𝔨𝔞𝔭𝔦𝔱𝔢𝔩 𝔰𝔦𝔢𝔟𝔷𝔢𝔥𝔫
HINWEIS: Von nun an füge ich Harry Potter Soundtracks von YouTube hinzu, die ihr während des Lesens des Kapitels abspielen könnt. Ich glaube, das wird euch helfen, die Geschichte mehr zu genießen.
TRIGGERWARNUNG: ERWÄHNUNG VON BLUT UND MAGISCHEM KREATURENTOD, GEBRAUCH EINES MESSERS!
D I E A N A T O M I E
V O N M A X W E L L N O T T
der archivar
KAPITEL SIEBZEHN
︵‿︵‿︵
Die Märchen von Beedle dem Barden.
Es war fast die Hälfte der sechzehnten Stunde der Uhr erreicht, und jedem, der an den vereisten Gärten des Schlosses vorbeikam, würde nichts Ungewöhnliches auffallen. Die weiße Landschaft war so, wie sie immer gewesen war: Steinerne Bänke säumten die Schlossmauer, geschwärzte Bäume hoben sich vom violetten Horizont ab, und der eisige See reflektierte die düsteren Lichtstrahlen, die durch die Wolken drangen. Das einzig Ungewöhnliche war wohl die kränkliche Gestalt eines blassen Mädchens, das durch die Bäume huschte, aber ihre Haut hatte jede Spur von Vitalität verloren, und ihr weißes Gewand ließ sie mit der verschneiten Umgebung verschmelzen.
In ihrer Hand hielt sie ein Buch, das so matt zu sein schien wie der Dezembertag. Es handelte sich um ein Märchenbuch, und abgesehen von den spärlichen Kommentaren zu dem für ihr Alter ungewöhnlichen Lesethema würde kein Mensch vermuten, dass etwas nicht stimmte. Ihr Gesicht war stoisch, wie immer, aber ihre Seele war in Aufruhr, und ihre Augen verrieten das Grauen, das von ihrem Geist Besitz ergriffen hatte.
Sie wusste, dass die Zeit nicht auf ihrer Seite war und dass ihre Tollkühnheit sie teuer zu stehen kommen konnte, vor allem, wenn sie auf dem Schulgelände so gefährliche Zaubersprüche wirkte. Doch die Eitelkeit des Mädchens war in letzter Zeit verletzt worden, und sie wollte sich selbst beweisen, dass sie immer noch zu solch alter Magie fähig war.
Wie sie so ruhig blieb, konnte niemand wissen, nur das leichte Zittern ihrer Hände und die leicht gespitzten Ohren, mit denen sie aufmerksam auf ihre Umgebung achtete, verrieten es. Andererseits war es ungewöhnlich, dass jemand eine solche Beweglichkeit in den Ohren hatte, was in gewisser Weise zu ihrer Seltsamkeit beitrug.
Zudem konnte ihr niemand ansehen, dass sie eigentlich zu ihrer letzten Unterrichtsstunde des Winterhalbjahres gehen sollte, oder gar zu einer ihrer Prüfungen? In der Tat sollte sie nicht im kalten Abendwind wie ein verirrtes Reh umherirren.
Warum also bemerkte sie niemand, als sie den Verbotenen Wald betrat, und warum versuchte niemand, nach ihr zu rufen, als der Schneesturm ihre Gestalt hinter einem Wirbel aus bösartigen Schneeflocken verbarg? Vielleicht war es ihnen einfach egal, weil sie ihre Gestalt vor dem flachen Horizont kaum wahrnahmen, oder sie hatten zu viel Angst, um sie aufzuhalten.
Immerhin war sie eine Hexe, und nicht irgendeine. Das Mädchen war weit weg von diesem Land aufgewachsen, und deshalb fürchteten viele ihrer Altersgenossen sie. Es gab Gerüchte über ihre Fähigkeiten, fantastische Geschichten über die Drachen, denen sie begegnet war, und die schwarze Magie, die sie angewandt hatte. Und in jeder Fabel steckte auch ein Körnchen Wahrheit.
