Du wirst ab jetzt dem Unterricht von mir und dem Pater beiwohnen. Es ist wichtig, dass du die Tugenden der Bibel früh einverleibst», durchschneidet die kalte Stimme der Hausherrin die Stille beim Frühstück an einem neblig kalten Morgen.

Der Sommer ging schnell vorüber und Lady Oí Néill beobachtete das Heranwachsen ihrer Tochter. Viel zu unsittlich, dieses Balg...sie würde es bald lernen, so viel ist sicher...

Von diesem Zeitpunkt an, muss Finia ihr wundervoll rötlichblondes Haar, welches engelhalft im Licht leuchtete, streng zusammengebunden tragen. Die Haube kann sie nicht ausstehen und mehr als einmal erwischt ihre Mutter sie dabei, wie sie an den Schnüren herumzieht. Jedes Mal bekommt sie dafür mit der Route eines auf die Finger. Anfangs quellen ihr die Tränen über.

Doch nach einigen Jahren der Strafen, schafft sie es sich diese auf später zu verkneifen. Sie hatte früher nie viel mit ihrer Mutter zu tun gehabt, sie vermisst diese Zeit schmerzlich. Das Einzige was noch grauenhafter ist, als diese Augenblicke mit ihr, sind die Stunden, die der Pater Finia und Deron das Lesen und Schreiben zu vermitteln versucht.

An einem ruhigen Morgen, schleicht sich Finia mit Deron nach draussen. Es ist später Herbst und der erste Schnee ist gefallen, doch die beiden lieben das helle Weiss und die dadurch entstehenden starken Kontraste der Natur. Während sie schweigend der Ruhe und ihren Schritten lauschen, beobachtet Finia Derons dunkle Augen, die in die Ferne gerichtet sind.

«Was denkst du?», fragt sie ihn leise, weil sie das flaue Gefühl im Magen nicht mehr aushält. Zu sehr gräbt sich dieser dunkle Schleier in seinen Augen in ihre Gedärme.

Als er seinen Blick ihr zuwendet, verschwindet dieser augenblicklich.

«Ich frage mich, was es sonst noch in dieser Welt gibt, was Mutter und der Pater uns nicht verraten.»

«Glaubst du, dass sie uns Dinge vorenthalten?»

«Nichts anderes kann der Wahrheit entsprechen.»

«Wieso denkst du das?»

«Weil alles, was ich hier draussen sehe, was ich in deinen Augen erkenne, von einer Liebe erzählt, die den beiden vollkommen zu fehlen scheint.»

Seine Stimme klingt hart und kalt, beinah, wie jene der Mutter.

«Du darfst sowas nicht sagen, Deron.»

«Und wieso nicht?», fragt dieser beinah wütend.

Das erste Mal erkennt Finia den jungen Mann in ihm, welcher er in der Zwischenzeit geworden ist. 14 Jahre zählt er bald.

«Weil...»

«Weil ich recht damit habe. Wie kann sie das nur tun? Finia, ist dir überhaupt klar, warum uns Einin vor einigen Wintern verlassen musste?»

Mit blassem Gesicht und geweiteten Augen, starrt sie ihren Bruder an. Sie hatte ihre Gedanken dazu gehabt, doch diese wurden immer wieder von der tiefen Trauer hinweggespült, die sie damals wie heute empfand. Sofort stehlen sich Tränen in ihre grünen Augen. Darauf werden Derons Gesichtszüge weicher.

«Entschuldige, das wollte ich nicht. Aber ich kann es einfach nicht mehr ertragen, wie sie mit dir umgeht.»

«Ich schaffe das schon, ich halte das aus, wie du.»

Abrupt bleibt Deron stehen und wendet sich so, dass Finia beinah in ihn hineinläuft. Erschrocken sieht sie empor.

«Sie dich um du kleiner Sonnenschein. Was siehst du?»

Finia sieht an ihm vorbei, hinaus in die Natur und augenblicklich überkommt sie ein erleichtertes Aufatmen.

«Schönheit und Frieden.»

«Genau und nun wende dich um und sie zum Haus.»

«Es ist so kalt und fahl.» Ein Schauer breitet sich während sie spricht über ihrem Körper aus.

«Richtig. Du bist das Licht da drin. Ich will nicht, dass du es aushältst. Es bricht mir das Herz zu hören, dass du es mir gleich tun willst. Dein Licht darf niemals ausgehen. Versprich mir das.»

Mit diesen Worten dreht er Finia erneut an den Schultern zu sich und blickt ihr tief in ihre klaren Moosaugen. Ein leises Nicken erwidert sie.

«Sprich es aus. Niemals darf dein Licht da drin erlöschen, wenn du die Gelegenheit hast, dann geh weg von hier, soweit du kannst. Versprich es.»

Es dauert einen Weile, bis Finia die Luft zusammen hat, um die Worte zu sprechen, die ihr den Rest ihres Lebens im Gedächtnis nachhallen würden.

