15. Kapitel: "Alle Uhren stehen still, wenn du in meinem Arm bist."
„Soll ich dir ein paar Leute vorstellen?", fragte Dag zögerlich, als sein Kumpel gegangen war.
„Damit Vince sich komplett verarscht vorkommt, wo er dir gerade einmal in seinem Leben von der Seite gewichen ist?" Dag lachte.
„Touché. Dann lass uns raufgehen." Ich blinzelte.
„Sagtest du rauf oder raus?"
„Rauf. Auf die oberen Zuschauerränge. Die Security hat gerade durchgegeben, dass alle ohne VIP-Pass gegangen sind. Uns sollte also niemand beobachten."
Ich folgte ihm die Treppen rauf und wusste irgendwann nicht mehr, wo wir links und wo rechts abgebogen waren. Doch als wir saßen, konnten wir dabei zusehen, wie die Bühne geräumt wurde.
„Du hast Vincent ganz schön viel an den Kopf geworfen", begann Dag vorsichtig ein ernstes Gespräch mit mir.
„In letzter Zeit fällt es mir schwer, meine Gefühle im Zaum zu halten", meinte ich kleinlaut.
„Er hat es nicht böse gemeint, Pari."
„Dann hätte er nicht sowas Dummes drunter schreiben sollen", murmelte ich und kickte gegen den Sitz in der Reihe vor uns.
„Er hat was drunter geschrieben? Mir hat er bloß das Foto gezeigt."
Seufzend holte ich mein Handy aus meiner Tasche und scrollte zu dem Bild hoch. Dag las den Satz, den sein bester Freund unter das Foto gesetzt hatte und gab es mir zurück. Er stierte ins Leere. Vielleicht dachte er über die Hindernisse nach, die uns auseinandertrieben. Darüber, ob es eine bewusste Entscheidung des Universums war, uns immer wieder Steine in den Weg zu legen. Das war es zumindest, was mich beschäftigte.
„Vincent und ich haben uns schon öfter verkracht, weil er zu weit gegangen ist. Er provoziert gern Leute. Nicht nur mich, auch allgemein. Ist wahrscheinlich seine schlechteste Eigenschaft. Ich weiß, dass ich mich auf ihn verlassen kann, dass er mir immer den Rücken stärkt und mich unterstützt, wenn ich seine Hilfe brauche, aber nicht jeder kommt auf Anhieb mit seiner Art zurecht. Ich bin an ihn gewöhnt. Wir sehen uns jeden Tag, deshalb fällt mir das auch kaum noch auf. Er ist mein bester Freund. Niemand kennt mich so gut wie Vincent. Ohne ihn wäre ich nichts." Ich schluckte peinlich berührt.
„Tut mir leid, ich wollte deinen besten Freund vor dir nicht schlechtreden."
„Ich kann dich da verstehen, manchmal hört er den Schuss einfach nicht. Natürlich kennt er dich kaum und so eine Scheiße sollte er generell nicht verzapfen. Es ist nur ... Du kennst ihn doch genauso wenig. Die Bemerkung hat er nur fallenlassen, um dich aus der Reserve zu locken. Ihm geht's selbst besser, wenn um ihn herum alles schön harmonisch abläuft – und das Hin und Her zwischen uns hat ihn genervt. Er kann ein Idiot sein, das heißt trotzdem nicht, dass du Feuer mit Feuer bekämpfen musst."
Dagegen konnte ich nichts einwenden. Dag sah mir in die Augen. „Keine Frage, es war bescheuert von ihm, sich einzumischen. Aber er hatte die besten Absichten. Er will immer nur das Beste ... Für mich vor allem. Aber auch für dich." Mein Mund war trocken, also trank ich einen Schluck Bier.
„Vincent kennt mich gar nicht, wie kann er da das Beste für mich wollen?"
„Er will das Beste für uns alle", antwortete Dag lachend. „Nicht jeder will dir was Böses. Er nicht ... Und ich erst recht nicht." Wieder wechselten wir einen dieser intensiven Blicke, bis ich demütig auf meine Knie schaute.
„Ich mag dich", sagte ich leise, atmete ein und aus. „Ich mag dich zu sehr", flüsterte ich.
Dag nahm meine Hand und ich verschränkte sofort meine Finger mit seinen; gierig und besitzergreifend. Er zog mich in seine Richtung und ich hatte keine Kraft, mich dagegen zu wehren.
„Wir treffen uns einfach, okay?", sagte er und ich spürte den Hauch seiner Worte an meinem Hinterkopf. „Ganz unverbindlich. Dann musst du dich nicht schuldig fühlen."
Ich fühle mich immer schuldig, wenn wir zusammen sind.
„Keine Dates", forderte ich.
„Ich mach nichts", versprach er und streichelte mit dem Daumen meine Hand.
„Doch, du verwirrst mich", meinte ich, während ich meinen Kopf auf seiner Schulter ablegte.
„Du mich auch", erwiderte er und räusperte sich. „Wahrscheinlich penne ich morgen den ganzen Tag, aber hast du übermorgen was vor?"
„Kommt drauf an", antwortete ich vage.
