Romi
Stille. Das war alles, was uns noch geblieben war. Ein bitteres Schweigen, das uns alle erdrückte. Drei Tage waren nun seit Hicks' Tod vergangen. Drei Tage, die uns alle verändert hatten. Niemand lachte mehr, niemand machte mehr Ausflüge mit den Drachen, alle hockten stumm in ihren Hütten. Wozu auch irgendetwas unternehmen? Es machte sowieso keinen Sinn ohne Hicks. Er hatte uns alle angetrieben, uns zusammengehalten und jetzt war er fort.
Es war Viggos Schuld. Die Schuld meines großen Bruders, der sich immer um mich gekümmert hatte. Dem ich immer blind gefolgt war. Aber das würde ich nicht mehr tun. Ich wusste jetzt, was er war. Ein herzloses Monster.
Ich hatte alles mit angesehen. Den Wahnsinn, der in seinem Blick sprudelte, den Hass und wie er Hicks vor diese grauenhafte Entscheidung gestellt hatte. Ich hatte alles gesehen, bis hin zu dem Schwert, das Hicks sich in den Bauch gerammt hatte und seiner Verwandlung in einen Nachtschatten. Ich hatte gesehen, wie er den Kristall mit seinen Zähnen über Astrid gehalten hatte, wie das Licht sie geheilt hatte und wie sie zusammengebrochen war. Durch ein kleines vergittertes Fenster hatte ich alles gesehen und hatte doch nichts tun können. Nur zusehen. Machtlos, die ewige Beobachterin, die ich schon immer war. Verdammt dazu, auf ewig am Rande zu stehen, nichts ändern zu können.
Selbst die Befreiung der Drachenreiter war mir nur gelungen, weil Reiker und Krogan in Streit verfallen waren. Hätte ich nur auf Hicks gehört und wäre mit Sternenwind davongeflogen! Dann wäre vielleicht alles anders gekommen, wäre er noch am Leben. Der letzte Wunsch, den er von mir gehabt hatte und ich hatte ihn in den Wind geschlagen.
Wahrscheinlich hatte ich es verdient, dass sich Sternenwind nicht mehr blicken ließ. Seitdem wir den Granatenfeuerdrachen befreit hatten, hatte ich sie nicht mehr gesehen. Vielleicht war sie von den Jägern gefangen worden. Vielleicht hatte sie sich auch einfach davongemacht, weil sie wusste, dass ich die Schuld an all diesen Ereignissen trug. Wäre ich keine Drachenreiterin geworden, wäre Viggo nicht durchgedreht und Hicks noch am Leben. Dann würden jetzt wir nicht alle in Trauer versinken, würden die Reiter ihr Leben leben können.
Es wäre alles besser, alles, hätte ich mich nicht den Drachenreitern angeschlossen. Oder wäre ich nicht so dumm gewesen, auf Viggos Lügen hereinzufallen. Eines stand fest, ich würde nie wieder jemandem vertrauen. Jeder konnte jeden verraten. Schließlich hatte ich Viggo genauso hintergangen wie er mich und es war nur eine Frage der Zeit, bis auch die Drachenreiter sich gegen mich wenden würden. Allein aufgrund von Hicks war ich Teil des Teams geworden und jetzt war er tot, wegen mir. An Astrids Stelle wäre ich mich so schnell wie möglich losgeworden.
Heute Abend würde die Bestattung sein. Drei Tage war eine ungewöhnlich lange Wartezeit, aber Astrid und Haudrauf hatten es so gewollt. Sie würde auf Berk stattfinden, die Berserker und die Wächter des Flügels waren ebenfalls eingeladen. Ich wusste nicht, ob ich hingehen sollte. Ich war keine von ihnen, würde es nie sein. Alle würden mich als diejenige ansehen, die an seinem Tod schuld war. Nicht, dass es nicht stimmte. Meine und Viggos Schuld.
Eine tolle Familie waren wir. Reiker: brutal und sadistisch. Viggo: berechnend und hinterhältig. Ich: misstrauisch und verbittert. Ob unsere Eltern genauso gewesen waren? Oder wäre alles anders gekommen, wenn sie noch am Leben wären? Wenn der Nachtschatten sie nicht getötet hätte? Aber sie waren tot, genauso wie Hicks. Vielleicht trafen sie einander in Walhalla. Was würde er ihnen über mich erzählen? Sicher nichts Gutes.
Was sollte ich jetzt tun? Alles schien so sinnlos. Ich hatte nicht nur Hicks verloren, sondern auch Viggo. Wohin sollte ich gehen, an wen sollte ich mich wenden? Es gab niemanden mehr, ich war völlig auf mich allein gestellt. Nicht einmal Sternenwind war mehr da. Wenn ich doch nur wüsste, was mit ihr los war! Vier Tage hatte ich sie nicht mehr gesehen, vier Tage, die wie ein ganzes Leben schienen. Und wenn ihr etwas zugestoßen war! Wenn auch sie für immer verschwunden sein würde! Das könnte ich mir niemals verzeihen. Am liebsten wäre ich gleich losgesegelt, um sie zu suchen, doch sie könnte überall sein. Ohne einen Anhaltspunkt war die Suche von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Hoch in der Luft türmten sich spektakuläre Wolkengebilde auf, die feuerrote Sonne verpasste ihnen einen leuchtenden Anstrich. Der gesamte Himmel brannte, das Meer war zu Lava geworden. Vereinzelte Sterne blinkten schwach, bald würden sie nicht mehr zu sehen sein. Ein lauwarmer Wind zerzauste meine Haare.
