Kapitel 6
Nele war noch nie auf Kanorans Drache gestiegen, um mit ihm zu fliegen, aber sie musste zugeben, dass es schon ein erhabenes Gefühl war, sich hoch in die Lüfte zu erheben und die Menschen auf dem Boden so klein zu sehen.
"Warum zeigst du dich erst jetzt?", fragte sie den Drachen.
Ich wollte dich nicht erschrecken. Es ist eine Sache, einen Drachen von Weitem zu sehen, aber eine andere, nahe vor einem zu stehen. Viele Menschen fürchten sich dann vor uns und ich wollte dich nicht beunruhigen.
Nele keuchte leise.
"Du sprichst auch ganz anders, als deine Brüder. Die anderen Bräute haben mir erzählt, dass ihre Drachen eher gebrochen reden."
Sein mächtiger Drachenkopf nickte.
Das ist richtig. Nur der schwarze und der blaue Drache beherrschen die menschliche Sprache. Der schwarze Drache beherrscht sie, damit sein Mensch nicht dem Wahnsinn verfällt, wenn er in die Einsamkeit verschwindet. Ich habe die Sprache einfach gelernt. Das sit in jeder Generation so.
Nele kicherte.
"Du bist so schlau wie Kanoran, richtig?"
Sie hörte ein dumpfes Lachen, dass sich eher nach Keuchen anhörte.
Sagen wir mal so...Kanoran und ich sind im Prinzip ein Wesen. Jeder Drachenprinz, wie ihr sie nennt, ist eigentlich ein Drache, der sich verwandelt hat. Im Laufe der Zeit haben die Menschen uns als zwei Wesen gesehen. Ich denke, es war einfacher für sie, die Drachen als Wesen zu sehen, die aus dem Mensch entstehen, als den Mensch, der vom Drachen geformt wird.
Nele überlegte eine Weile, kam dann aber zu demselben Entschluss.
"Ich verstehe nur eines nicht. Wie hatten sich die Drachenjäger gebildet? Ich fand darüber nichts in den Schriften."
Der Drache nickte wieder.
Richtig. Darüber findet man nur wenig. Kanoran wird diese Geschichte irgendwann dem nächsten blauen Drachen erzählen. Diese Geschichte wird mündlich überliefert, aber ich habe ihm schon vorgeschlagen, sie endlich nieder zu schreiben. Ich finde es wichtig, dass man die Geschichte nie vergisst und es als mahnendes Beispiel erkennt.
Nele schmiegte sich an seinen Hals.
"Willst du sie mir erzählen? Jetzt?"
Sie hörte ein leises Brummen, dass aus seiner Kehle kam und begann zu lachen.
"Nicht in der Drachensprache. Das ist nicht gerecht, weil ich sie noch nicht sprechen kann."
Wieder hörte man dieses kehlige Lachen.
Du wirst diese Sprache auch nicht lernen können, meine Nele. Das menschliche Gehör ist nicht dafür gemacht, die feinen Nuancen zu hören. Du bist nun mal kein Drache.
Sie schnaubte böse.
"Das ist wirklich nicht gerecht. Ich will können, was ihr könnt."
Er lachte.
Wie wäre es mit einem Handel. Ich habe immer noch keinen Namen von dir bekommen und ich muss gestehen, ich bin etwas enttäuscht darüber.
Wieder kicherte sie.
"Du bist beleidigt deswegen?"
Er nickte.
Sie hörte wieder das Brummen, dass er ausstieß, um mit seinen Brüdern zu kommunizieren. Sachte strich sie über seine dunkelblau schimmernden Schuppen.
"Ich habe lange überlegt. Ich wollte dir keinen Namen geben, der dir nicht gerecht wird. Und ich habe dich auch noch nie gesehen. Es fielen mir viele Namen für dich ein, aber erst jetzt, als ich dich sah, weiß ich, wie ich dich nennen werde."
Er drehte leicht seinen Kopf und sah sie an.
Wie ist mein Name, meine Nele?
Sie seufzte.
"Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht."
Er schnaubte.