„Geh mit mir essen."
„Also ..." Ich sah zu ihm auf. „Dafür müsste ich meinen ursprünglichen Plan canceln."
„Der da gewesen wäre?"
„Mit meiner frisch gebackenen Zitronentarte und Vanilleeis im Bett die ‚The Dark Knight'-Trilogie zu gucken."
„Oh, ich will nicht, dass du das ausgerechnet meinetwegen aus deinem Terminkalender streichst", grinste er.
„Ich könnte es verschieben, aber dann muss das Essen lecker sein. Magst du Thailändisch?"
„Absolut. Wenn dich Thailändisch davon überzeugen kann, deine eigentlichen Pläne auf Eis zu legen, dann liebe ich Thailändisch."
„Ich schicke dir die Adresse vom Restaurant", lächelte ich und zog die Beine an.
Dag strich über die empfindliche Innenseite meines Ellbogens. Eine feine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Er registrierte es, legte die Stelle hinter meinem Ohr frei und küsste mich dort. Sanft legte ich eine Hand auf seine Brust und drückte ihn weg.
„Über deine Definition von ‚nichts machen' müssen wir nochmal reden", sagte ich amüsiert, und verlor mich unerwartet in seinen Augen. Sein Atem kitzelte auf meinen Lippen, die sich leicht geöffnet hatten, ganz ohne mein Zutun.
„Tut mir leid", löste er den Moment auf und rückte leicht von mir ab. „Ich hatte zu viel davon." Er tippte gegen die Flasche Bier, die ich umklammerte.
„Geht mir ähnlich", nickte ich und trank den Rest aus.
„Du magst mich, auch ohne Alkohol." Am Ende des Satzes hob er den Tonfall an, sodass es eher nach einer Frage klang. Ich warf ihm einen schnellen Seitenblick zu.
„Mehr als mir lieb ist."
„Sag mal, deine schlechten Erfahrungen, wie schlimm waren die?"
„Zehn von zehn auf der Skala der Schrecklichkeit", seufzte ich. „Männer sehen, was sie wollen und dann wollen sie, was sie sehen. Auch wenn das, was sie sehen gar nicht echt ist. Bevor du mich dafür steinigst: Nein, nicht alle Männer sind gleich, dessen bin ich mir bewusst; ich scheine bloß ein Magnet für Vollidioten zu sein. Inzwischen habe ich das Gefühl, dass das Law of Attraction zu einhundert Prozent auf mich zutrifft. Ich bin die wahre Vollidiotin in dieser Geschichte. Und gleich und gleich gesellt sich gern."
„Demzufolge hältst du mich auch für einen Vollidioten", konstatierte er.
Ich bin also ein Magnet für ihn. Das war irgendwie süß und durchaus gut zu wissen. Es schmeichelte mir. Wahrscheinlich, weil er ebenso ein Magnet für mich war.
Was hatte ich ihn vermisst ... Jetzt, wo ich wieder neben ihm saß, realisierte ich erst, dass er mir wirklich gefehlt hatte. Ich hatte sein Lächeln vermisst, das Leuchten in seinen blauen Augen, den Geruch seines Parfüms, der mich betörte; mich schwach machte. So schwach, wie ich eigentlich gar nicht sein wollte, weil schwachen Menschen immer wehgetan wird.
Aber genau jetzt waren wir hier, zu zweit, und die Stimmen in meinem Kopf hielten allesamt die Klappe. Diese Stille war so herrlich. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen.
„Ach, mach dir nichts draus. Vollidioten sind super, solange du ihnen nicht dein Herz in die Hand drückst. Sie zerquetschen es aus Versehen. Die wissen gar nicht, was sie tun."
„Du bist irre verbittert, hat dir das schon mal jemand gesagt?"
„Hat dir noch nie eine Frau das Herz gebrochen?", fragte ich ihn direkt. Dags Kiefermuskulatur spannte sich für den Bruchteil einer Sekunde an.
„Doch", antwortete er knapp.
„Ich hatte drei feste Beziehungen, von denen habe ich zwei sogar selbst beendet und trotzdem bin ich am Ende immer die mit dem gebrochenen Herzen gewesen", rechtfertigte ich meine finsteren Ansichten.
„Das ist immer noch kein Grund für Schwarzmalerei. Die Vergangenheit hat zwangsläufig Einfluss auf die Gegenwart, aber nie auf deine Zukunft."
„Erzähl mir das nochmal, wenn das Mädchen vor dir steht, das dir wehgetan hat", konterte ich.
„Sie ist aber nicht hier. Also lass uns das Thema wechseln."
Wir redeten über das Konzert. Na ja, ich schwärmte eher, während Dag grinsend jede meiner ausladenden Gesten beobachtete.
Unterbrochen wurden wir schließlich, als Vincents Stimme ertönte.
„Dag?!"
„Wir sind hier drüben!", rief mein Gegenüber.
„Unten machen sie sich langsam auf die Socken." Vincent klang wesentlich nüchterner als noch vorhin. „Hey Dicka, gibst du mir 'ne Minute mit ihr?", fragte er und deutete auf mich.
