Kapitel 1
Der Wecker dröhnte ihm in seine Ohren, als er mit der Hand umherfuchtelnd nach dem Ausschalter suchte. Er stieß dabei das Glas vom Nachttisch, das er sich noch am Vorabend eingeschenkt hatte; der restliche Whiskey bahnte sich nun seinen Weg in den eh schon verdreckten Teppich. Draußen war es noch dunkel, die kleinen Tröpfchen glitten von den Fensterscheiben und bildeten einen kleinen See an der Unterseite des Rahmens. Die ganze Nacht durch hatte es geregnet, während kleine Lichtblitze den sonst so finsteren Himmel erhellten. Ohrenbetäubendes Donnergrollen folgte, es schien fast so, als hätte es ihn wachhalten wollen. Doch, wenn es eine Nacht gab, in der man das nicht hätte tun müssen, dann wäre es genau diese gewesen. Jedes Jahr aufs Neue lag er wach, auch wenn er jedes Mal wieder versuchte, sich mit einem Cocktail aus Alkohol und verschreibungspflichtigen Pillen zum Schlafen zu zwingen.
Er setzte sich auf die Bettkante, die Hände vor sein trübes Gesicht haltend. Eine kurze Weile saß er regungslos so dort, starrte abwechselnd aus dem Fenster und zu seinem Wecker. Die kleinen Leuchtdioden blinkten, während die Uhrzeit von 5:03h auf 5:04h sprang. Es war der 17. Juli, ein Tag, den er so gerne aus seinem Gedächtnis streichen wollte. Doch auch das letzte Jahr, das Jahr davor und das Jahr vor dem Jahr, das nach dem letzten Jahr folgte, gab es den 17. Juli. Blickte man noch zwei weitere Jahre in die Vergangenheit, dann war dort der 17. Juli, der sein Leben verändert hatte. Er hatte es nicht bloß verändert, sondern in kleine Fetzen zerrissen, geschreddert wie kleine Papierschnipsel, die aus einem Aktenvernichter regneten.
Noch immer spürte er die Kugeln in seinem Körper, die leblose Hand seines Sohnes, die er selbst Stunden nach seinem Tod nicht losgelassen hatte. Seitdem war kein einziger Tag vergangen, an dem er nicht daran gedacht hatte, wie ihre Leben verlaufen wären, wenn sie an dem Tag unbeschadet die Kartbahn erreicht hätten. Jonathan wäre dann vor zwei Monaten achtzehn Jahre alt geworden und hätte bald seinen Abschlussball. Er hätte eine schöne Frau an seiner Seite gehabt, dachte er jedes Mal, wenn ihm dieser Gedanke im Kopf herumspukte. Diana und er wären stolz auf ihn gewesen, hätten ihn dabei beobachtet, wie er mit seiner Partnerin über die Tanzfläche flanierte. Natürlich hätte Jonathan dafür unzählige Tanzkurse besuchen müssen, so unbeholfen, wie er manchmal in solchen Dingen war. Aber all das wäre kein Problem gewesen, denn im Geheimen hatte er für seinen Sohn schon vor Jahren ein Konto eröffnet, auf das er jeden Monat eine Summe überwiesen hatte, um ihm all das ermöglichen zu können. Noch immer zahlte er monatlich etwas ein, er hatte nie damit aufgehört.
Diana hatte das Gleiche für Emily getan und ihr das Geld vor zwei Jahren zum Abschluss überreicht. Er war jedoch nicht anwesend gewesen, weil niemand ihm davon erzählt hatte. Emily wollte ihn nicht dabei haben, so sehr ihre Mutter auch versucht hatte, sie zu überreden. Ein paar Tage später erfuhr er davon und nahm diese Information ohne jegliche Wut im Bauch entgegen, denn er wusste, dass er es selbst gegen die Wand gefahren hatte.
„Gordon, komm wieder ins Bett", murmelte die weibliche Stimme hinter ihm, während eine Hand ihn zärtlich an der Schulter berührte.
„Geh", fauchte er zurück.
„Was meinst Du?"
„Geh einfach! Was ist daran so schwer zu verstehen?" schrie er plötzlich los.
Die Frau schubste die Decke zur Seite, stampfte fest mit beiden Füßen auf den Boden und zog sich hektisch ihr Oberteil über.
„Jedes Jahr das Gleiche mit Dir!" fluchte sie. „Zum Ficken bin ich Dir gut genug und sobald ich Dir irgendwie helfen will, stößt Du mich weg wie einen räudigen Köter."