«Ich verspreche es, Deron. Bei allem was mir heilig ist.»

«Gut. Vergiss das nie.»

Damit gibt er ihr einen Kuss auf die Stirn.

«Du machst mir Angst, Deron.»

«Ich habe auch Angst.»

Nur wenige Tage später sollte sich Finias Leben für immer verändern. Ihr Versprechen einzulösen, war alles, was sie noch am Leben hielt.

Es ereignete sich an einem Morgen, als der Pater die Geschwister hätte unterweisen sollen, doch er musste zu einem Todesfall und so übernahm die Mutter den Unterricht. Blass war sie, mehr als üblich und ihr Gesicht schien noch ausgemergelter als sonst.

«Geht es euch gut Mutter», wagte Finia zu fragen und ihre Sorge war tief empfunden.

«Du hast mich nicht anzusprechen, wenn ich dir keine Frage stelle. Ausserdem wie kannst du es wagen, mich sowas zu fragen!», brüllte die zutiefst verbitterte Frau ihre bildhübsche Tochter an.

«Ich...», versuchte diese zu erwidern.

«Schweig! Oder du bekommst noch bevor wir beginnen, die gebührende Strafe.»

Damit wandte sie sich ab und griff nach der Bibel. Dann begann sie daraus vorzulesen. Ihr Ton war noch immer kalt und kontrolliert. Doch als sie von einem Geräusch unterbrochen wurde, glitt ihr Blick stechend aus dem Buch empor. Dabei sah sie gerade noch, wie der Bursche, seiner Schwester das Tintenfässchen hochhob, dessen Inhalt bereits einen schwarzen Fleck auf dem Boden hinterliess.

Sofort gefror Finia das Blut in den Adern, war es doch nur ein Versehen, dass sie aufgelöst in ihrer Traurigkeit, beim raschen Mitschreiben, gegen das Gefäss kam. Sie wusste, dass es nicht selbstverständlich war, schreiben zu können und zu dürfen. Deshalb war sie bereits untröstlich, als sie die Tinte auf dem Boden sah. Noch bevor sie hätte reagieren können, hob Deron es auf. Doch ihre Mutter hatte es gesehen.

Kontrolliert, was noch gefährlicher war, als alles andere, legte diese das heilige Buch nieder. Das Zittern ihrer Hände war nicht zu übersehen und sämtliche Farbe entwich Finias Gesicht. Ihren Stock hebend ging sie auf Finia los.

«Du dummes Kind...»

Danach krachte der Stock bereits auf sie nieder. Nur mit einer flinken Bewegung konnte sie verhindern, dass dieser sie am Kopf traf. Der Schmerz zuckte durch ihren Rücken und noch bevor sie nach Luft schnappen konnte, fühlte sie bereits den zweiten Hieb auf sich niederpreschen. Tränen rannen ihr über die Wangen und sie war bereits kurz davor das Bewusstsein zu verlieren, als es wieder krachte. Doch diesmal erlitt sie keinen Schmerz. Hastig zuckte sie empor und versuchte die Ursache des Lärms und des Innehaltens ihrer Mutter auszumachen.

Wenn irgend möglich frass sich der Schock noch tiefer in ihre Knochen. Sie konnte nichts mehr fühlen, denn in diesem Augenblick sah sie es. Sie erkannte, was hier geschehen würde.

Deron hatte nach dem schweren Buch gegriffen und damit seine Mutter daran gehindert, weiter auf Finia einzudreschen. Denn mit Schrecken sah er diese unzügelbare Wut im Blick seiner Mutter und wusste, dass diese nicht eher ruhen würde, bis sie das Licht in Finia vernichtet hätte. Ohne zu verstehen, wie es jemals sein konnte, dass eine Mutter sowas tat, griff er nach dem Heiligsten für diese, für ihn selbst das am meist gehasste und Schlug damit auf sie ein.

Nach dem kurzen Schrecken und dem wieder aufrichten, traf nun dieser todbringende Blick den Sohn. Vollends von Sinnen stürzte sie sich nun auf den Jungen, welcher bereits am ganzen Körper gespannt, diesen Gegenschlag erwartete. Doch gegen die gnadenlosen Schläge des Stocks hatte er keine Chance. Als er sich, von den Schlägen mitgenommen, zu langsam duckt, trifft sein Blick jenen Finias.

Flieh...du hast es versprochen...

Finia hörte es in sich, ohne, dass er es hätte aussprechen müssen. Doch ihr Körper hatte sich ihrer Kontrolle vollkommen entzogen. Nicht einmal die Tränen des Entsetzens konnte sie noch fühlen, während sie zusah, wie das ihr wertvollste, erlosch.

Der Stock traf Deron so heftig am Kopf, dass dieser in sich zusammensackte. Blut bahnte sich seinen Weg den Hals hinunter.