Ich werde nie von dir enttäuscht sein. Das geht gar nicht, denn du bist die unsere.
Nele lächelte. Kanoran war schon ein Charmeur, aber sein Drache übertraf alles.
"A Pyaar. Ich werde dich A Pyaar nennen."
Seine Flügel schlugen auf einmal kräftiger und er schoß in den Himmel, um sich dort einige Male um die eigene Achse zu drehen. Nele sollte eigentlich Angst haben, aber sie jauchzte vor Spaß und wagte sogar, eine Hand in die Höhe zu heben.
Es ist ein wunderschöner Name, meine Nele. Und nun werde ich dir die Geschichte der Drachenjäger erzählen.
Rehisa wollte Sisgard zwar nicht heiraten, dass er sie aber schnell durch eine Frau wie Sara ersetzte, passte ihr auch nicht.
Der Mann, den sie überredet hatte, sie aus dem Schloss zu bringen, war nicht ihre erste Wahl. Immerhin war sie eine Drachenbraut gewesen und er nur ein einfacher Krieger.
Rehisa war eine böse Frau, die dies aber gut verstecken konnte. Und sie war der Meinung, sie hätte mehr verdient.
Nachdem sie den Krieger losgeworden war, ging sie durch das Land der Drachen, weit weg vom Drachenschloss, denn sie konnte es nicht ertragen, dass Sisgard glücklich war und sie nicht. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, nachdem sie mit dem anderen Mann geflüchtet war, aber nicht, dass sie den Spott der einfachen Leute in der Stadt ertragen musste.
Und das war alles Sisgard Schuld.
Insgeheim malte sie sich aus, dass er sie hätte suchen müssen. Sisgard sollte vor ihr auf die Knie fallen und um Vergebung bitten. Und eigentlich musste er sie doch anflehen, dass sie wieder zu ihm zurück kommt. Doch der Drache dachte nicht daran, sondern ersetzte sie einfach durch eine Frau, die ihren Platz nicht verdient hatte. Sie war auserwählt worden und sie sollte an Sisgards Seite sein. Das wurde ihr nun klar.
Nein, sie würde ihn dann immer noch nicht lieben, aber die Genugtuung hatte sie verdient.
Irgendwann kam sie an einen Wald, der die natürliche Grenze zu Wikuna bildete. Die Clans, die im Nachbarland lebten, waren primitiv, aber ein Mann faszinierte Rehisa sofort. Logud war stärker und größer als alle anderen Männer, die sie je zu Gesicht bekommen hatte. Er war kein gut aussehender Mann, aber stark und der Anführer seines Clans. Und er hatte noch keine Frau, fand aber an Rehisa Gefallen. Sie wurde seine Gefährtin, auch wenn sie ihn nicht liebte.
Endlich hatte sie den Einfluss, den sie immer haben wollte. Doch nach einigen Jahren hörte sie, dass die Drachen und vor allem Sisgard immer beliebter wurden. Sisgard war auch der Vater des zukünftigen Drachenkönigs und in Rehisas Kopf spannen sich wieder Gespinste, dass sie es gewesen wäre, die einen König auf die Welt gebracht hätte.
Sie selbst hatte mit Logud keine Kinder und der Neid nagte an ihrer Seele. Abend für Abend erzählte sie Logud Lügen über die Drachen, bis er selbst einen Hass gegen sie entwickelte, obwohl er vorher nie etwas gegen Vahelio hatte.
Irgendwann war der Hass so groß, dass er mit einigen Männern einen Drachen angriff. Die Schlacht war schnell vorbei, denn es war gerade der Kriegsdrachen, den sie überfielen und seine Verteidigung war verheerend für sie gewesen.
Bis auf einen Mann starben alle, auch Logud. Der Mann wurde nur am Leben gelassen, damit er andere davor warnte, sich nie mit den Drachen anzulegen. Doch die Warnung verpuffte.