* * *
Das Ticken der Uhr, die auf dem Schreibtisch von Professor Herbert Beery stand, machte Maxwell Nott wütend, und obwohl er seine Prüfung beendet hatte, ging er seine Antworten ein letztes Mal durch. Er warf dem leblosen Objekt einen bedeutungslosen finsteren Blick zu und wünschte sich, er könnte es mit einem einfachen Reducto-Fluch in Stücke zerschmettern.
Eine edle Holzuhr, dem Emblem an der Seite nach zu urteilen vielleicht um 1867 entstanden, die goldene Sprenkel in den Ziffern hat, also ist sie entweder magisch, oder Herbert Beery gibt gerne unnötig Geld für Muggelgeräte aus.
Maxwell rümpfte die Nase; so etwas würde er seinem nervigen Lehrer durchaus zutrauen. Schließlich hatte er eine seltsame Affinität zu den Künsten, vielleicht sogar mehr als zur Magie, und war charakterlich schwach.
Allerdings ist sie aus Buchenholz, also muss derjenige, der sie entworfen hat, weise sein. Er könnte aber auch einfach ein aufgeblasener Arsch sein, der intellektuell erscheinen will. Hm, das passt dann zu Herbert Beery.
Der Slytherin-Junge dachte an seinen eigenen Zauberstab, der aus demselben Baum gefertigt war, und ein schattenhaftes Grinsen legte sich auf seine Lippen. Natürlich war der Zauberstab ihm gegenüber äußerst gefügig gewesen, aber er würde wohl kaum seine volle Leistungsfähigkeit entfalten, wenn er einem engstirnigen Zauberer gehörte. Er würde nicht daran zweifeln, dass die Uhr einfach ein umgestalteter Zauberstab war, ein verzweifelter Versuch eines gescheiterten Zauberers, seine Schande zu verbergen.
Maxwell stand auf und ging zum Lehrerpult, um seine Prüfung abzugeben. Der Professor blickte zu ihm auf, wobei ihm die Brille vor Überraschung fast von der klobigen Nase rutschte, und er rappelte sich in seinem Stuhl auf, um sich zusammenzureißen.
„Schon fertig, Nott?", fragte er, nahm die Arbeit des Jungen und überflog sie.
Maxwell nickte.
„Nun gut, dann können Sie gehen, obwohl noch mindestens dreißig Minuten Prüfungszeit verbleiben, wenn Sie also noch einmal darüber schauen wollen..."
Der Junge achtete nicht auf ihn; stattdessen fiel sein Blick auf etwas, das sich außerhalb des Fensters bewegte, eine Gestalt, die sich durch den heftigen Schneesturm schlängelte und auf den Wald zusteuerte. Er erkannte das furchtbar gewellte Haar und verzog missmutig den Mund — Varya Petrov, die lästige kleine Göre, über die sich jedermann aufgeregt hatte.
Maxwell Nott mochte sie nicht. Er empfand ihre Anwesenheit sogar als unerträglich, und neben Abraxas Malfoy war er derjenige, der ihr gegenüber am kältesten gewesen war. Sie hatten nie wirklich miteinander gesprochen, und es machte ihm nichts aus, denn er war zu sehr mit seinen Studien beschäftigt, um Varya viel Aufmerksamkeit zu schenken. Er fand es lächerlich, wie vernarrt Icarus Lestrange in sie war, und Maxwell verstand nicht, wie der Junge sich so von ihrer Errungenschaft ablenken lassen konnte. Deshalb hatte Nott auch beschlossen, sich mit keinem der Mädchen zu unterhalten, die ihm in der Bibliothek folgten; er hatte Besseres zu tun.
