Veränderung
Es ist bereits Anfang Herbst, als Leyla mit einem riesigen, eingepackten Bild zu ihren Eltern fährt. Diesmal wissen sie Bescheid, dass sie kommt. Sie hatte ihnen am Telefon gesagt, dass sie ein Geschenk und viel mit ihnen zu bereden hätte. Sie bekam kaum eine Reaktion, aber ein Datum und eine Uhrzeit. Also klingelt sie zu besagtem Zeitpunkt mit klopfendem Herzen an der Tür ihres Elternhauses. Mittlerweile hat es die Düsternis verloren, die es für sie immer ausstrahlte. Leyla hat verstanden, dass es ihre Haltung ist, die am Ende entscheidet, wie sie fühlt und wahrnimmt, wenn sie das Düstere sehen möchte, sieht sie es auch. Wie sie zuvor, ausgelöst durch die Angst in den Träumen, ihren Bruder immer als diese dunkle Gestalt wahrnahm. Während er ihr nur Liebe und Versöhnung bringen wollte. Ihr Vater öffnet, auf ihr klingeln, die Tür. «Komm herein Leyla. Schön...schön bist du da», sagt er mit brüchiger Stimme. Enis flüstert ihr ins Ohr: «Er spürt, dass sich heute etwas verändern kann, wenn sie es zulassen.»
Leyla tritt ein und er führt sie schweigend ins Wohnzimmer. Ihre Mutter sitzt bereits steif auf dem grossen weissen Sofa. Ihre hellblauen Augen bleiben starr auf den Boden gerichtet. Mit etwas Abstand setzt sich Leyla dazu und ihr Vater nimmt neben seiner Frau Platz. Vorsichtig nimmt er deren Hand in seine und sieht Leyla indes erwartungsvoll an. Diese wiederum versteht, dass er nun bereit ist und beginnt zu sprechen: «Dieses Bild habe ich für euch gemalt. Öffnet es erst nachher, bitte. Ich möchte euch erst erzählen, wie es entstanden ist.» Ihre Eltern nehmen es stumm hin.
«Ihr erinnert euch sicher noch an den Schatten, den ich gesehen habe. Dieser Schatten war und ist Enis.» Ihre Eltern verlieren sämtliche Gesichtsfarbe, als sie den lange gemiedenen Namen hören. «Keine Sorge, ich weiss, dass es Enis ist, weil ich ihn nun nicht mehr als Schatten sehe. Ich habe all die Jahre, all die Ängste und Einsamkeit durchlebt, ohne zu verstehen, dass ich niemals allein war. Enis wollte mir mit seiner Anwesenheit keine Schwierigkeiten bereiten. Er wollte für mich da sein und für euch. Er hat mir immer gesagt, dass er da ist und ihr eure Trauer loslassen dürft. Ich konnte es nur nicht hören oder besser gesagt, nicht verstehen.»
Leylas Vater bricht bei ihren Worten in Tränen aus. «Es tut mir so leid, dass ich nicht für euch beide da war, dir keine Liebe zeigen konnte.» Auch ihre Mutter ist den Tränen nahe, doch bei ihr wird es länger dauern, bis sie in ihr Inneres vordringt, weiss Leyla.
«Papa, du hättest nichts für Enis tun können und ich bin dir nicht mehr böse, ich kann verstehen, warum du so gehandelt hast. Es war nicht in Ordnung, doch ich weiss, dass du nicht anders konntest. Grossmutter hat vieles ausgeglichen. Ich wurde geliebt. Auch wenn die Liebe nicht von euch kam.» Es herrscht nun eine tiefe Stille, die nur vom Schniefen ihres Vaters unterbrochen wird. «Aber...», setzt er kurz darauf an. Leyla nimmt seine Hand und unterbricht ihn damit. «Weisst du Papa, niemand überlebt, wenn er keine Liebe bekommt. Ich lebe und ich bin hier, also wurde ich geliebt. Es hat gereicht.»
Leyla wendet sich nun an ihre Mutter, die wie eine Eisstatue neben ihrem Mann sitzt und weiter ins Leere starrt, die Augen glänzen von den unterdrückten Tränen. «Mama, Enis möchte dir gerne sagen, dass es auch nicht deine Schuld ist, dass er gestorben ist. Er hat die Zeit, in der er hier war, geliebt und er liebt dich dafür, dass du ihm eine so grossartige Mutter warst. Mama, wenn du ihn spüren möchtest, hör und fühl in dich hinein. Er ist immer da, wenn du das wünschst.»
Diese Worte brechen die eisige Struktur, in der Leylas Mutter all die Zeit gefangen war. Nach mehreren Stunden des Weinens, des Redens und tatsächlich auch des Lachens, kehrt Leyla in ihr Atelier zurück. Mittlerweile verkaufen sich ihre Bilder wie von selbst und sie wird bald in eine grössere Wohnung umziehen. Ein Neuanfang auf allen Ebenen. An diesem Abend sieht sie ihr erstes friedvolles und harmonisches Bild der Klippe lange an. Als es entstand, kannte sie diese Gefühle nicht. Nun spürt sie diesen Frieden und die Harmonie in sich. Auch wenn es noch Zeit brauchen wird, bis alle Wunden heilen, weiss sie, dass sie auf dem richtigen Weg ist.
Am 10. Dezember 2023, an Leylas 25. Geburtstag, sitzt sie bei ihren Eltern am Esstisch. Sie trägt ein bezauberndes Kleid in einem wunderschönen Blau, welches ihre Augen perfekt hervorhebt. Schwarze Kleidung trägt sie nun kaum noch. Ihre Mutter hat den ganzen Tag hindurch ein Festmahl gekocht. Ausgelassen feiern sie Leylas Geburtstag. Ein viertes Gedeck haben sie für Enis aufgetragen und ein fünftes für Grossmutter. Das Bild, welches Leyla am Tag der Aussprache mitgebracht hatte, hat einen Ehrenplatz im Wohnzimmer erhalten. Darauf sind Leyla und Enis, Arm in Arm an einer Klippe stehend, zu sehen. Ihre Eltern und Grossmutter stehen dicht hinter ihnen, das Meer im Rücken. Als Enis ihr damals in dem Traum sagte, sie solle laufen, ging es nicht darum wegzurennen, sondern hin zu sich selbst. Sie nimmt sich dies jeden Tag zu Herzen.
Leyla versteht nun, dass sie immer die Wahl hat, wie sie ihr Leben lebt. Wenn sie in Harmonie leben möchte, öffnet sie ihre Augen für die Liebe und Schönheit um sie herum. Der Weg entsteht dadurch wie von selbst und führt sie, manchmal durch Täler hin zu ihrem schönsten Selbst. Ihre Grossmutter und ihren Bruder sieht sie nur noch in wichtigen Momenten, aber sie spürt ihre immerwährende Anwesenheit und Liebe. Sie und ihre Eltern lernen sich neu kennen und ihr Band der Liebe wird immer stabiler. Sie besuchen sogar Leylas erste grosse Kunstausstellung unter dem Thema: Angst und Vergebung ∞ Liebe und Freiheit.
Gemalt von The_Morrigan_Crow
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