Rehisa wurde Clanführerin und sie schürte auch in anderen Clans den Hass gegen die Drachen. Nun hatten auch alle einen Grund, denn Logud war auch bei den anderen Clans beliebt und anerkannt. Sie schworen sich, seinen Tod zu rächen und die Drachen so lange zu bekämpfen, bis diese wieder aus Wikuna verschwanden. So wurden sie zu den Drachenjägern, die heute noch existieren.
Nele schnaubte.
"Dann haben wir das alles nur einer eifersüchtigen Frau zu verdanken?"
A Pyaar lachte leise.
In der Geschichte der Menschheit gibt es einige solche Situationen, bei denen es sich herausstellte, dass eine eifersüchtige Frau für Kriege verantwortlich war. Ich sage immer: verärgere nie eine Frau, wenn du nicht ihre Rache spüren willst.
Nele kicherte.
"Daran sollten sich du und Kanoran immer erinnern, denn es ist klug, so zu denken."
Wieder schmiegte sie ihre Wange an seinen Hals.
"Wie können wir diese Geschichte dazu nutzen, dass die Drachenjäger sich endlich besinnen?"
Ich könnte dir erzählen, was Sisgard getan hat, aber es wird dir nicht gefallen.
Sie runzelte die Stirn.
"Nun, es geht ja nicht um mich. Was hat Sisgard denn getan?"
A Pyaar seufzte.
Sisgard war der einzige Drache, der je getötet wurde. Er opferte sich, um seine Familie und seine Brüder zu schützen.
Meriwan lief in ihrem kleinen Zimmer auf und ab.
Ihr gefiel das alles nicht.
Sie hatte Nielema erzählt, wie Racola es ihr aufgetragen hatte, doch irgendwie schienen Männer zu meinen, alle Frauen bei Gefahr einschließen zu müssen. Die Drachen machten da keine Ausnahme. Immerhin hatten sie dafür gesorgt, dass Meriwans Geschwister neue Kleidung, ein Bad und genug zum Essen bekamen. Nun lagen alle drei erschöpft in einem großen Bett und schliefen. Die Aufregung im Schloss zu sein, hatte sie erschöpft, aber Meriwan hatte nun leider Ruhe zum Nachdenken.
Eigentlich sollte sie ihn hassen, denn er hatte sie entführt und eine Weile bei sich behalten. Meriwan war sich sicher, dass wenn Racola sie einfach in der Drachenstadt zurück gebracht hätte, wäre es auch bei dem Hass geblieben, doch der Mistkerl hatte ihr geholfen und sich selbst damit in Gefahr gebracht. Wie sollte sie ihn da noch hassen?
Es klopfte leise an der Tür und Lili streckte ihren Kopf hinein.
"Darf ich hereinkommen?"
Nache einem Nicken von Meriwan kam sie herein, wirkte aber immer noch sehr traurig.
"Ich würde verstehen, wenn du mich verachtest."
Meriwan runzelte die Stirn.
"Warum sollte ich dich verachten?"
Lili wirkte einen Moment erleichtert und kam dann weiter in das Gemach herein, dass sie nun mit ihren Geschwistern bewohnen konnte.
Meriwan zeigte auf eine Gruppe Sitzkissen, die um einen kleinen Tisch herum platziert waren.
"Ich kann uns einen Tee machen.", schlug sie vor, aber Lili schüttelte den Kopf.
"Nein. Du setzt dich hin und ich mache den Tee. Ich kann dir gar nicht oft genug sagen, was ich für ein schlechtes Gewissen gehabt habe."
Meriwan setzte sich verblüfft auf eines der Sitzkissen und beobachte, wie Lili einen kleinen Stieltopf in die Glut des Kohlebeckens stellte, um das Wasser darin zu erhitzen.
"Ich verstehe immer noch nicht. Warum soll ich dich verachten?", fragte sie nach einer Weile.
Mit Lili hatte sich Meriwan von Anfang an gut verstanden und sie waren gute Freundinnen geworden, da Lili nur knapp ein Jahr älter als Meriwan war.
"Nun, Racola hat dich entführt. Es muss schrecklich für dich bei ihm gewesen sein."
Meriwan schüttelte den Kopf.
"Nein, es war eigentlich nicht schlimm."