Er warf einen Blick auf den vorderen Teil der Klasse, wo Tom Riddle die letzten Antworten auf sein Prüfungsblatt schrieb. Er bewunderte den Jungen sehr, denn er war ihm akademisch ebenbürtig, und die beiden konkurrierten ständig miteinander. Beschämt musste Nott zugeben, dass er dem Jungen immer unterlegen war, denn egal wie viel Zeit er mit Lernen verbrachte, Riddle war einfach allen anderen voraus. Allerdings interessierte sich Tom nur für magische Fächer, während Nott nach Wissen aller Art dürstete.
Dann kam Varya Petrov, und Maxwell Nott hatte eine neue Konkurrentin, was ihn dazu brachte, das Mädchen noch mehr zu verachten. Sie war ihm ein Dorn im Auge und mischte sich immer wieder in Gleichungen ein, in die sie eigentlich nicht hinein gehörte. Sie steckte ihre Nase in jedermanns Angelegenheiten, und das ging so weit, dass sie es sogar geschafft hatte, Tom Riddle abzulenken.
Und das war für Nott schlimmer als alles andere, denn ohne Riddle, der sich auf seinen Aufstieg zur Macht konzentrierte, würde die korrupte Zaubererwelt weiter gedeihen. Maxwell hatte sich aus mehreren Gründen mit Riddle verbündet, und einer davon war ihre gemeinsame Meinung, dass die Welt reformbedürftig sei. Und er dachte, dass ihr Anführer der perfekte Katalysator sein würde, so rücksichtslos und objektiv in seiner Art.
Sobald Varya jedoch aufgetaucht war, war Riddle davon besessen gewesen, sie zu durchschauen und einen Weg zu finden, ihre Kräfte zu seinem Vorteil zu nutzen. Er hatte Maxwell sogar veranlasst, ihre Vergangenheit und ihre Schule zu untersuchen und herauszufinden, warum sie in eine andere Einrichtung gewechselt hatte. Die Suche war ergebnislos geblieben.
Ein weiterer Grund, warum sie so nervtötend war.
Tom Riddle fing seinen Blick auf, und als Maxwell in Richtung des nebligen Fensters nickte, wanderten seine Augen mit und weiteten sich leicht, als er sah, wie Varya Petrov den Wald betrat. Er warf Nott einen Blick zu, und der Junge nickte, wohl wissend, was er bedeutete.
Maxwell wandte sich dem Professor zu, der wartete, dass er auf das antwortete, was immer er gefragt hatte, mit einem gefiederten Federkiel in der Hand.
Eine Pfauenfeder, was heißt, dass sie von einem männlichen Vogel stammt, und den erkennbaren Spuren von Grün an der Federwurzel nach zu urteilen, wurde sie höchstwahrscheinlich von Garrick Ollivander verkauft. Er besitzt einen Pfau, der häufig Federn verliert. Professor Dumbledore hat eine ähnliche.
„Danke, Professor Beery." Damit verließ er die Klasse, ohne sich um die eigentliche Frage zu kümmern.
Maxwell sollte Varya in den Wald folgen, und bis Tom seine Prüfung beendet hatte, musste er vorsichtig Abstand halten und beobachten, was auch immer sie vorhatte. Ehrlich gesagt war er nicht derjenige, der normalerweise solche Aufgaben übernahm, Tom zog andere vor, wenn es ums Spionieren ging, wie Avery oder sogar Rosier, aber beide waren noch mindestens eine halbe Stunde davon entfernt, ihre Prüfung zu beenden.
Er war derjenige, der seine Tage in der Bibliothek verbringen sollte, um alle notwendigen Informationen für den Plan, an dem sie arbeiteten, zu beschaffen und dann Tom Bericht zu erstatten, der dann die Informationen überarbeiten und ihren Wert einschätzen würde.
Jetzt, wo er darüber nachdachte, hätte er merken müssen, dass etwas nicht stimmte, als er Varya nicht bei ihrer Prüfung gesehen hatte, aber, um ehrlich zu sein, hatte er sich nie viel aus ihrer Anwesenheit gemacht und einfach angenommen, dass sie zu spät kam.