Sonnenaufgang. Meine liebste Tageszeit.
In Zeitlupe strich ich mit meinen Fingern durch das feuchte Gras, Morgentau blieb an ihnen hängen. Die Luft roch frisch, nach in der Ferne versteckten Abenteuern, nach Hoffnung auf einen Neuanfang. Überall um mich herum war diese Schönheit, diese atemberaubende Schönheit der Natur.
Nur ich störte das Bild. Nur ich passte nicht rein. Ein Mädchen, eine junge Frau mit Blut an ihren Fingern, einem Herzen voller Verbitterung. Auf einmal wirkte die Schönheit des Sonnenaufgangs anklagend, als zeigte sie mit dem Finger auf mich. Wirkten die Wolken nicht eher bedrohlich? Sah der Himmel nicht aus wie Blut? Schienen die Sterne nicht wie verlöschende Leben?
Eine unnachgiebige Pranke schloss sich um mein Herz, bohrte ihre Krallen mitten hinein. Das wunderschöne Bild verwandelte sich in Schmerz. Schmerz, den ich viel zu lange unterdrückt hatte, den ich unter einer Schicht aus Hass und Gleichgültigkeit vergraben hatte. Silbrige Tränen rollten über meine Wangen, tropften von meinem Kinn, vermischten sich mit dem Tau am Boden. Eine jede erzählte von falschen Entscheidungen, von verpassten Chancen, von verlorenen Leben. Sie erzählten von bittersüßen Erinnerungen an die Vergangenheit, von zerstörten Hoffnungen in die Zukunft, von Schmerz, der die gesamte Gegenwart ausfüllte. Ich weinte und weinte, um das, was wir hätten besser machen können, was wir hätten haben können, wenn wir nur klüger gewesen wären. Und der Moment schien nicht zu enden, er zog sich immer weiter in die Länge, während ich einfach weinte und weinte und weinte.
Irgendwann versiegten die Tränen. Irgendwann verstummte mein Schluchzen. Irgendwann zogen sich alle Gefühle wieder in mich zurück. Noch immer erstrahlte der Himmel in einem leuchtenden Orange, wenn auch ein wenig schwächer. Ausgelaugt ließ ich mich auf den Rücken fallen. Das feuchte Gras durchnässte mein Oberteil, vertrocknete Blätter verfingen sich in meinen Zöpfen. Sollten sie doch! Mir würde sowieso niemand begegnen und hier war genau der Ort, an dem ich sein wollte. Im Gras an der Klippe liegend und die über mir vorbeiziehenden Wolken betrachtend.
Hoch oben flog ein Schwarm Vögel. Wie gerne würde ich bei ihnen sein! Mir selbst Flügel wachsen lassen und für alle Ewigkeit fliegen. Nie mehr landen. Einfach nur frei sein, von allem, was mich bedrücken könnte.
Mit neuer Energie setzte ich mich auf. Ich hatte ja die Möglichkeit. Schließlich war ich an niemanden mehr gebunden, weder an die Reiter noch an meine Familie. Wenn ich wollte, könnte einfach lossegeln, auf und davon. Ich könnte eine Händlerin werden, immer auf der Reise. Ich könnte eine wandernde Heilerin werden, mit meinen Fähigkeiten anderen helfen. Ich könnte neue Inseln erkunden und Drachen erforschen, Hicks' Traum vollenden. Ich könnte alles zurücklassen, eine völlig neue Person werden. Niemand hielt mich mehr zurück. Eine ganze Welt stand mir offen. Zwar wäre ich auf mich allein gestellt, aber ich würde mich sicher irgendwie durchschlagen können.
Auf einmal erregte eine in der Luft schwebende Feder meine Aufmerksamkeit. Sie war in etwa so lang wie mein Unterarm und verlief von dunkelrot zu golden. Vor dem gleichfarbigen Hintergrund wäre sie mir fast nicht aufgefallen. Verwundert pflückte ich sie aus der Luft. Eine leichte Wärme ging von ihr aus, begleitet von einem mir vertrauten Geruch nach Feuer. Vor meinem Auge blitzte ein Bild auf, ein Bild von einer Erinnerung. Genau so eine Situation hatte ich schon mal erlebt. Nur hatte ich damals nicht gewusst, von wem die Feder stammte.
"Sternenwind?"
Wie ein Messer zerteilte meine Stimme die Stille. Zum ersten Mal seit ich Astrid aus der Arena getragen hatte, vernahm ich wieder ihren Klang. Sie hörte sich rauer an als ich gedacht hatte. Trotzdem tat es gut, sie wieder zu hören.
