Kapitel 15

In dieser einen Nacht ließ ich Lilia keine Sekunde aus meinen Armen. Selbst als sie schon längst erschöpft wieder eingeschlafen war, behielt ich sie auf meinem Schoß umklammert. Behielt sie so nah wie irgend möglich. Ich genoss diese Nähe. Die Nähe zu einem Menschen, der zumindest einen Teil meiner Ängste teilte. Doch ich wusste, dass das falsch war. Dass ich egoistisch handelte, in dem ich sie hier bei mir behielt. Dass ich Lilia das alles niemals hätte antun dürfen. Ich hätte nie zulassen dürfen, dass sie wegen mir zur Verräterin wurde. Ich hätte mich von Anfang an von ihr fernhalten sollen, so wie Morgan es mir gesagt hatte. Dennoch saß ich hier im Schein der Lampe auf einer Coach in einem Haus, das mir völlig fremd war, und schwor mir selbst und auch ihr, dass ich Lilia ein schöneres Leben als ihr vorheriges im Heim des Königs beschaffen würde. Ein Leben, in dem sie sein könnte, wer sie wollte. Ohne Magie, die ihr Äußeres auf die Meinung einer einzelnen Person abstimmen würde. Ohne Wayne und Socrate, die sie von allen anderen abschirmten. Und ohne mich, der sie ganz offensichtlich mit jedem weiteren Tag noch weiter in die Scheiße hinein ritt. 

Am nächsten Morgen stand der Abschied bevor. Reginald hatte vor, mich direkt nach dem Frühstück zum geheimen Anwesen meiner Familie zu bringen. Dort hatten meine Eltern mit Jesse, Elena und mir nach meiner Geburt gelebt. Dort war meine Vater mit mir abgetaucht, nachdem meine Mutter und meine Geschwister getötet worden waren. Bis heute war es nie von einem Magier aus dem Heim des Königs gefunden worden, weshalb es dort auch relativ sicher für mich sein sollte.  Ich hätte dort die Möglichkeit noch etwas mehr an meinen magischen Fähigkeiten zu feilen und wäre gleichzeitig vor Socrate geschützt. Lilia sollte mit mir kommen.

 Während des Frühstücks sah mich Anna die gesamte Zeit über an. Als würde sie darauf warten, dass ich eine Entscheidung treffen würde. Wie hätte sie auch ahnen können, dass ich das schon längst getan hatte? >Ich denke, es wird dir gut tun dort zu leben, William. Soweit ich weiß, sind dort noch alle Habseligkeiten deiner Eltern und Geschwister, einschließlich der Tagebücher deines Vaters. Vielleicht kannst du sie wenigstens dadurch etwas näher kennenlernen<, meinte Ellen, während sie sich einen weiteren Kaffee eingoß. >Das heißt aber nicht, dass wir dich vergessen werden. Ich erwarte dich zu Weihnachten in unserem Familiendomizil in Wisconsin. Dann kannst du meine anderen Kinder und Enkel kennenlernen. Wie genau du dorthin kommst, werde ich dir noch genau zukommen lassen. Natürlich so, dass man es nicht verfolgen kann. Keine Sorge, du und Lilia seid nun bei weitem nicht die ersten, die ich verstecke< Okay, Niels, Zeit auszupacken, dachte ich mir, bevor ich einmal tief Luft holte für das, was ich den anderen zu sagen hatte.

>Kannst du mir vielleicht noch einen Gefallen tun, Ellen?< Verwirrt sah sie von ihrem Teller hoch und sah mich mit verengten Augen an.

>Der da wäre?< Jetzt kommt's.

>Könntest du Lilia vielleicht außerhalb des Landes schaffen?< Die Reaktionen fielen größtenteils genau so aus wie ich es erwartet hatte. Während mich Ellen und Reginald perplex ansahen, Paul, Louis und Coco sich aus dem Gespräch raus hielten und mich Anna mit einer hochgezogener Augenbraue spöttisch betrachtete, rief Lilia ein erschrockenes "Was?" und schien nicht ganz zu verstehen, was ich da gerade gesagt hatte. Oder sie wollte es nicht verstehen. 