Maxwell ging schnell die beweglichen Treppen hinunter, sein toffeebraunes Haar schwang mit, und seine Augen, die die Farbe des grünen Mooses hatten, das auf den ältesten und robustesten Bäumen wuchs, fingen das Licht jeder Kerze ein, an der er vorbeikam. Seine Kleidung war tadellos, die Krawatte so eng, dass sie gegen seine Luftröhre drückte, und der graue Pullover steckte ordentlich in der dunklen Hose. Er achtete darauf, seine Roben jeden Abend zu bügeln, eine Technik, die er durch die Lektüre so vieler Bücher aus der Muggelwelt gelernt hatte. Zu Forschungszwecken, versteht sich.
Als er den ersten Stock erreichte, blieb er vor der Mädchentoilette stehen, und ein wissendes Grinsen bahnte sich einen Weg auf seine Lippen.
Die Kammer des Schreckens, erbaut von Salazar Slytherin, enthält einen Basilisken. Basilisken sind gefährliche Kreaturen, die aus einem Hühnerei geboren und unter einer Kröte ausgebrütet werden. Sie sind die Könige der Schlangen — eine Information, die in dem Band Die makabersten Monstrositäten zu finden ist.
Ein kleines spöttisches Schnauben kam über seine Lippen, als er darüber nachdachte, was sie vorhatten; dass Tom eines Tages die Kammer öffnen und das Monster freilassen würde, das dann alle muggelstämmigen Hexen und Zauberer der Schule terrorisieren würde. Schon bald.
Doch Maxwell war nicht daran interessiert, jedenfalls nicht so sehr wie Riddle oder Malfoy. Ja, er schätzte seinen Status als Reinblut, und er hielt Muggel für minderwertig und dumm, und so wie sie jahrhundertelang Hexen terrorisiert und verbrannt hatten, würden sie irgendwann zurückbekommen, was sie gegeben hatten. Muggelgeborene waren ihm jedoch völlig gleichgültig. Immerhin besaßen sie Magie, und so lästig sie mit ihren ekelhaften Muggel-Tendenzen auch waren, es gab andere dringende Angelegenheiten.
Natürlich würde er das Tom Riddle gegenüber nie erwähnen.
„Galoppierende Gargons, ist das kalt", murmelte Maxwell, als er die Gärten erreichte und sich seinen Weg durch die verschneite Umgebung bahnte, eine Hand schützte seine Augen, mit der anderen zog er an seinem salbeigrünen Schal. Er kundschaftete die Gegend aus, und als er keinen Menschen sah, schlenderte er in den Verbotenen Wald.
Die Bäume waren dicht, eng beieinander, und wenn er sich einen Weg durch sie bahnte, blieb sein Fuß manchmal an Wurzeln hängen, die aus dem Boden ragten und nach seinen Knöcheln griffen. Er blieb stehen, schaute sich um und fragte sich, in welche Richtung das Mädchen gegangen sein könnte, denn die fallenden Flocken hatten ihre Fußspuren längst verdeckt.
Maxwell hatte einmal in einem Buch, Navigation auf den weiten Ozeanen, gelesen, dass Seeleute dazu neigten, immer mit dem Wind zu segeln, und obwohl Varya kein Seemann war, war sie eine Hexe. Und Hexen folgten der Magie, so dass ihr Instinkt sie dazu veranlasste, der wichtigsten Spur der Magie zu folgen.
Nott spürte, dass sie von links kam, und obwohl er wusste, dass verschiedene Arten von Magie verschiedene Arten von Menschen anzogen, vermutete er, dass die schwache pulsierende dunkle Magie auch Varya anziehen würde.
