09 - Das "finstere Mittelalter"

Ich habe lange drüber nachgedacht. Wir reden oft vom "finsteren Mittelalter" - da kann der beste Geschichtsunterricht nicht gegenan stinken. Auf der anderen Seite wurden noch 1750 in Nordhessen 500 Menschen auf einmal wegen Hexerei verbrannt - im Zeitalter der Aufklärung. Aufklärung??? Gleichzeitig steuern wir straks auf das Zeitalter des Absolutismus zu! Es wurde also nur anders, nicht "besser" oder "moderner".

Mein Buch bewegt sich am Rande, am Ende des Mittelalters, zu Beginn der Neuzeit. Der gesellschaftliche Wandel begann bereits weit über einhundert Jahre vorher in Italien und robbte von da aus langsam über die Alpen nach Norden. Rennaissance - die Wiedergeburt der Antike, der Bildung, der naturwissenschaftlichen Neugierde. Galilei, Kopernikus, die Entdeckung Amerikas, Jan Hus, die Täufer, die Katharer, Savonarola in Florenz, schließlich Luther, Calvin und Zwingli hatten die Fundamente und die Denkverbote der katholischen Kirche ins Wanken gebracht. Sie hatten es gewagt, die Bibel neu zu interpretieren. Hand in Hand mit der wieder erwachenden antiken Kultur hatte die Reformation ein Erdbeben über Europa hinwegrollen lassen.

Etwa einhundert Jahre hatte es gedauert, bis die Rennaissance sich auch nördlich der Alpen weitgehend etabliert hatte, zumindest unter den Gebildeten, in den Städten. Bis dieses neue Lebensgefühl auch auf dem platten Land angekommen war, hat es sicher noch etwas gedauert.

Seit Jahrhunderten hatte sich nichts mehr so gravierend verändert. Es war eine Zeit, wo die Obrigkeiten alles galten und die Masse der Bevölkerung davon abhängig war. Sie waren weder gebildet noch privilegiert noch finanziell oder rechtlich irgendwie abgesichert. Noch im 19. Jahrhundert, noch im 20. war eine Frau echt am A..., wenn sie einen Fehltritt machte, gar ein uneheliches Kind hatte. Wer krank, alt, körperlich oder geistig behindert war, hatte schon halb verloren. Wenn ein Kalb mit zwei Köpfen geboren wurde, und gleichzeitig lief zufällig eine alte Frau am Stall vorbei - dann war diese Frau so gut wie tot! Da gab es noch keine Mendelsche Vererbungslehre, da herrschte purer Aberglaube.

Wer "die Säulen der Erde" gelesen hat, weiß, wovon ich rede. Der Umgang untereinander und vor allem von oben nach unten war von desinteressiert, gesellschaftlich genau kontrolliert bis brutal, schonungslos, alternativlos,  würdelos - und immer hübsch fein biblisch begründet (Ich betone: in MEINER Bibel steht davon nichts!). Ich habe immer wieder beim Schreiben an eine bestimmte Szene in diesem bekannten Buch denken müssen, bei der ich damals zitternd im Bett lag, weil ich mich beim bloßen Lesen körperlich unwohl gefühlt habe.

Der Obermacker (fragt nicht nach Namen, zu lange her) kommt ins Dorf geritten, alle müssen antreten und stellen sich in einem großen Kreis auf. Und weil er nicht kriegt, was er will, schnappt er sich das nächstbeste junge Mädel aus dem Kreis und vergewaltigt sie vor aller Augen. Ihr Leben ist sozusagen gelaufen.
Ein anderer Mittelalter-Roman, den ich daraufhin tatsächlich sofort beiseite gelegt habe, fing damit an, dass ein völlig unschuldiger jüdischer Mann gefoltert wird, weil irgendein A... irgendeinen Unsinn erzählt hat. Er wird nackt auf die scharfe Klinge eines Messers gesetzt. Schluss! Aus! Cut! Szene wird nicht wiederholt sondern aus dem Film geschnitten.

In meinem Buch bin ich die Regisseurin, und darum habe ich versucht, diese Zeit realistisch, plastisch, nachempfindbar darzustellen, ohne in solche Brutalitäten abzurutschen. Aber ich deute das sehr wohl immer wieder an. Die Angst aller "normalen" Menschen ist in diesem Buch (hoffentlich) mit Händen zu greifen. Das eiskalte oben-unten wird zum Beispiel bei Annas ersten Besuchen im Schloss deutlich. Armut, Hunger und Krankheit sind nicht zu übersehen. Dass Anna von ersten Lebenstag an bis ins Erwachsenenalter nie die Möglichkeit hat, irgendwas selbst zu entscheiden - normal. Und auf der anderen Seite: dass dank der tradierten Erbfolge Hannes nicht seiner Bestimmung entkommen kann und der Tausch sich dann für Ludo so falsch anfühlt - alles normal.

Der Tod von Bauer Adam, das konfiszierte Schwein, willkürlich angehobene Steuern, Schikanen an der Grenze. Wenn der Hauser mit den Landsknechten kommt, werden die Töchter und Mägde ganz nach hinten gestellt. Das ist der direkteste Bezug zu den "Säulen der Erde". Dass Anna so brutal verschleppt wird, war in Wahrheit meine niedliche Variante zu dem, was wirklich geschehen wäre.