Lili drehte ihren Kopf zu Meriwan. Ihr Blick zeigte Erstaunen.
"Ich habe es gehasst. Er sperrte mich ein und verlangte, dass ich mich von Velion los sage. Ich floh, weil ich Angst vor ihm bekam."
Nun war es Meriwan, die verblüfft ihre Augen aufriss.
"Angst? Vor Racola?"
Lilli nickte und schüttete das kochende Wasser in einen Krug um und setzte sich dann zu ihr. Vorsichtig nahm sie Meriwans Hand.
"Ja, ich hatte wirklich Angst vor ihm. Er wurde...ich weiß nicht...aufbrausend und wütend, weil ich ihm widersprach."
Meriwan lachte ungläubig.
"Wütend? Nun ja. Etwas vielleicht, aber ich hatte nie Angst vor ihm."
Lili blickte sie ernst an.
"Wie bist du ihm entkommen?"
Meriwan wischte sich über das Gesicht.
"Ich bin ihm nicht entkommen. Er ließ mich gehen und hat mir noch geholfen, meine Geschwister in Sicherheit zu bringen. Racola brachte uns bis kurz vor das Schloss und verschwand dann, damit man ihn nicht festnehmen konnte. Wenn ich deine Fragen so höre, scheint es mir, als ob wir von unterschiedlichen Männern sprechen."
Lili lehnte sich zurück.
"Den Eindruck habe ich auch. Ich hatte Angst um dich, doch du scheinst dich gut mit ihm verstanden zu haben. Ich verstehe das nicht."
Meriwan nickte leicht und stand dann auf, um ihnen Tee einzuschenken.
"Ich verstehe es auch nicht. Er war höflich und zuvorkommend. Einmal sagte ich ihm zwar, dass ich ihn hassen würde, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass er deswegen wütend war. Eher betroffen." Sie senkte den Kopf. "Er küsste mich zum Abschied und bat mich darum ,dass ich nicht zusehen werde, wenn er gegen Calarion kämpft."
Lili riss die Augen auf.
"Er hat nicht von mir gesprochen?"
Meriwan lachte leise.
"Oh doch. Am Anfang verglich er mich mit dir, aber irgendwann hörte das auf. Wenn ich ehrlich sein soll, erwartete ich beinahe, dass er darum bat, dich noch sehen zu dürfen, aber er verlor kein Wort mehr über dich."
Lili starrte sie eine Weile an, dann begann sie leicht zu Lächeln.
"Er hat dich geküsst? Und er will nicht, dass du...ja, was denn eigentlich?"
Meriwan blies auf den Tee und trank einen Schluck.
"Er will sich opfern, damit die Kämpfe aufhören. Er will gegen Calarion kämpfen und sterben."
Lili hob sich betroffen eine Hand vor den Mund.
"Aber...aber...das bringt doch nichts. Wenn er stirbt, werden die Drachenjäger angreifen." Ihre Augen wurden zu dünnen Schlitzen. "Oder will das etwa? Will er als Märtyrer sterben?"
Meriwan schüttelte den Kopf.
"Das glaube ich nicht. Er will vorher das Wort der Drachenjäger haben, dass die Kämpfe aufhören."
Lili schnaubte.
"Und er denkt wirklich, sie halten sich daran?"
Das konnte Meriwan eben nicht Gewissheit sagen. Sie glaubte nicht, dass Racola eine böse Absicht hatte.
Wenn es seine Absicht war, dann hatte er Meriwan bewusst getäuscht. War das wirklich alles gespielt gewesen, um sie in gewisser Ahnungslosigkeit zu lassen?
Seine Hilfe.
Die Gespräche.
Die Bitte, dass sie nicht zusah, wenn er starb.
Der Kuss?
Meriwan war noch zu jung, um solche Täuschungen zu erkennen. Wenn es denn eine Täuschung war. Aber das konnte sie nur herausfinden, wenn sie sich gegen seine Bitte auf dem Schlachtfeld einfand. Dann würde sie sehen, ob es Racola ernst mit ihr meinte.
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