Also bog er links ab und folgte einem alten, ausgetretenen Pfad, der zu einer kleinen Lichtung führte, auf der es nur vereinzelt Bäume gab. Tatsächlich sah er ein zerbrechliches Mädchen im Schnee knien, den Rücken leicht gekrümmt, als ob sie sich über etwas beugen würde.
Maxwell bemerkte das Blut erst, als er direkt hinter ihr stand.
Ja, Varya Petrov beugte sich über etwas: den Leichnam eines Thestrals. Die pferdeähnliche Kreatur lag ausgestreckt auf dem Boden, tiefes, trübes Blut quoll aus ihrem durchschnittenen Hals. Seine Augen waren offen, kugelrund, fast wie im Todeskampf, und seine dunkle Reptilienhaut klebte noch fester als sonst an seinen Knochen. Das Mädchen heulte, schüttelte die Kreatur mit einem Arm und schrie sie fast hysterisch an.
„Nein, nein, nein — wach auf, bitte", wimmerte sie, und ihr Heulen hallte durch den stillen Wald. Maxwell bekam eine Gänsehaut, denn ihre heisere Stimme erfüllte die Luft mit Angst, der Schrei einer hilflosen Seele, die soeben den Tod eines großartigen Wesens miterlebt hatte. Der Junge sah auf den Boden und bemerkte schließlich den blutigen Dolch, dessen sündige Farbe sich von der Reinheit des Schnees abhob. Es war Varya gewesen, die den Thestral getötet hatte.
Sie hat ihm die Drosselrinne durchgeschnitten und ihn ausbluten lassen, indem sie die Blutzirkulation vom Gehirn zum Herzen unterbrochen hat. Das war unschön; normalerweise wird ein Messer zum Durchtrennen der Haut und ein anderes zum Durchtrennen der Venen verwendet. Außerdem hätte sie sich die Halsschlagader vornehmen sollen; sie blutet schneller. Sie hat ihn leiden lassen, vermutlich nicht vorsätzlich.
„Bitte, bitte — wach auf!"
Die Stille des Waldes war ohrenbetäubend, die einzige Bewegung kam von der zitternden Gestalt des Mädchens und dem wütenden Schnee, der durch die Luft wirbelte. Ihr Schrei war rau, schmerzhaft, wie ein Hurricane, der an der amerikanischen Ostküste wütet und alles niederreißt, was sich ihm in den Weg stellt. Er spaltete die Seele und hinterließ dort, wo das Herz schlagen sollte, einen Hohlraum, fast so, als hätte sich eine grausame Hand in die Brust gebohrt, über die Ränder der Blutpumpe gestrichen und sie dann erbarmungslos herausgerissen.
Varyas Körper krümmte sich vor Schmerz, und ihre Hand flog dorthin, wo ihr Herz hätte sein sollen, doch stattdessen spürte sie eine Grube, die so leer und schwarz war, dass sie vor Schmerzen zitterte. Es war quälend, und das Mädchen verstand nicht, warum es sich anfühlte, als würde ihr ganzes Wesen in verschiedene Richtungen gezogen, und warum ihr Atem aufgehört hatte, ihren Körper zu versorgen. Es war fast so, als würde jeder einzelne Knochen in ihrem Körper auf einmal gebrochen werden, und ihre Kehle konnte den unerträglichen Schrecken nicht mehr ertragen.
Ihr rußiges, wirres Haar klebte ihr im Gesicht, und ihre Tränen waren im rauen Wind, der um die kleine Lichtung wehte, getrocknet. Ihr Atem kam erschöpft und zittrig heraus, und sie rang nach Luft, wobei sich ihre Lungen nie ganz füllten. Ihre Luftröhre schloss sich schnell und öffnete sich dann wieder, ein krampfartiges Gefühl in ihrem Hals. Die Welt war verschwommen, sie nahm keinen Geruch wahr, hörte keine Stimme. Das Einzige, was sie sah, war das dunkle Blut, das ihre Hände und ihr Kleid überzog und sich so schmerzlich von der weißen Umgebung abhob. Ihre Ohren surrten in einer neu entdeckten Frequenz, und ihr Kopf drehte sich, das Gehirn war müde vom Sauerstoffmangel. Alles war gedämpft.