„Du bist 'ne Hure, wäre traurig, wenn Du dafür nicht gut wärst."
„Ach, fick Dich doch, Gordon. Du bist ein verdammtes Arschloch."
Sie hastete zur Tür und knallte sie hinter sich zu.
„Leila", rief er ihr noch hinterher, aber es war zu spät.
Es tat ihm leid, jedes Jahr machte er das mit ihr, sammelte sie auf dem Straßenstrich, der unweit von der Wache entfernt lag, auf, betrank sich und schlief mit ihr. Er bezahlte nicht einmal mehr was dafür, weil sie irgendwie Mitleid mit ihm hatte. Vielleicht war das schwer zu begreifen, aber es war nicht bloß Mitleid, sondern irgendwas empfand sie für ihn. Sie wusste selbst nicht genau, was es war. Doch am Morgen danach jagte er sie jedes Mal davon, schrie sie an und machte ihr somit auf nicht gerade netter Art und Weise klar, dass ihre Anwesenheit nicht mehr erwünscht war. Nächstes Jahr würde er wiederkommen, das wusste sie, und wieder würde sie nicht „Nein" zu ihm sagen können. Sie schwor sich immer wieder, das nie mehr mit sich machen zu lassen, vor allem nicht, ohne Geld von ihm zu nehmen. Nicht bloß einmal hatte sie dafür das Haus ihres Zuhälters heulend, am ganzen Körper mit Wunden übersäht, verlassen. Es war nicht so, dass Gordon es ihr nicht geben wollte. Er hatte es ihr mehrmals angeboten, doch sie hatte jedes Mal abgelehnt.
Seine Klamotten lagen noch von der letzten Nacht im ganzen Zimmer verteilt. Mit seinen zittrigen Händen sammelte er sie ein und streifte sie über. Die Zigaretten, die sich in der nicht verschlossenen Jackentasche befunden hatten, waren vom gestrigen Abend komplett durchgeweicht. Als er den Reißverschluss zu schließen versuchte, klemmte er sich bloß den viel zu langen Bart ein. Jeder Versuch, ihn aus den Fängen der einzelnen Zähne zu befreien, scheiterte, bis er wutentbrannt zur Schere griff. Der Blick in den Spiegel offenbarte, was er sich ohnehin schon gedacht hatte: Er sah scheiße aus. Verwuscheltes Haar, Augenringe, die bis unter die Wangenknochen zu reichen schienen und nun auch noch der zerschnittene Bart. Letzteren hatte er jahrelang gepflegt, akribisch darauf geachtet, dass kein einziges Haar dort saß, wo es nicht hingehört hatte. Emily hatte immer gescherzt, er kümmere sich mehr um seinen Bart als sie um ihre Frisur.
Er machte die Tür hinter sich zu, schloss doppelt ab, bevor er die Treppen herunterstapfte. Die frische Luft drang in seine Atemwege, als er nach draußen trat, der Regen prasselte währenddessen unaufhaltsam in sein Gesicht. Nun stand er dort, wog ab, ob er zum Auto rennen oder doch warten sollte. Noch konnte er wieder reingehen, und hätte er sie nicht verjagt, würde auch Leila dort in einem warmen Bett liegen. Entschlossen lief er dann aber doch los. Es war nicht weit bis zu seinem Auto, dennoch stand ihm das Wasser bis zu den Knöcheln, als er es erreichte. Er riss die Fahrertür auf und schwang sich auf die Stoffsitze. Der Mustang war damals - am 17. Juli - komplett zerstört worden. Durchlöchert mit Kugeln und gänzlich zerstörter Karosserie ließ er ihn nach dem Crash verschrotten. Die Irreparabilität war jedoch nicht der einzige Grund gewesen, warum er seinen einstigen Traumwagen zu einem kleinen metallenen Haufen hatte zusammenpressen lassen. Er wollte nie wieder mit diesem Auto fahren, zu sehr schmerzte ihn die Erinnerung an Jonathan, wie er ihn in dem einen Moment noch überglücklich angesehen und er im nächsten leblos neben ihm gesessen hatte. Diese Szenerie verfolgte ihn seitdem in seinen Träumen, riss ihn regelmäßig aus dem Schlaf, sodass es nur noch wenige Nächte gab, in denen er nicht hochschreckte.
Er schob den Schlüssel ins Schloss, doch es benötigte zwei Anläufe, bis das Auto ansprang. Mittlerweile zeigte die Uhr schon 5:47h, als er ausparkte und losfuhr.
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