• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 36 •
Molly
Fast ein halbes Jahr später...
Ich beuge mich zurück, um Nesrin ansehen zu können.
„Was denkst du, hat Schiffke dieses Mal vor?", frage ich sie, doch Nesrin zuckt bloß mit den Schultern.
„Soll mal jemand Schiffke verstehen."
„Soll mal jemand dich verstehen", entgegnet Fiona schnippisch und lehnt sich mit verschränkten Armen zurück.
Ich hebe fragend meine Augenbrauen, doch Nesrin macht nur eine wegwerfende Handbewegung: „Alles paletti, das sind die Hormone."
„Du kannst nicht alles auf die Hormone schiebe", schimpft Fiona sofort wieder los, ehe sie sich schwungvoll von ihrer Frau zu mir dreht, „Nesrin hat meine Lieblingstasse zerstört!"
„Seit wann ist das bitte deine Lieblingstasse, Spätzchen?", der sarkastische Unterton ist wie immer nicht zu überhören, „seit gestern?"
„Vorgestern", korrigiert Fiona, wobei sie ein kleines Grinsen nicht unterdrücken kann. Der finstere Ausdruck, der zuvor in ihren Augen lag, ist wie weggewischt.
Nesrin schüttelt schnaubend den Kopf: „Ich sag es doch: Hormone!"
Dieses Mal verpasst Fiona ihrer Frau nur einen Schlag auf den Arm und belässt es dann dabei.
Nun ebenfalls kopfschüttelnd drehe ich mich um. In dem Versammlungsraum ist es mittlerweile ungewöhnlich voll. Herr Schiffke steht noch neben dem kleinen Podium und spricht mit Ernst. In letzter Zeit habe ich den Busfahrer immer öfter am Rathaus gesehen, was die Kiehsauer Gerüchteküche ordentlich zum Brodeln gebracht hat. Auch jetzt sind sowohl Schiffkes Mutter Trudi als auch ihr Kaffeekränzchen förmlich aus dem Häuschen. Gemeinsam mit Kiehsaus anhaltender Touristenplage sitzen sie in der hintersten Reihe und stecken ihre Köpfe fast schon verschwörerisch zusammen.
„Wie kann es sein, dass nicht mehr ich das Gesprächsthema eins bin, was Liebschaften anbelangt", hatte Luke erst am vergangenen Abend geklagt, worauf ich nur lachte. Offenbar war doch eine gewisse Verwandtschaft zu erkennen, ganz egal wie sehr die Beiden das verheimlichen wollten.
„Hi", murmelt Glitzer, der in diesem Moment neben mir erscheint.
„Moin, willst du dich setzen?"
„Nein, ich habe mich entschieden, endlich den ersten Schritt zu machen", entgegnet er und zwinkert mir zu. Ich verstehe sofort. Spätestens als er mit seinem üblichen Hüftschwung ‚Cady und Co.', wie wir die kleine Touristengruppe mittlerweile im Dorf nennen, ansteuert, weiß es auch Theo neben mir. Zumindest lässt mich darauf sein wissendes Lächeln schließen, mit dem er Glitzer nachblickt.
„Er wird einen Korb bekommen", brummt mein Bruder nun leise.
Sofort verpasse ich ihm einen Stoß in die Seite: „Sei mal nicht so pessimistisch. Menschen, die so gut mit Lidschatten umgehen können, müssen einfach zueinander passen!"
Theo setzt zu einer Erwiderung an, doch in diesem Moment unterbricht uns das Läuten der Schiffsglocke. Schlagartig rucken alle Blicke nach vorne. Herr Schiffke hat sich hinter seinem kleinen Podium platziert und blickt wie ein Prophet auf die versammelte Menge hinab.
„Guten Abend zum wöchentlichen Treffen", beginnt er förmlich.
„Zum wöchentlichen Treffen von was?", höre ich Luke hinter mir murmeln, „das klingt, als wären wir die Gruppe der anonymen Wahrsager."
„Wenn wir das wären", entgegnet Nesrin neben ihm, „dann müssten wir nicht mehr herkommen, weil wir ohnehin wüssten, was los wäre."
„Auch wahr", stimmt ihr Oma Margot in der Sitzreihe neben uns zu. Einstimmig nicken sie und Nesrin einander zu, während sich Ilse in der Reihe vor meiner Oma fragend umdreht: „Was ist wahr?"
„Die Damen", ermahnt Herr Schiffke genervt und klopft mit den Fingerknöcheln auf das Holz, „ich bitte um die Aufmerksamkeit aller anwesenden Personen, denn ich habe etwas wirklich Wichtiges zu verkünden. Ernst und ich haben uns dazu entschieden, eine kleine Reise zu machen."
