✰ Kapitel 34
»Ich ... ähm ...«, stammle ich unbeholfen, den Blick noch immer auf die Person am Ende des Weges gerichtet. Es ist zu dunkel, um zu erkennen, um wen es sich handelt. Trotzdem wird mein Körper automatisch von einem seltsamen Gefühl eingenommen.
»Ist schon gut«, ergreift Nick das Wort und ich schaffe es, ihm doch noch in die Augen zu sehen. »Es hat sich nicht richtig angefühlt, oder?«, schiebt er verständnisvoll nach und ich atme erleichtert auf. Obwohl ich für mein egoistisches Verhalten vermutlich eine Szene verdient hätte, bin ich froh, dass er es mir nicht übel zu nehmen scheint.
»Tut mir wirklich leid.« Anschließend blicke ich mich erneut nach der Person um, nur um verwundert festzustellen, dass sie sich scheinbar in Luft aufgelöst hat.
»Schon in Ordnung«, beruhigt er mich und ich spüre die Aufrichtigkeit seiner Worte. »Freunde?«, vergewissert er sich unsicher, woraufhin ich ihn kurzerhand in eine freundschaftliche Umarmung ziehe.
»Freunde!«, verspreche ich und löse unsere Verbindung wieder, um ihn endgültig zu verabschieden.
Nick wartet noch, bis ich im Hauseingang verschwunden bin, dann macht er sich ebenfalls auf den Heimweg.
Bevor ich das Treppenhaus betrete, hole ich mein Handy hervor, um es wieder einzuschalten. Meine Augen sind ungeduldig auf das Display gerichtet und es dauert nicht lange, bis mir ein verpasster Anruf von Ethan angezeigt wird. Mein Herzschlag beschleunigt sich, als ebenfalls eine Nachricht von ihm eintrifft.
Bin auf dem Weg
zu dir und kann es
kaum erwarten,
dich zu sehen.
Erstarrt blicke ich auf seine Worte, lese sie immer wieder von vorn, bis ich realisiere, was das alles zu bedeuten hat. Ethan hat mich gemeint. Ich bin das besondere Mädchen, zu dem er wollte.
Plötzlich fällt mir die Person am Wegesende wieder ein.
Fuck.
Ohne weitere Zeit zu verschwenden, stürme ich aus dem Hauseingang in die kühle Nachtluft hinaus. Wie viele Minuten sind seither vergangen? Fünf? Zehn?
Egal. Wenn es wirklich Ethan war, muss er noch irgendwo in der Nähe sein. Verzweifelt laufe ich den Weg entlang, vorbei an betrunkenen Studenten, die offensichtlich ebenfalls gerade auf dem Heimweg sind und nichts besseres zu tun haben, als lauthals irgendwelche Lieder zu grölen.
Angestrengt sehe ich mich um. Der Campus ist zwar beleuchtet, aber es ist bei weitem nicht so, dass mir dadurch eine weitläufige Sicht möglich ist.
Während ich die verschiedenen Wege ablaufe, ziehe ich erneut mein Telefon hervor. Verzweifelt probiere ich ihn anzurufen, aber erwische lediglich seine Mailbox. Kurz bevor ich mein Handy wieder einstecken möchte, versucht Cassie, mich zu erreichen. Allerdings entscheide ich mich dazu, sie wegzudrücken und mein Telefon auf lautlos zu schalten. Im Moment bin ich eindeutig nicht in der Lage, meine Situation in Worte zu fassen.
Stattdessen setze ich meine Suche verzweifelt fort, als ich irgendwann auf ein Fahrzeug mit laufendem Motor aufmerksam werde. Es steht in einiger Entfernung auf einem dem Campus zugehörigen Parkplatz und da ich nichts zu verlieren habe, steuere ich kurzerhand den Wagen an. Ich kann nicht erkennen, wer sich im Inneren aufhält, aber die Tatsache, dass jemand mitten in der Nacht in seinem Auto verweilt, lässt mich hoffen.
Als ich nah genug bin, um einen Blick in den Innenraum werfen zu können, setzt mein Herz kurz aus. Ethan sitzt hinter dem Lenkrad, den Kopf nach hinten gelehnt, seine Augen geschlossen. Das kleine Licht über der Mittelkonsole beleuchtet sein perfektes Gesicht und obwohl ich aufgrund der Motorgeräusche nichts hören kann, bin ich mir sicher, dass er Musik hört.
Einen Moment stehe ich einfach nur da und betrachte ihn. Dann trete ich schwer atmend an sein Fenster heran und hebe meine Faust, um gegen das Glas zu klopfen. Meine Hand zittert unkontrollierbar, während ich befürchte, sofort von ihm weggeschickt zu werden. Trotzdem bringe ich schließlich den Mut auf, zaghaft gegen die Scheibe zu klopfen.
Mit angehaltenem Atem beobachte ich, wie er verwundert die Augen öffnet. Als er mich neben seinem Auto entdeckt, breitet sich ein überraschter Ausdruck auf seinem Gesicht aus, aber er zögert nicht, den Wagen zu entriegeln und mir zu bedeuten, dass ich einsteigen darf.
Eilig umrunde ich das Fahrzeug, öffne die Beifahrertür und lasse mich angespannt auf den Sitz fallen. Noch immer überrumpelt, reduziert er die Lautstärke der Musik, bevor er mir direkt in die Augen sieht.
