Kapitel 29 | Eine Begegnung
Sie drehten sich um wie ein Mann, die Waffen erhoben.
Bereit, sich dem zu stellen, was sich hinter dem Licht verbergen mochte.
Noch ehe die Gestalt, die die gleißenden Strahlen als Deckung nutzte, auch nur im Ansatz die Form eines Menschen erahnen ließ, hatte Legolas seinen ersten Pfeil von der Sehne geschickt, gefolgt von Gimlis Axt.
Pfeil und Axt prallten von etwas ab, Aragorns Schwert begann plötzlich zu glühen und Eonwe spürte eine Kraft...
Nicht die von Sauron oder Saruman.
Sondern die ungetrübte Stärke Valinors.
War es möglich...
"Wartet!", schrie der Maia und senkte Veanië, dessen polierte silberne Klinge das Licht reflektierte wie ein Spiegel.
Vadrion hatte seine Waffe bereits gesenkt, in seinem Gesicht standen viele Dinge:
Unverständnis, Erstaunen, Verwirrung...
Keiner der beiden Maia konnte deuten, was er spürte.
Und dann begann die Gestalt zu sprechen: "Ihr verfolgt die Spuren zweier junger Hobbits."
Keine Frage, sondern eine Feststellung.
"Wo sind sie?",rief Aragorn, der seine Augen gegen das Licht abschirmte.
"Sie sind hier durchgekommen," antwortete die Gestalt, mit sanfter, ruhiger Stimme, "Vorgestern. Sie trafen Jemanden, den sie nicht erwartet hatten. Tröstet euch das?"
Aragorn ging nicht darauf ein.
Stattdessen trat er einen Schritt auf die Gestalt zu.
"Wer seid Ihr? Zeigt Euch!"
Das Strahlen begannen zu verblassen und ein alter Mann in weißen Gewändern kam zum Vorschein, den Stab neben sich, die Augen so klar und hell wie eh und je.
"Olorín," hauchte Eonwe und machte einen unsicheren Schritt nach vorne.
Legolas sank auf die Knie, die anderen verneigten sich.
Vadrion hingegen stand einfach nur da, sah den Istari an.
Sein Gesichtsausdruck war undeutbar, verzerrt von zu vielen Emotionen, die sich gleichzeitig darin spiegelten.
"Du bist gefallen," stieß Aragorn ungläubig hervor.
Gandalf atmete tief durch.
"Durch Feuer. Und Wasser. Vom tiefsten Verlies bis zum höchsten Gipfel kämpfte ich gegen den Balrog von Morgoth. Bis ich zuletzt meinen Feind niederwarf und seine Hülle gegen die Seite des Berges schmetterte. Dann umfing mich Dunkelheit und ich irrte umher, ohne Gedanken und Zeitgefühl. Über mir zogen die Sterne dahin, und ein Tag war so lang wie ein Lebensalter auf der Erde. Doch das war nicht das Ende. Denn Leben rührte sich wieder in mir."
Eonwe schüttelte ungläubig den Kopf, als er langsam begriff, was geschehen war. Er sah zu Vadrion, doch der bemerkte es gar nicht.
"Man hat dich zurückgeschickt," flüsterte der Herold Manwes. Wie lange war es her, dass zuletzt so etwas geschehen war?
"Gandalf..."
Aragorn war einen Schritt nach vorn getreten, seine Klinge kraftlos in Händen haltend.
"Gandalf," wiederholte der Istari, "Ja...das war mein Name. Gandalf der Graue."
Er lächelte Aragorn an.
"Ich bin Gandalf der Weiße. Und ich kehre zurück zu euch. Hier, am Wendepunkt der Gezeiten."
Dann wandte er sich den beiden Maiar zu, die immer noch hinter den Gefährten standen.
"Es ist auch gut, euch wiederzusehen, Eonwe und Vadrion von Valinor. Euch beide hier zu sehen ist eine Freude."
"Wir sind die, die sich freuen, Olorín," gab Eonwe zurück, der zumindest ansatzweise verdaut hatte, was gerade geschehen war, "Wir dachten, Mittelerde hätte dich verloren."
Gandalf ging an Aragorn vorbei und trat in ihre Mitte, seine weißen Gewändern strahlten so hell wie seine Augen.
"Nein. Meine Aufgabe ist noch nicht erfüllt. Ebensowenig wie die eure."
"Hast du eine Nachricht von den Valar?", fragte Vadrion nun, der es endlich geschafft zu haben schien, seine Fassung wieder zu erlangen.
"Ich habe nicht mit Mandos gesprochen, Vadrion," erwiderte Gandalf, "Und auch mit sonst keinem der Valar."
Vadrion nickte nur.
"Wir haben auf deinen Rat gehofft," setzte Eonwe zögernd an, "Wir brauchen Hilfe."
Gandalf sah von Eonwe zu Vadrion und wieder zurück, während sein zuerst noch warmer und freundlicher Gesichtsausdruck ernst und grimmig wurde.
"Die Dunkelheit ist über uns, meine Freunde. Krieg ist über Rohan gekommen. Wir müssen nach Edoras reiten, so geschwind wir nur können."
"Ihr beide," fuhr er fort, "müsst aufbrechen. Ihr dürft nicht länger warten. Etwas geschieht in Mordor. Wir müssen gehen."
Gandalf setzte sich in Bewegung und rauschte an ihnen vorbei, sein weißer Mantel bauschte sich hinter ihm auf.
Die Gefährten wechselten einen Blick und beeilten sich, dem Istari hinterher zu eilen.
"Wir hatten vor, nach Minas Tirith aufzubrechen, nachdem...", setzte Eonwe an, unterbrach sich allerdings selbst. Nachdem...was?
Was war eigentlich ihr Plan gewesen?
