Kapitel 36 // ... auch wenn uns unsere Ängste den Weg vorgeben
Ich trat ins Schloss ein. Draußen war es warm und alles schien so wie immer. Die Sonne stand schon tief am blauen Himmel. Es war still. Zu still. Louis und Bill sollten eigentlich hier sein. Auch meine Eltern mussten zu diesem späten Zeitpunkt Zuhause sein, wie auch die gesamte Dienerschaft. Wie ich es von ihnen gewohnt war, hatte ich Lärm erwartet, doch keine vollkommene Ruhe. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Beinahe panisch rannte ich durch den Eingangssaal zur Treppe. Niemand war zu sehen. Normalerweise herrschte hier ein geschäftiges Treiben, sodass man kaum ungesehen hinaufkommen konnte, doch niemand war in Sichtweite.
Plötzlich entdeckte ich etwas vor meinen Füßen. Fast wäre ich gestolperte, so wenig hatte ich mich auf meine Schritte konzentriert. Ich ließ mich auf die Knie fallen und betrachtete dieses Etwas vor mir genauer. Obwohl langer schwarzer Stoff darüber ausgebreitet war, erkannte ich nach nur wenigen Sekunden, dass es ein Mensch war. Ich streckte meine Finger nach dem Stoff aus, bekam ihn jedoch kaum zu fassen, so stark wie ich zitterte. Seide, es war reine Seide. Ein schwarzer Seidenumhang, wie ihn eigentlich nur mein Vater trug.
Ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht hysterisch zu werden oder vorschnell zu reagieren. Doch kein einziger klarer Gedanke schoss mir durch den Kopf. Ich hatte Angst. Unheimliche Angst. War es wirklich Herr Vater? Was war mit ihm geschehen? Und wenn nicht, wieso lag hier jemand in seinem Umhang am Fuße der Treppe? Tausende Möglichkeiten schossen mir durch den Kopf, jedoch fand ich keine einzige, die mir wirklich gefiel. Wieso wachte ich nicht auf? Was war nur los?
Abermals streckte ich meine zitternden Finger nach vorne, dieses Mal um den Stoff zur Seite zu ziehen. Es konnten wenige Sekunden oder auch mehrere Minuten vergangen sein, bis es mir gelang; ich hatte das Zeitgefühl komplett verloren. Das Erste, was ich bemerkte, war sein typischer dunkelblauer Anzug und das lichte blondgraue Haar. Sofort ließ ich den Stoff los und schlug die Hände vors Gesicht. Es war Herr Vater, da gab es keine Zweifel. Doch das konnte nicht wahr sein! Das durfte nicht wahr sein!
Wieder streckte ich die Hand aus. Vielleicht schlief er gerade nur oder es war wirklich jemand anderes. Ich wusste selbst nicht, was ich denken, sagen oder tun sollte. Es war so irreal, so unwirklich, dass es gar nicht stimmen konnte. Und doch gab mir genau dieses Irreale das Gefühl, dass es wahr sein musste. Kaum hatte ich nach seiner Hand gegriffen, bestätigte sich diese dunkle Vermutung in meinem Inneren, die ich nicht einmal zu denken gewagt hatte. Kein Puls. Ich probierte es noch einmal am Hals, doch auch dort spürte ich absolut nichts mehr. Die Haut war warm, ins Gesicht sehen konnte ich ihm jedoch nicht, wie er dort auch dem Bauch lag.
"Herr Vater?", fragte ich leise. Ich erhoffte mir nicht einmal eine Antwort. Trotzdem griff ich nach seinen Schultern, um ihn umzudrehen. Vielleicht war alles nur ein Missverständnis. Vielleicht war alles in Ordnung. Es musste so sein! Es musste!
Sein Oberkörper kippte, sodass er auf dem Rücken landete. Leblose Augen starrten mich an. Nein! Das konnte nicht wahr sein! "Vater? Bitte, Vater! Bitte, beweg dich!" Doch er lag einfach da. Einfach so, regungslos. Tot.
Verschreckt wich ich zurück. Sollte ich schreien? Sollte ich Hilfe holen? Sollte ich einfach hier sitzenbleiben? Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Tränen liefen mir über die Wangen und ich tat einfach minutenlang, was mir wie Stunden vorkam, nichts. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen, in der Hoffnung, dass er noch am Leben wäre, doch nicht einmal zu seinen Lebzeiten hatte ich mich das getraut. Nun war es vorbei. Nie wieder sein unerträgliches Gemecker, seine abgehobene Art, die übertriebene Gestik und Mimik und vor allem nicht seine Fürsorglichkeit, so schroff er auch oft war. Nie mehr. Was für eine lange Zeit.
Irgendwann, als ich mich wieder etwas beruhigt hatte, versuchte ich mich am Treppengeländer hochzuziehen, was mir gelang. Ich warf einen letzten Blick zu Herr Vater, bei dem ich erschauderte und hastete die Treppe hinauf. Mutter! Ich musste Mutter finden!
Kaum oben angekommen, wurde ich jedoch von Bill und Louis empfangen, die mich beide je an einem Arm festhielten. Als wäre ich nicht mehr bei mir, trat und schlug ich um mich, ohne die Situation überhaupt zu begreifen. Was war nur los? Wo war Mutter? Was hatten Bill und Louis damit zu tun?
"Ruhig, Charlie. Reg dich doch nicht so auf, nur weil dein Alter abgekratzt ist."