Ein vibrierendes Pfeifen ließ mich herumschnellen. Sie war hier! Sie war zu mir zurückgekehrt! Sie hatte mich gefunden, es ging ihr gut und sie war hier!
"Sternenwind!"
Aber wo war sie? Warum zeigte sie sich nicht? Hatte ich mich getäuscht, mir das Pfeifen nur eingebildet? Suchend drehte ich mich im Kreis. Vielleicht versteckte sie sich bloß hinter den Bäumen, vielleicht befand sie sich noch weit weg. Sicher würde sie jeden Moment auftauchen.
"Sternenwind!"
Warum kam sie nicht? War das Pfeifen wirklich nur Einbildung? Oder hatte sie sich verletzt?
"STERNENWIND!"
Der Moment war längst verstrichen, ohne dass sie selbst oder ein weiteres Zeichen von ihr mich erreicht hatten. Ich musste mir das Pfeifen eingebildet haben, beziehungsweise mir so sehr gewünscht haben, dass es von ihr stammte, dass ich es auch wirklich geglaubt hatte. Erneut hatte ich mich von meiner Hoffnung täuschen lassen.
Mit einem Mal wirkte der Sonnenaufgang schal und grau. Alle Pläne, die ich vorhin gemacht hatte, verblassten zu purer Sinnlosigkeit. Was nützte es, ohne Sternenwind durch die Gegend zu ziehen? Ich würde schon wieder allein sein. Was nützte es, neue Orte zu erkunden, wenn ich meine Erfahrungen mit niemandem teilen konnte? Wie hatte ich glauben können, dass ich Sternenwind wiedersehen würde? Wahrscheinlich befand sie sich gerade in einem Käfig im Lager meiner Brüder.
Abermals ertönte ein melodisches Heulen.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich hatte es mir doch nicht eingebildet, sie war doch hier, irgendwo!
Zum dritten Mal ließ ein hohler Pfeifton meine Glieder erbeben, brachte eine Saite in mir, die ich längst vergessen hatte, zum Schwingen. Von einem Moment auf den anderen kannte ich kein Halten mehr. Blindlings rannte ich in die Richtung des Geräusches. Um mich herum verblasste der Sonnenaufgang als wäre er ein Bild, über das man Wasser geschüttet hatte. Im Takt meines Herzschlags donnerten meine Stiefel über die Wiese, nur wenige Zentimeter neben mir gähnte der Abgrund. Und dann rannte ich nicht mehr, dann flog ich entlang des Waldrandes.
Alles in mir fühlte sich leicht, als könnte ich jeden Augenblick davonschweben. Meine gesamte Wut, mein gesamter Hass strömten in meine Beine, wo sie sich in pure Geschwindigkeit auflösten, in den Rausch des Rennens. Erneute Rufe beflügelten mich und lenkten mich zu einem steil aufragenden Kliff.
An dessen äußersten Ende saß Sternenwind. Ihre Federn strahlten mit dem Himmel um die Wette, tausende silberne und goldene Pünktchen blinkten auf ihrem nachtschwarzen Rückenfell. Ohne zu bremsen prallte ich gegen sie und schlang meine Arme um ihren muskulösen Hals. Im selben Augenblick ließ sie sich rückwärts fallen.
Eng umschlungen stürzten wir gemeinsam in die Tiefe, der Fall raubte mir jedes Zeitgefühl. Dann breitete sie ihre Flügel aus. Ruckartig blieben die verschwommenen Streifen vor meinen Augen stehen und mein Magen machte einen Satz. Und tief in mir platzte der versteinerte Knoten, von dem ich gedacht hatte, ich würde ihn nie mehr loswerden. Er explodierte in tausend Stücke, riss allen Schmerz mit sich, wenigstens für einen Augenblick. Ich schrie und Sternenwind schrie mit mir. Und für einen Augenblick durchbohrte unser Schrei die Welt, während alles Andere zu Sinnlosigkeit verkam. Um uns herum sprühten goldene und silberne Funken, bildeten einen gigantischen Wirbel.
Viel zu schnell war dieser Augenblick vorbei. Denn auch die schönsten Momente konnten nicht ewig dauern. Irgendwann erlosch das Feuer, irgendwann ließ unser Schrei nach, irgendwann drang die Realität mit all ihren Problemen und Sorgen wieder zu uns durch.
Wir waren immer noch allein, ohne Verbündete oder ein Zuhause. Hicks war immer noch tot, die Drachenreiter immer noch am Boden zerstört und mein Bruder jagte immer noch Drachen. Unser Schrei hatte nichts verändert, zumindest nicht objektiv. Aber dennoch war etwas anders. Ich war bei Sternenwind, ich war nicht mehr allein. Und es war nicht alles verloren. Es gab zwar vieles, das nie mehr würde aufgebaut werden können - mein altes Leben, meine Familie, mein Vertrauen - aber es gab immerhin noch eine Zukunft. Vor mir lag eine Zukunft voller Möglichkeiten und die würde mir niemand nehmen können. Vor mir lag ein ganzes Leben. Ich konnte gehen, wohin ich auch wollte; machen, was ich auch wollte.
Und das würde ich auch.
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