»Ethan«, bringe ich atemlos hervor, ohne ihm die Chance zu geben, als Erster das Wort zu ergreifen, »ich weiß, wie das ausgesehen hat, aber ...«
»Schon gut, Allie«, sagt er, seine Augen noch immer auf mich gerichtet. »Du bist mir keine Erklärung schuldig, das weißt du, oder? Eigentlich dachte ich, du hättest mich gar nicht erkannt.«
»Habe ich auch nicht«, gebe ich kleinlaut zu, »aber als ich mein Handy wieder eingeschaltet und deine Nachricht gelesen habe, ist mir klargeworden, dass du es warst.«
Er nickt verstehend und öffnet seinen Mund, um etwas zu erwidern. Allerdings bin ich noch nicht fertig, weshalb ich ihm mit einem Handzeichen zum Schweigen bringe.
»Ich will, dass du weißt, dass dieser Kuss eben nur ein dummer Versuch war, irgendwie über dich hinweg zu kommen.«
»Empfindest du nichts für ihn?«, will er wissen, woraufhin ich heftig meinen Kopf schüttle. Daraufhin meine ich, eine Spur Erleichterung in seinem Gesicht zu erkennen, aber vielleicht bilde ich mir das auch bloß ein.
»Er ist nur ein Freund«, erkläre ich beschämt. Oh Gott, er muss mich für einen furchtbaren Menschen halten. Für jemanden, der mit den Emotionen anderer spielt.
»Selbst wenn du dich in ihn verliebt hättest, habe ich kein Recht, sauer auf dich zu sein«, er greift nach meiner Hand und umschließt meine noch immer zitternden Finger mit seiner Wärme. »Ich bin derjenige, der ewig gebraucht hat, um sich seiner Gefühle klar zu werden.«
»Gefühle?«, wiederhole ich flüsternd, während mein Körper von einem erneuten Adrenalinschub geflutet wird.
»Natürlich habe ich Gefühle für dich. Schon die ganze Zeit, aber ich musste erst irgendwie den Unfall und alles, was damit zusammenhing, verarbeiten. Außerdem gibt es da noch etwas, was ich dir unbedingt persönlich sagen wollte«, erwidert er geheimnisvoll.
»Und das wäre?«
»Du warst da – immer. In der Zeit vor dem Koma hatte ich diese Träume von dir und im Moment des Unfalls, habe ich dein Gesicht gesehen. Du hast mich durch die Dunkelheit begleitet und mir dabei geholfen, wieder das Licht zu sehen.«
Stille.
Wir sehen uns einfach nur an und ich kann förmlich spüren, wie unsere Herzen in einem gemeinsamen Rhythmus schlagen.
»Du hast vor dem Koma von mir geträumt?«, bringe ich leise hervor. Dabei nehme ich hilflos zur Kenntnis, wie sich meine Augen langsam mit Tränen füllen. Schon wieder.
»Ja, das habe ich«, bestätigt er erneut seine Aussage und beugt sich zu mir herüber, um mir behutsam eine Träne aus dem Gesicht zu streichen, »die Erinnerung daran hat erst in den letzten Tagen eingesetzt. Ich habe keine Ahnung, wie das alles möglich ist, aber ich wollte es dir unbedingt persönlich sagen. Deshalb bin ich hier.«
Ethan hat ebenfalls von mir geträumt.
»Ich bin die Letzte, die dir sagen kann, wie das möglich ist«, antworte ich mit bebender Stimme, nicht fähig, den Blick von seinen wunderschönen Augen abzuwenden.
»Willst du meine These dazu hören?« Wieder nicke ich und er holt kurz Luft, bevor er fortfährt: »Wir sind irgendwie miteinander verbunden und das Schicksal hat alles darangesetzt, um uns zueinander zuführen. Ohne dich hätte ich den Unfall nicht überstanden und jetzt bin ich hier, um dir zu sagen, dass ich mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen kann.«
Ganz vorsichtig umschließe ich seine noch immer auf meiner Wange ruhende Hand mit meinen Fingern. »Du glaubst gar nicht, wie glücklich du mich machst«, hauche ich und ein Lächeln umspielt seine wohlgeformten Lippen.
»Darf ich dich küssen, Allie Bennett?« Sein Blick wechselt hoffnungsvoll zwischen meinen Augen und meinem Mund.
Anstelle einer Antwort überbrücke ich die letzten Zentimeter zwischen uns und als sich unsere Lippen endlich berühren, spüre ich sofort, wie die vielen kleinen Schmetterlinge in meiner Magengegend verrückt spielen. Nur er kann sie zum Flattern bringen, dessen bin ich mir nun bewusst.
Seine Lippen sind genauso weich, wie sie es in meinen Träumen waren und als er meinen Nacken umfasst, um mich noch näher an sich heranzuziehen, seufze ich hingebungsvoll in unseren Kuss hinein.
Kurzerhand krabble ich über die Mittelkonsole auf seinen Schoß, ohne dabei unsere Verbindung zu unterbrechen. Es ist verdammt eng, aber auch diese Tatsache beeinträchtigt mein Verlangen nicht. Ethan schlingt sofort seine Arme um mich, während die Intensität unseres Kusses all unsere aufgestauten Gefühle widerspiegelt. Er schmeckt unglaublich gut und ich kann nicht anders, als diesen Moment voller Leidenschaft gänzlich in mich aufzusaugen.
Seine Hände wandern währenddessen zärtlich über meinen Rücken, hinterlassen an jeder Stelle eine nicht zu leugnende Gänsehaut. Niemals zuvor habe ich auf die Berührungen eines Mannes so reagiert und ich wünsche mir, dieser Augenblick würde ewig anhalten.
Alles um uns herum scheint vollkommen bedeutungslos.
Es gibt nur noch ihn und mich - endlich.
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