Der "Radfahrer" Hauser - nach oben buckeln, nach unten treten. Das unausgesprochene Machtsspiel zwischen Karl von Pagenstecher und dem Brudenhusen. Der eine möchte gerne der Bestimmer sein. Der andere aber hat qua Geburt und Erziehung so viel Selbstbewusstsein, dass er de facto die Oberhand behält. Einfach, weil er es nicht anders kennt, und das strahlt er auch aus. Almuth Jansen habe ich gegönnt, dass Annas guter, sanftmütiger Einfluss sie rechtzeitig zum Nachdenken bringt. Und Barkhausen hat sich wohl sein Leben lang durchgeschlängelt und ist wie eine Katze immer auf die Füße gefallen.

Auf der anderen Seite mache ich ja tüchtige Schlenker in die ganz neue Neuzeit, was gesellschaftliche Möglichkeiten angeht. Dass die Freifrau von Brabeck-Lenthe es schafft, ihr Kind zu behalten, zu verstecken und an diese Stellung zu kommen, dürfte damals tatsächlich eine der wenigen Ausweichmöglichkeiten für "gefallene Frauen" gewesen sein. Aber dass sie gleich auch noch eine Schule gründet und ganz viel Geld in die Erziehung und Bildung aller steckt - nette Utopie. Dass Hannes abhaut - undenkbar. Dass er tatsächlich abdankt - noch viel mehr. Letzten Endes: dass Anna und Hannes davon träumen, sich ein Leben zu wählen, das zu ihnen passt, ist ein Gedanke der 68er. Vorher lernte man, was der Vater bestimmte. Punkt.
Die einzige Möglichkeit für Frauen mit Hirn, nicht in die Ehe-Kinder-Kindsbetttod-Mühle zu geraten, war ein Kloster oder Damenstift. Viele zu versorgende Töchter, aber lange nicht alle wurden ins Kloster gesteckt. Viele wählten selbst den Weg für sich, weil sie dort "nur" den Regeln des Konvents unterworfen waren und sogar im Laufe der Zeit die Möglichkeit hatten, sich bis zur Äbtissin nach oben zu dienen. Und dann hatten sie ziemlich viele Freiheiten. Witwen und Frauen mit Kindern mussten diese allerdings zurücklassen und zu Verwandten geben. Darum war dieser Weg für Annas Mutter versperrt. Nichts hätte sie dazu gebracht, Anna herzugeben.

Dass Hannes sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt, mit seinem richtigen Namen und den entsprechenden Ehrbezeugungen angeredet zu werden. Dass er das Knie beugt vor den Dörflern, dass Klaas und Anna ihn weiterhin duzen sogar vor hochgestelltem Publikum. Total verrückt. Dass der kleine Jakob ohne Einschränkung (bis auf die Erberei irgendwann mal) der Sohn von Hannes wird und weiter alles bekommt, was die anderen auch bekommen - die Realität sah eher so aus wie bei den Brüdern von Thaden. Vertuscht, verachtet, verbraucht. Die Not des Gunther von Thaden und seines unterdrückten Halbbruders ist sehr viel realistischer als die Wahlmöglichkeiten von Hannes.

Die Art und Weise, wie Anna ihre Kinder liebt und erzieht, ist sogar noch moderner. Sie achtet auf die Kinder, sie mutet ihnen nichts Unmögliches zu, sie nimmt sich Zeit für sie, sie spaziert und bastelt mit ihnen, sie erklärt ihnen behutsam die Welt, sie lässt sie auch mal ihren Kopf durchsetzen und reißt sich Beine aus, um ihnen immer gerecht zu werden. Netter Wunschtraum. In Wahrheit haben diese Kinder vielleicht die Geburt überlebt, bekamen als letzte zu essen, mussten mitarbeiten, sobald sie einen Finger krümmen konnten. Wenn sie krank wurden, starben sie halt, wenn sie sich nicht benahmen, gabs Prügel, gelernt wurde der Beruf vom Vater oder geheiratet. Zeit zum Spielen? Zeit zum Lernen? Vergiss es.

Ich glaube schon, dass Witwen mehr Möglichkeiten hatten als Unverheiratete. So .... 'n paar. Aber die Freiheit, die Anna eingeräumt wird, ihr Leben selbst zu gestalten, die hat es fast nieeeeee gegeben. Doch nur so konnten meine beiden glücklich werden. Hannes spürt sehr fein und lässt Anna selbst den Weg finden, bis in ihr das uneingeschränkte Ja entsteht. Und sogar ihr Vater lässt sie bleiben, was und wo sie ist. Das alles war damals undenkbar. Ich mache es möglich, weil ich ein bisschen diese Anna bin, die grade ihr Leben völlig neu sortieren muss und dafür ganz viel Hilfe bekommt, aber auch ganz viel Geduld und Zeit und Freiheiten, die den meisten nicht vergönnt sind.

Die meisten LeserInnen werden dieses Buch wahrscheinlich dennoch unter "Mittelalter" einsortieren. Ich erhebe allerdings ausdrücklich nicht den Anspruch, einen historisch korrekten Roman geschrieben zu haben.

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21.8.2020    -    12.4.2021

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