Plötzlich hatte er das Gefühl, schon viel zu viel Zeit verschwendet zu haben.
"Was, Olorín," fragte Vadrion nun und schloss zu ihm auf, "Was geschieht in Mordor? Was tut er?"
Seine Stimme klang drängend und besorgt, und Eonwe spürte die gleichen Emotionen in sich selbst aufsteigen.
Gandalf irrte sich selten - sein Gefühl täuschte ihn nie.
Und wenn sich Mordor erhob...
Eonwe schluckte, und seine Gedanken schweiften zu der letzten, verheerenden Schlacht an den Toren von Angband, die den Boden mit Strömen von Blut und die Luft mit Schreien erfüllt hatte.
Daenor, was hast du getan...
"Ich weiß es nicht," antwortete Gandalf grimmig, während er sie weiter und weiter durch den Fangorn führte. Die Bäume schienen sie noch immer zu beobachten, doch sie strahlten keine Feindseligkeit mehr aus und ließen sie passieren. Das Blätterdach über ihnen, das zwischen unzähligen Grün-, Grau- und Brauntönen wechselte, ließ vereinzelte Sonnenstrahlen zu ihnen durch, die immer mehr wurden, je weiter sie sich dem Waldrand näherten, und kleine helle Flecken auf den düsteren Waldboden zeichnete.
"Doch eines," fuhr Gandalf fort, "Kann ich mit Sicherheit sagen: Dinge nehmen ihren Lauf, die nicht so sind, wie sie auf dem ersten Blick erscheinen."
"Was meinst du damit?", mischte sich Aragorn nun ein, der ebenfalls zu ihnen aufgeschlossen hatte und nun mit langen Schritten mit ihnen mithielt.
"Es bedeutet," erwiderte Gandalf, "Dass eure Entscheidungen, Eonwe, weitere Kreise ziehen könnten, als wir anfangs vermuteten. Handelt nicht unbedacht," fuhr er mit Blick auf Vadrion fort, "Aber handelt entschlossen."
Beim letzten Satz sah er dem Herold Manwes tief in die Augen, nur kurz, aber so schneidend wie eine Klinge.
Eonwe zwang sich zu einem Nicken.
"Ich weiß."
Vergeblich versuchte er, die aufsteigende Angst in ihm zu unterdrücken und atmete tief durch.
Wieder einmal fragte er sich, was geschehen würde, wenn sie auf Daenor trafen.
Was der Elb - was Eonwe - tun würde.
Oft genug war er vor diesen Gedanken zurückgeschreckt, doch er durfte nicht zögern. Alles konnte davon abhängen.
Dann dachte er an Gandalfs Worte.
Was geschah an Mordor?
Was war passiert?
Eonwe schüttelte den Kopf und verbannte seine Überlegungen, denn zumindest bis sie Minas Tirith erreicht hatten, würde niemand diese Fragen beantworten können.
Um sie herum wurde es schließlich etwas heller, denn die Bäume wurden lichter und kleiner, während auch die Luft, die zuvor fast stillgestanden hatte, wieder frischer und lebhafter wurde.
Und dann hörte der Wald so urplötzlich auf, als hätte jemand die Ausläufer einfach abgeschnitten.
Auf einmal standen sie auf den Ebenen Rohans, deren gelbliches Gras sanft im Wind wogte.
Eonwe atmete den so vertrauten Wind tief ein, ließ zu, dass er einen Teil seiner Sorgen mit sich forttrug.
Mit einem Mal fühlte er sich wieder etwas leichter.
Auch in den Gesichtern der Gefährten, die hinter ihnen stehenblieben, spiegelte sich Erleichterung, den Wald hinter sich gelassen zu haben - vor allem bei Gimli.
Gandalf trat einen Schritt nach vorne und stieß einen trillernden, gellenden Pfiff aus.
Ein lautes Wiehern erwiderte den hohen Ton, und kurz darauf tauchte ein wunderschönes, weißes Pferd auf, das über die sanft gewellte Landschaft auf sie zu galoppierte.
Zwei weitere Pferde folgten ihm - erstaunt erkannte Eonwe den Falben und den Braunen, die die beiden Maiar hierher getragen hatten.
Schnaubend blieben sie vor ihnen stehen und der Herold hob die Hand, um dem Tier über den Hals zu streichen.
Die Maiar wandten sich Gandalf zu.
"Danke," meinte Vadrion lächelnd.
Der Istari nickte ernst.
"Ich wünsche euch beiden viel Glück." Dann senkte er die Stimme und fügte dunkel hinzu:
"In Minas Tirith stehen die Dinge nicht gut. Denethor, der Truchsess von Gondor...seid vorsichtig, was ihr sagt. Erwähnt die Gemeinschaft nicht."
Eonwe runzelte die Stirn, nickte aber dann zögernd.
Stellte sich denn die gesamte Welt gegen sie?
Ohne ein weiteres Wort stiegen sie in die Sättel der Pferde und wandten sie Richtung Norden.
Schließlich wandte Eonwe sich noch einmal zu Gandalf um.
"Elen síla lúmenn' omentiëlvo, mellon nîn," sprach er feierlich und neigte den Kopf.
Ein Stern leuchtet über der Stunde unserer Begegnung, mein Freund.
Ein Lächeln zog sich über die Lippen des Istari, und auch er neigte das Haupt.
"Mögen die Valar euch beide behüten, wohin auch immer euer Weg euch führen mag."
Eonwe nickte und sah zu Vadrion.
Sein Gesicht war grimmig, verschlossen, und dem Herold kam in den Sinn, dass ihm selbst das gleiche durch dem Kopf ging wie seinem Gefährten:
Ihr Weg war ungewiss, und jeder Abschied konnte ein Abschied für immer sein.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top