„Klar, kein Ding, aber ... Vincent", meinte Dag mit erhobenem Zeigefinger. „Du hättest mir nicht nur die halbe Wahrheit sagen dürfen, du Arsch. Ich sollte dich an Marlene verpetzen."
„Weswegen?" Vincent kratzte sich ahnungslos am Bart.
„Du hast mir vorgegaukelt, er hätte was mit ihr", erinnerte ich ihn.
„Reine Interpretationssache", wand er sich raus, bevor er sich auf den Platz setzte, den sein Kumpel eben verlassen hatte.
„Ich suche unten meinen Kram zusammen", sagte Dag an uns beide gewandt.
„Bis gleich", verabschiedete ich mich. Vince nickte lediglich.
Als Dag verschwunden war, musterte er mein Profil.
„Du hast dich schon bei mir entschuldigt, also entschuldige ich mich auch nochmal. Tut mir leid."
„Dir sei verziehen. Du warst ein bisschen ungeschickt beim Amor-Spielen", lächelte ich zögerlich.
„Ein paar der Sachen, die du gesagt hast, haben mir zu denken gegeben. Ach ja, und das mit meiner Ex war einfach nur gemein von dir."
„Ich weiß", gab ich reumütig zu.
„Ich kann an zwei Händen nicht abzählen, wie oft ich mich durch meine große Klappe schon in die Scheiße geritten habe." Er lehnte sich zurück und starrte auf die Bühne, die im Dunkeln lag.
„Ist es besser, wenn man's wie ich macht und sich in die Scheiße reinreitet, indem man nichts sagt?", fragte ich.
„Nee, beides dämlich, oder?"
„Welcome to my world", murmelte ich.
„Läuft's jetzt wenigstens zwischen euch?", erkundigte er sich unverblümt.
„Ich kann das momentan nicht, Vincent."
„Mann, es erwartet doch keiner, dass du ihn vom Fleck weg heiratest."
„Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Locker mal eben mit ihm schlafen? Ich würde ihn ausnutzen und das kann ich doch nicht machen." Zweifelnd drehe ich eine Haarsträhne zwischen den Fingern und merke traurig an: „Er ist Boyfriend-Material, was für ein Mensch wäre ich?"
„Du wärst zur Abwechslung mal die Frau, die für sich einsteht und nicht vor dem wegrennt, was sie eigentlich will. Die, die du laut Iara überall siehst, nur nicht im Spiegel."
Mir kam keine Entgegnung in den Sinn und so rieb ich über meine Unterarme. Ich hasste meine Unsicherheit, aber sie gehörte zu mir. „Pari?" Ein riesiger Klumpen hatte sich in meinem Hals gebildet. Etwas auf meiner Wange fühlte sich nass an. Mistverdammter. „Oh Gott, heulst du?" Vincent lehnte sich vor, um mich genauer betrachten zu können. Unbeholfen klopfte er mir auf die Schulter. „Och, bitte nicht", quengelte er. Ich wusste nicht, was mit mir los war. Wieso spielten meine Emotionen in letzter Zeit denn nur so verrückt?
Vince hatte zum Glück aufgehört, meinen Rücken mit seichten Schlägen zu bearbeiten. Jetzt saß er bloß noch verkrampft neben mir. Ich wischte mir über die feuchten Augen und rang mir mühsam ein Lächeln ab.
„Du bist der mit Abstand schlechteste Tröster, den ich je kennengelernt habe."
„Ich kann mit weinenden Frauen nicht umgehen. Das Einzige, was ich dir anbieten kann, ist 'ne Umarmung."
„Das wäre immerhin ein Anfang."
Vince stand auf und fegte einen Fussel von seinen Jeans. Einen Moment schien er noch zu überlegen, dann breitete er die Arme aus.
„Zwerg Nase, du bist offiziell der kleinste erwachsene Mensch, den ich kenne", verkündete er feierlich. Sein Adamsapfel vibrierte an meiner Stirn.
„Ich fange an, mich daran zu gewöhnen, dass du mich so nennst." Meine Stimme wurde von seinem Torso gedämpft. Ich reichte Vincent bis zur Brust, aber nur, wenn man wohlwollend ein Auge zukniff. Wir schwiegen.
„Wird's besser? Können wir aufhören?", durchbrach er irgendwann die Stille.
„Ein bisschen noch bitte", wisperte ich. Vincent war nicht der anschmiegsame Typ und innerlich kicherte ich, weil er zunehmend unruhiger wurde. Er wippte mit dem Fuß auf und ab.
„Was für ein Parfüm trägst du?", fragte ich ihn.
„Parfüm?"
„Riechst du von Natur aus nach Eukalyptus?"
„Mein Duschgel wahrscheinlich. Das ist 'ne komische Frage."
„Findest du?"
„Ja", lachte er. „Gehen wir zu den anderen? Viel Spaß übrigens dabei Mika sicher nach Hause zu bringen. Der ist komplett hacke."
„Eigentlich bist du mir ja noch einen Gefallen schuldig", grinste ich, während wir auf die Treppe zusteuerten.
Kurz für immer bleiben
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