Starke Arme legten sich um sie, und sie spürte, wie sie vom Boden hochgehoben wurde, aber Varya brach in der Umklammerung der Person zusammen, und ihre verzweifelten Hände streckten sich aus, um nach dem Körper der Kreatur zu greifen. Es brannte, alles brannte, und sie stellte sich vor, wie sich die feurigen Höllenschlünde, die sie erwarteten, anfühlen würden. Varya wollte tot sein, verschwunden, vergessen. Sie wollte, dass der Schmerz in ihrem Körper aufhörte, sie zu quälen.
„Nein, lass mich los." Sie stieß gegen den Körper des Fremden, Gliedmaßen flogen umher, und ihre Sicht war von Tränen getrübt. „Er hat Schmerzen, ich muss ihm helfen."
„Atme, Varya", sagte Tom, während er versuchte, sie von der verstorbenen Kreatur wegzuziehen. Er warf Maxwell einen Blick zu, und der Junge ging zu der Leiche hinüber und zückte einen Zauberstab. Mit einer schnellen Bewegung ging der Körper in Flammen auf und der dunkle Rauch stieg auf in den Himmel.
„Was tust du da?" Varyas Stimme war rau, während sie weiter um sich schlug und nun mit hasserfüllten Augen nach Maxwell griff. „Hör auf! Ich muss ihn zurückbringen."
„Er ist tot, Varya. Du musst dich beruhigen." Tom packte sie an den Schultern, drehte sie herum, damit sie ihm in die Augen sehen konnte, und ließ sie beide auf den Boden und in den Schnee sinken. Das Mädchen hatte aufgehört zu schreien, die Augen waren auf den Slytherin-Vertrauensschüler gerichtet, aber sie zitterte immer noch stark. Der Schmerz war unerträglich, und doch, als Tom Riddle sie berührte, war es, als wäre ihre ganze Existenz wie betäubt, und das Einzige, was sie spürte, waren seine Hände auf ihren Schultern.
„Ich habe es nicht so gemeint, Tom. Du musst mir glauben", jammerte sie, die Hände in seine Arme gekrallt, die Augen geschwollen und gerötet.
Tom warf einen Blick auf Maxwell, der den blutigen Dolch aufgehoben hatte und ihn nun genau untersuchte.
Er ist aus Silber, eines der wenigen Dinge, die magische Kreaturen töten können, unabhängig von ihrer Herkunft. Die Markierungen auf dem Griff deuten darauf hin, dass er im östlichen Teil des Kontinents geschmiedet wurde, auch wenn es schwer zu sagen ist, wo. Wahrscheinlich ist Varya Petrov die Besitzerin, und er wurde ihr höchstwahrscheinlich von ihrer Schule zum Schutz vor den Monstern, denen sie ausgesetzt waren, gegeben.
Tom holte tief Luft und versuchte, die Verärgerung darüber abzuschütteln, dass er sich mit dem Gefühlschaos vor ihm auseinandersetzen musste. Er mochte es nicht, mit etwas konfrontiert zu werden, das er nicht verstand, und Varyas Bedauern darüber, dass sie die Kreatur getötet hatte, war für ihn rätselhaft. Er konnte ihre Reaktion nicht nachvollziehen und fand sie furchtbar dramatisch. Der Dolch deutete darauf hin, dass Varya in den Wald gegangen war, um etwas zu töten, und dass sie nicht aus Selbstverteidigung gehandelt hatte.
„Warum hast du ihn getötet?", fragte er und seine Arme brannten dort, wo sie ihn berührte. Er fühlte sich, als hielte er eine zerbrechliche Vase in den Händen, etwas, das er zerbrechen und foltern konnte, und es bereitete ihm ein unbeschreibliches Prickeln.