>Darf ich fragen, warum?< Ich zwang mich dazu nur Ellen anzusehen, während ich sprach.

>Es ist hier zu gefährlich. Zu gefährlich für sie, erst recht in meiner Nähe. Sie hat mich da raus geholt, mehr kann und will ich nicht von ihr verlangen. Sie soll irgendwo weit weg von hier von vorne anfangen. Freunde finden, zur Schule gehen und ein normales Leben führen. Ich möchte sie nicht noch weiter in das Ganze hineinziehen, als ich eh schon getan habe< Aus den Augenwinkel sah ich wie Lilia mich fassungslos ansah. Als würde sie gerade aus allen Wolken fallen. Ich unterdrückte den Drang, zu ihr zu sehen, es ihr genauer zu erklären, damit sie es verstehen könnte. Ich konnte das jetzt nicht tun, nicht wenn ich nach dem Gesichtsausdruck ging, den Ellen zur Schau stellte. Sie zögerte. Zögerte mit ihrer Antwort, während sie mich eingehend musterte. Deshalb wandte ich meinen Blick nicht ab, sondern sah ihr direkt in die Augen. Versuchte ihr irgendwie damit zu sagen, was ich eigentlich sagen wollte. Nämlich, dass ich Lilias Leben zerstört hatte. Dass ich es war, der sie zum Flüchtling gemacht hatte. Und dafür musste ich mich immer noch bedanken, in dem ich es ihr ermöglichte, das zu tun, was sie wollte, ohne ständig in der Angst leben zu müssen, irgendjemand könnte sie finden und zurück bringen. Am liebsten wäre es mir, wenn sie das Heim des Königs nie wieder sehen müsste. 

Als Ellens Blick etwas weicher wurde, hätte ich am liebsten vor Erleichterung geseufzt. So atmete ich nur unauffällig kurz auf, als auch schon die Anspannung von mir abließ. Sie ahnte gar nicht, was für eine große Last sie mir damit von den Schultern nahm. >Ist das der einzige Grund? Damit sie ein neues Leben beginnen kann?< Als ich diese Fragen hörte, hätte ich Anna am liebsten die nächste Klippe hinunter gestürzt. Ich wusste genau, was sie meinte. Und was sie damit erreichen wollte. Das Blöde daran war ihr Tonfall, der mir von vornherein keine Chance ließ, ihre Frage zu umgehen. Wütend ballte ich meine Hände, die auf meinen Oberschenkeln lagen, zu Fäusten.

>Ich will sie nicht dabei haben<, presste ich hervor und unterdrückte den Drang, diese Worte sofort zurück zu nehmen. Lilia, die gerade noch neben mir auf einem Stuhl gesessen war, stand nun abrupt auf und verließ den Raum, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen. 

>Das wäre nicht nötig gewesen, Anna<, meinte Ellen tadelnd, da ich keine Anzeichen machte, irgendetwas sagen zu wollen. Ich musste mich beherrschen, Anna nicht gleich hier und jetzt am Tisch vor den Augen ihrer Kinder an die Gurgel zu springen. Als diese nur leicht die Augenbrauen hob, fuhr Ellen in meine Richtung gewandt fort: >Ich werde sie irgendwie außer Landes schaffen, vielleicht nach England oder Australien... Aber ich brauche Zeit, um die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen. Deshalb wird sie erst mit dir mitgehen. Zu Weihnachten bringst du sie dann mit und anschließend werde ich sie wegbringen. Ist das in Ordnung für dich?< Nein, war es nicht. Ganz und gar nicht. Da ich aber wusste, dass ich nun keinen Rückzieher mehr machen konnte, nickte ich einfach nur. Dabei ignorierte ich sowohl Reginalds fassungslosen Blick, als auch das bedrückende Gefühl welches sich in meine Magengegend festgesetzt hatte. Ich tat das Richtige. Ich musste daran glauben, dass ich das Richtige tat.  

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