In diesem Augenblick schien auch die Spannung aus der Frau zu verschwinden, denn sie sackte ähnlich ihrem Sohn, am Boden zusammen.

Unfähig sich zu bewegen, entsetzt von dem Grauen vor ihr, blieb Finia am Boden neben ihrem Tisch.

Wenige Momente darauf oder vielleicht auch Stunden später, wurde die Tür schwungvoll aufgeschlagen. Finia fühlte die trampelnden Füsse. Hören konnte sie sie nicht, auch nicht die aufgeregten Stimmen der Bediensteten, die nach dem Lord riefen.

Hände griffen nach ihr und wollten sie vom Schauplatz des Schreckens wegziehen. Doch sie liess es nicht zu. Durch die Berührung ein wenig wiederbelebt, krabbelte sie auf allen vieren auf den reglosen Körper ihres Bruders zu. Er hatte sein Leben für das ihre gegeben.

Zitternd berührte sie sein Gesicht und wünschte sich nichts mehr, als nochmals seine warmen Augen sehen zu können. Erst später wurde ihr klar, dass die Schreie von ihr kamen, die langsam zu ihr durchdrangen.

Monate später beginnen sich ihre Erinnerungen langsam wieder zu strukturieren. Das Gefühl kehrt in ihren Körper zurück, während in ihrem Geist die Worte ihres Bruders widerhallen. Immer und immer wieder.

«Ich verspreche es», wispert Finia in die dunkle Nacht hinein.

Allein, wie noch nie in ihrem Leben, ist es selbst in ihrem Bett eiskalt. Doch immerhin kann sie diese Kälte nun fühlen. In der Unmöglichkeit Schlaf zu finden, verlässt sie ihr Zimmer. Die Augen an die Dunkelheit gewöhnt und in der vertrauten Umgebung, wandert sie durch die Gänge, bis sie aus der Tür in den Garten tritt.

Die Nacht ist sternenklar. Sie funkeln am Himmelszelt und der volle Mond beleuchtet das Land. Vom Gestirn liebkost, setzt sich Finia zu ihrem Lieblingsstrauch, weiter hinten im Garten. Sie liebt dessen weisse Blüten im Frühjahr und die roten Beeren, die er danach bildet. Mit Blick gen Himmel und dem Gefühl Deron damit das erste Mal nah zu sein, spricht sie leise:

«In wenigen Tagen werde ich hier weg sein, Deron, wie du es wolltest. Vater hat eine Familie gefunden, deren Sohn ich in den nächsten Jahren ehelichen soll. Bis dahin kann ich bei ihnen bleiben. Ich weiss nicht, wie er das geschafft hat, oder warum er das getan hat. Von der Lady geht keine Gefahr mehr aus Deron. Nach dieser...sie hat das Bett seither nicht mehr verlassen. Sie schläft beinah nur noch. Der Priester besucht sie oft, doch ansonsten betritt niemand ausser den wenigen Bediensteten ihr Zimmer.»

Erschöpft legt sie eine Pause ein.

«Du fehlst mir, jeden Tag, jeden Augenblick. Ich wünschte du wärst hier. Ich werde nie vergessen, dass du dein Leben für meines hingabst. Eines Tages werde ich für den Ausgleich sorgen, das verspreche ich dir. Wenn du mich am Meisten brauchst, werde ich da sein. Ich weiss es.»

Als die Sonne ihr Gesicht kitzelt, schreckt sie hoch.

Bring dein Licht in die Welt meine Liebe Schwester, ich hätte es nicht mehr gekonnt, aber du...du wirst noch viele damit berühren.

Die Stimme Derons hallt in dem Morgenlied der Vögel wider und die Schauer durchfluten Finia, wie niemals zuvor. Tränen bahnen sich ihren Weg über ihre Wangen und ein sanftes Lächeln breitet sich in ihrem Gesicht aus. Das erste, seit jenem Tag.

※※※

«...es sollte nicht das Letzte sein. Sie brachte viel Licht in die Familie, die sie aufnahm. Finia war deren Sonnenschein und der kleine Sohn Deron, den sie gebar, war es für sie», schliesse ich die Gesichte, während mir selbst die Tränen über die Wangen strömen.

Die Schmerzen sind meinem Körper entwichen, doch diese Erinnerung lastet schwer in mir. Das Unverständnis darüber, dass eine Mutter, oder überhaupt jemand dazu in der Lage ist, auf so grausame Weise das Leben eines Kindes zu nehmen, lässt das dunkle Loch in meiner Brust verzweifelt aufbegehren.

Ich will und kann sowas nicht verstehen, auch wenn ich mich nicht an die Geschichte der Mutter erinnern kann...

Lenny stimmt ein leises Lied an, welches mich mit meinen trüben Gedanken davon und in den Schlaf trägt.

⁕⁕⁕

Für T.

Wenn du mich am Meisten brauchst, werde ich da sein.

Jetzt, wo du mich am Meisten brauchst, bin ich da.

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