„Ich habe es nicht so gemeint, Tom. Ich habe ihn nicht umgebracht, ich habe nur...", murmelte sie, fast unverständlich, und Tom musste sich eine Bemerkung verkneifen, dass sie seinen Namen nicht benutzen sollte. Er hasste es, und sein Blut kochte, als sie ihn aussprach, aber er wollte nicht noch mehr Tränen ertragen müssen. Er war ohnehin schon angewidert.
„Du hast was?", fragte er und versuchte sein Bestes, seine Sprache zu modulieren.
„Ich... ich habe meine Magie getestet, ich hätte ihn zurückbringen sollen", schluchzte Varya und drehte sich zu dem toten Therestral um, aber Tom packte ihren Kopf und drehte ihn zurück zu ihm, hielt ihr Kinn mit Gewalt fest und starrte in ihre erstarrten Augen. „Warum ist sie so schwach, Tom? Warum kann ich meine Magie nicht wirken?"
Maxwell kam auf sie zu und warf ein Buch nach den beiden, das Varyas Bein traf. Tom schnappte es sich, dann sah er auf den Titel — Die Märchen von Beedle dem Barden.
Sein Kiefer verkrampfte sich, die Erkenntnis setzte ein. Um zu beweisen, dass ihre Magie noch lebendig war, war Varya in den Wald gegangen und hatte ein magisches Wesen hingerichtet, in der Hoffnung, es wiederbeleben zu können. Doch sie war gescheitert, weil ihre Magie nicht mehr das war, was sie einmal war, da ihr Geist schwach geworden war. Und Tom wusste genau, was das verursacht hatte.
Jetzt. Jetzt war es an der Zeit zu handeln.
Toms Griff um ihren Kopf wurde fester, fast gewaltsam, und die Hände des Mädchens suchten nach seinen, um sie loszureißen. Sein Blick war distanziert, losgelöst, als er in ihre Augenhöhlen blickte. Seine Pupillen weiteten sich, ein schwarzer Sturm zog über den aquamarinblauen Ozean, und er drang in Varyas Gedanken ein. Er sah die bröckelnden Mauern, die fielen, als sie von dem mächtigen Schwert der Verzweiflung und der Angst getroffen wurden, und mit einem letzten Stoß drang er in ihren umzäunten Geist ein.
„Hör auf, hör auf, es tut weh", hauchte sie und versuchte, sich gegen die Invasion zu wehren, indem sie ihr Bestes tat, um ihren Geist zu verschließen. Aber sie war schwach, dafür hatte Tom gesorgt, und ihr Verstand war ein Durcheinander von zerbrochenen Überresten, eine Hülle von dem, was er einmal gewesen war.
Er tauchte tief ein, ging ihre Erinnerungen eine nach der anderen durch, analysierte sie, prägte sie sich ein. Er sah ihren Kummer, ihre Wut, ihre Panik. Es gab keine Liebe, und er konnte kaum Glück sehen, die meisten ihrer Erinnerungen waren mit schwarzem Staub bedeckt.
Kummer, Groll, Einsamkeit, Verlassenheit, Terror, Trauma, Schmerz, Verrat.
Dann sah er sie endlich, die Erinnerung, nach der er gesucht hatte, die er die ganze Zeit über hatte extrahieren wollen.
Varya öffnete die Türen eines Gebäudes, das eine Kathedrale zu sein schien, aber es war fast so, als hätte Gott ihr den Rücken zugekehrt und sie in einen Raum voller Übel und Unmoral verwandelt. Sie ging auf den Eingang zu, vorbei an mehreren Porträts, die sie mit Reue in den Augen ansahen, ein unausgesprochenes Eingeständnis der Schändlichkeit.
Zwei Männer standen vorne, einer von ihnen war in Schwarz gehüllt, und Tom spürte ihre Verzweiflung, ihr Leid angesichts seiner Anwesenheit. Sein Gesicht war abstoßend, gealtert durch Verderbnis und Sünde, und es trug ein hässliches Grinsen.