Ein teils begeistertes teils überraschtes ‚Oh' kommt von den Bewohnern, während ich nur breit zu grinsen beginne.
„Nachdem wir das ganze letzte halbe Jahr die Erzählungen von Nesrin über ihre Flitterwochen auf Island anhören mussten."
„Es wurde wirklich zu viel", höre ich Ilse murmeln, worauf jemand hinter mir schnaubt.
„Ihr wollt euch wirklich einreden, ich hätte alle damit genervt", empört sich Nesrin. Neben ihr schnappt Fiona ebenso empört nach Luft: „Willst du das jetzt mir in die Schuhe schieben?"
„Ja?"
„Nesrin, du bist einfach-."
„Hormone", meint ihre Frau schnell zu den Versammelten, um diese von ihren besorgten Blicken abzuhalten. Allgemeines Nicken ist zu erkennen.
Selbst Herr Schiffke scheint ausnahmsweise verständnisvoll zu sein, was Fiona nur noch pikierter dreinschauen lässt.
„Also, wenn ich fortfahren dürfte", meint dieser nun und hindert Fiona somit an einem entrüsteten Kommentar, „Ernst und ich haben uns dazu entschieden, eine Hälfte des Oktobers auf Island und die andere in Schottland zu verbringen."
„Schottland ist toll", schwärmt Jan nur wenige Reihen vor mir los, „ich war dort und diese Sprache. Fantastisch! Wirklich, fantastisch! Man denkt, es wäre Englisch, aber man versteht kaum etwas, außer man ist so ein erfahrener Reiser wie-."
Seine letzten Worte gehen im Stöhnen der Dorfbewohner unter. Auch ich schließe mich an. Wieso muss er überhaupt immer wieder zurück nach Kiehsau kommen. Beleidigt verschränkt der Rotschopf die Arme vor der Brust. Unterdessen versucht der Bürgermeister erneut, die Aufmerksamkeit der Anwesenden zu erhalten.
„Unser einziges Problem ist nun, dass wir in diesem Monat eine Vertretung für mich brauchen. Ich weiß, diese Entscheidung fällt sehr schwer-."
„Nesrin", unterbricht Dirk ihn.
Der Name kommt förmlich wie aus der Pistole geschossen.
„Wie bitte?", fragt Herr Schiffke blinzelnd, doch die Sitznachbarn von Lukes Vater nicken bereits zustimmend.
„Nesrin", wiederholt dieser nun eine Spur lauter, „sie könnte dich perfekt vertreten."
„Sie ist auch verrückt", meint meine Oma, was offenbar ein Argument für Nesrin sein soll, „zwar auf eine verbitterte Weise, aber verrückt."
„Und engagiert."
„Aber sie hasst Versammlungen", wirft Ilse ein.
„Ist doch super", meint Luke und ich kann das Strahlen deutlich aus seiner Stimme heraushören, „einen Monat in dem niemand in ungünstigen Situationen angerufen wird."
Die Begeisterung der Bürger angesichts dieses Gedankens ist nicht zu überhören. Auch ich könnte mir schlimmeres vorstellen, als nicht im Bademantel zu Versammlungen erscheinen müssen, weil es einen vermeintlich lebensverändernden Grund gibt, der dann verschwindet und sich zu einer Diskussion über die Anschaffung eines FKK Strandes entwickelt, für den ich dann als Argument genutzt werde. Zitat: „Irgendwo müssen die Menschen doch ihre Nacktheit ausleben. Sonst kommen sie bald alle im Bademantel zu Versammlungen!"
„Dann nehmen wir Nesrin?", fragt Trudi laut in die Runde und reist mich glücklicherweise aus meinen Gedanken.
Die Zustimmung ist mehr als deutlich zu erkennen, nur Pfarrer Franz scheint noch seine Bedenken zu haben.
„Falls ich an dieser Stelle an Nesrins Beichte erinnern dürfte."
„It doesn't matter", höre ich meinen Opa George ausnahmsweise verständlich brummen und Oma nickt zustimmend. „Im November kann Nesrin uns ja verraten, wo die Leichte liegt, damit wir sie endlich begraben können", meint diese, worauf ihr Mann kräftig nickt, auch wenn ich mir sicher bin, dass George kein Wort verstanden hat.
„Ich habe niemanden umgebracht", verteidigt Nesrin sich sofort.
Fiona legt ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter, doch ihr Lächeln wirkt nicht gerade versöhnlich: „Es gibt unterschiedliche Arten psychopatisch zu sein. Du hast eine ebenfalls sehr gruselige gewählt."
„Woher weißt du von meiner Beichte?"