„Und warum sollte ich sie auf eure verdorbene Schule schicken?" Seine Stimme war ungehobelt, in jedem seiner Worte lag ein leichtes Grollen. „Habt ihr uns nicht schon genug genommen? Habt ihr keine Scham, die wahre dunkle Macht unseres Herrn zu beschmutzen?"
Dann drehte sich Varya zu dem anderen Mann um, und Tom gefror das Blut in den Adern. Albus Dumbledore.
„Willst du dich wirklich gegen mich stellen?" fragte er mit einer Stimme, die so unangenehm war wie immer, und Tom hätte ihn am liebsten in Varyas Gedächtnis vernichtet. „Muss ich dich daran erinnern, was passieren wird, wenn ich ein Wort über deine wahren Praktiken verlauten lasse, Dalibor? Ich glaube nicht, dass das Zaubereiministerium deine Experimente gutheißen würde."
„Petrov, ich möchte dir den großen Albus Dumbledore von Hogwarts vorstellen." Tom entging der Sarkasmus nicht, der das Timbre des üblen Mannes durchtränkte, und er bewunderte ihn. Jemand stellte sich gegen die Person, die er am meisten verabscheute. „Er stellt ziemlich hohe Ansprüche, wie du siehst. Er glaubt, dass er jenseits der Reichweite unseres Herrn ist und wünscht, dass du deine Macht zunichte machst, indem du seine Schule besuchst."
Toms ganzes Wesen war von Abscheu erfüllt, als er ihre Hoffnung spürte, als er die bunten Fäden sah, die Varyas Körper mit dem von Dumbledore verbanden. Er erstrahlte in reinem Weiß wegen ihrer Gefühle — Hoffnung und Verwirrung.
„Varya Petrov, ich habe schon viel über deine Familie gehört." Die Angst war wieder da. „Mach dir keine Sorgen, Kind. Ich bin nicht hier, um dich zu bestrafen. Ich bin hier, um dir eine Chance auf Wiedergutmachung zu geben." Und dann war sie verschwunden.
Der andere Mann, derjenige, den Tom nicht erkannte, stieß ein wütendes Knurren aus und marschierte dann aus der Tür, wobei er sie hinter sich zuschlug.
„Wie?" Es war Varya, die jetzt sprach, und ihre Stimme war ganz anders als sonst. Sie war gedrückt, ja, und schüchtern, aber sie war lebhafter, als Tom sie je gehört hatte.
„Was weißt du über das Schicksal, Varya?"
Die Erinnerung zerbrach, und Tom spürte, wie das Mädchen in seinen Armen erschlaffte und ihr Geist sich vor ihm verschloss. Sein Zorn brodelte, und er verspürte fast das Bedürfnis, den Dolch aus Maxwells Händen zu nehmen und ihn ihr an die Kehle zu setzen, um sie zu foltern, bis sie wieder zu Bewusstsein kam.
Er stand auf und zog Varyas Körper mit sich, dann hob er sie hoch und ließ ihre Beine zur Seite baumeln. Maxwell beobachtete, wie der Junge sich umdrehte und den Wald verließ, und er blieb an seinem Platz stehen, zu Tode frustriert. Er wusste, dass Tom Legilimentik an dem Mädchen angewandt hatte, aber warum hatte er aufgehört? Selbst wenn sie ohnmächtig geworden war, könnte er immer noch eindringen, wenn er ihren physischen Körper genug strapazierte.
Barmherzigkeit. Nach der Definition des Wörterbuchs wird dieses Wort in der Regel mit dem Akt des Mitgefühls oder der Vergebung gegenüber einer Person in Verbindung gebracht, wenn die andere Partei sie bestrafen oder ihr Schaden zufügen kann. Synonyme: Mitleid, Milde, Menschlichkeit.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top