Pfarrer Franz räusperte sich wieder, doch bevor er sich herausreden konnte, plapperte Fiona bereits offen los: „Unser Pfarrer meinte, ich sollte wissen, wen ich heirate."
Es kommt mir so vor, als würde das ganze Dorf zeitgleich die Ohren spitzen, doch Fiona belässt es dabei. Ein wenig enttäuscht wende ich mich wieder Herr Schiffke zu, der es mittlerweile aufgegeben zu haben scheint, jemals wieder das Wort zu erlangen.
Aus dem Augenwinkel erkenne ich, wie Trudi plötzlich zu strahlen beginnt. Ihr Lächeln reicht, damit mein Bauch einen Salto macht, noch ehe sie das verhassteste Thema Kiehsaus angesprochen hat: „Das bedeutet, wir könnten Nesrin dazu bekommen, einen FKK Strand einzuführen."
„Definitv nicht!", kommt es von dieser und Schiffke zugleich wie aus einem Mund.
Der Bürgermeister schüttelt sich: „So weit wollen wir es nicht kommen lassen, Mutter."
Trudi verdreht nur die Augen.
„Wären wir dann fertig mit der Versammlung?", wagt Melinda zu fragen, „ich will meinen Kuchen noch in den Ofen schieben."
„Tu das", meint Herr Schiffke ergeben und seine Worte wirken wie das Klingeln der Schulglocke.
Sofort geht ein Ruck durch die Menge. Im nächsten Moment sitze ich zwischen all den wuselnden Dorfbewohnern, die sich ihren Weg nach draußen drängeln. Theo neben mir bleibt ebenfalls sitzen.
Nun beugt er sich näher an meine Seite: „Was meinst du: Sollen wir warten, bis sie alle draußen sind und sie dann mit dem Bulli an hupen?"
„Wäre das nicht kindisch?"
„Niemals!"
Zehn Minuten und viel Gehupe später stehe ich vor meiner Haustür und krame im Briefkasten. Ich ziehe einen Stapel an weißen Umschlägen hervor, die ich mir unter den Arm klemme, während ich mit der anderen Hand beginne, die Tür aufzuschließen. Im Hausflur ist nur Frau Allendorfs Fernseher zu hören, dessen Geräusche mich auch noch begleiten, als ich die Treppe hinauf bis zu meiner Wohnung steige. Erst als ich hinter mir die Tür zuknallen lasse, verstummt die gedämpfte Geräuschkulisse vollkommen.
Mit meinen Briefen lasse ich mich auf einen der Esstischstühle fallen. Dann beginne ich sie zu sichten. Eine Weile schweift mein Blick nur über unzählige kleine Rechnungen, bis mir ein Name auffällt.
Überrascht nehme ich den Umschlag genauer in Betracht. Der Absender ist mir mehr als nur bekannt. Ich drehe den Brief und reiße ihn in einer fließenden Bewegung auf. Das Papier, welches augenblicklich zum Vorschein kommt, ist offensichtlich teuer. Es fühlt sich auch besser an als das der Rechnungen – nun ja, vermutlich liegt das bei den Rechnungen auch mehr am Inhalt als am Papier.
Vorsichtig falte ich den Brief auf und betrachte die drei kurzen schwungvoll geschriebenen Zeilen: Damit du deinem Traum endlich folgen kannst. Vergiss einfach meinen Namen nicht. Mit freundlichen Grüßen, Valentina Stiegler!
Das ist alles.
Ich nehme wieder den Umschlag zur Hand, um ihn mir erneut anzusehen. Sofort fällt mir ein Zettel auf, den ich zuvor übersehen haben muss. Mit gerunzelter Stirn ziehe ich ihn heraus und drehe ich ihn um. Fast hätte ich ihn fallen gelassen. Ich kann deutlich spüren, wie mir meine Gesichtszüge entgleiten. Einerseits will ich schreien, andererseits schaffe ich es nicht einmal normal zu atmen.
Es ist ein Scheck auf dem eine ungeheure Summe steht, bei der sich mein Magen beinahe umdreht.
Immer noch unfähig irgendetwas zu denken, streiche ich mit meinem Daumen über das Papier, um sicher zu gehen, dass ich es wirklich in der Hand halte und das nicht nur irgendein absurder Traum ist, aus dem ich in den nächsten Sekunden gerissen werde.
Langsam – fast in Zeitlupe – lege ich ihn neben dem Brief auf dem Tisch ab. Ich hole tief Luft. Erst einmal, dann noch einmal. Mir ist bewusst, was Valentina von mir will – und ich weiß genauso, dass ich es auch will!
𓅿
Wenn Fiona sich euch gegenüber schlecht benimmt...liegt an den Hormonen!
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