Normalerweise war ich an ihre Sprüche gewöhnt, doch dieses Mal konnte ich mich nicht kontrollieren. Meinetwegen konnten sie mich beschimpfen, aber jedes böse Wort über meine Eltern war ein Wort zu viel. Wütend trat ich mit ganzer Kraft nach Bill, sodass er auf dem glatten Marmorboden ausrutschte und biss Louis ins Handgelenk, sodass es leise knackte. Nur Sekunden später hatte sich der Griff gelockert und ich stürmte zur Zimmertür meiner Mutter und öffnete diese.
"Nein!" So laut wie jetzt hatte ich noch nie geschrien. All das Blut und meine Mutter mittendrin. Verzweifelt stürzte ich zu ihr. Nicht sie! Das musste ein Traum sein! Alles, nur nicht sie! Ich konnte nicht anders, als sie zu umarmen, in der Hoffnung, dass sie aufwachen, mich ansehen und so wie immer sachte über meinen Kopf streichen würde.
Von hinten rissen mich die Ferrans-Brüder wieder von ihr los. Brutal zerrten sie mich aus dem Raum und zurück ans Geländer. "Little Charlie, reg dich mal ab. So schlimm ist es ja nun auch nicht."
"Abregen? Ich werde mich nicht abregen! Meine Eltern sind tot! Einfach tot! Tot, versteht ihr nicht? Tot!" Tränen verdeckten mir die Sicht und ich sank in mir zusammen.
"Ja freu dich doch. Die haben eh nur genervt. Wir wollten dir doch nur helfen. Eigentlich solltest du dankbar sein."
Helfen? Dankbar? Was sollte das heißen? Hatten sie ... ?
"Nein! Das kann nicht wahr sein! Das habt ihr nicht getan!"
"Was ist nur dein Problem? Die haben nur gestört, ohne sie wirst du viel besser leben. Alles wird super. Wir erzählen, dass der alte Knacker seine Frau umgebracht hat und dann die Treppe heruntergefallen ist. Die Waffe ist ihm dabei unter das Sofa gerutscht. Wir waren währenddessen nicht einmal hier."
"Nein. Nicht mit mir! Ihr habt meine Eltern umgebracht! Wie konntet ihr nur? Wieso nur? Wieso?" Ich verstand es nicht. Ich verstand gar nichts mehr. Das war unmöglich! Das durfte nicht sein! "Ich werde es allen erzählen. Ich werde euch nicht helfen. Nie mehr", schwor ich.
"Nein, das wirst du nicht. Du kannst es nicht einmal. Alle werden dich für schuldig halten. Du hast Blut auf deinem ganzen Körper, du hast beide Leichen angefasst und unser Wort steht gegen deins. Und wenn du nur ein Wort von dir gibst, glaub uns, wir zögern auch nicht vor mehr Morden."
"Das werdet ihr nicht wagen."
"Oh doch, glaub uns. Wir trauen uns alles, wir machen alles wie wir wollen. Solange du unser Freund bist, hast du unseren Schutz. Wer nicht unser Freund ist, ist unser Feind und was wir mit Feinden machen, weißt du ganz genau."
Diese Fröhlichkeit, dieser Enthusiasmus in der Stimme war einfach grauenhaft. Ich hatte schon immer gewusst, dass sie weit gehen würden, aber niemals hätte ich gedacht, dass sie zu allem bereit gewesen wären und das nur fürs Vergnügen. Doch ich hatte mich getäuscht. Ich, der vorsichtige Lord, der an alle Optionen dachte, hatte mich getäuscht. Das Unmögliche war eingetreten.
Die nächsten Stunden und Tage verliefen, als wäre ich in Trance. Ich brachte nur verworrene Sätze hervor und taumelte durch die Gegend, als hätte ich zu viel getrunken. Dennoch tat ich etwas, das ich noch Jahrzehnte später bereuen würde: Ich half ihnen. Ich erzählte, was sie mir sagten, wenn auch in einem seltsamen Kauderwelsch und unter Tränen, ich befahl allen meinen Angestellten Stillschweigen, auch wenn mein ehemaliger Butler sicher mitbekommen hatte, was vorgefallen war. Ich rief an diesem Tag die Polizei nicht an, sondern ließ die Köchin dorthin fahren. Ich stellte sogar den Strom ab, damit ich einen Grund hatte, die Köchin fahren zu lassen, sodass der Todeszeitpunkt nicht eindeutig war. Auch behauptete ich, dass die Dienerschaft gar nicht beim Eintreffen der Ferrans fortgeschickt wurde, damit meine Eltern mit ihnen reden konnten, sondern schon Stunden vorher, obwohl das nicht einmal Sinn ergab. Ich spielte ein letztes Mal das Schoßhündchen der Ferrans-Brüder, einfach nur, weil ich solche Angst vor ihnen hatte. Nur ein einziger Befehl lief ins Nichts hinaus: Statt die Waffe von der Polizei finden zu lassen, versteckte ich sie unter meinem Bett. Der einzige Beweis, den ich gegen sie hatte.
Alle Spuren liefen ins Nichts hinaus. Der Mord an Lady Grace Telleray und der mysteriöse Tod von Earl Edward Telleray of Newcastle upon Tyne, dessen Titel ich aus Scham niemals übernommen habe, blieben ungeklärt. Zwei Menschen waren tot und niemand wusste wie uns weshalb, oder jedenfalls traute sich niemand, es zu sagen. Mein Butler war nur einen Tag später verschwunden, die Köchin hatte auf unerklärliche Weise eine Reise ins Ausland gewonnen, von der sie nicht zurückkehrte und einen Tag später stand für zwei Jahrzehnte das Schloss Telleray von Newcastle upon Tyne trostlos da, wobei sich nur wenige Menschen hinein und hinaus trauten. Ein Schloss, das irgendwann einmal gestrahlt hatte, aber so wie sein Besitzer in sich zusammengefallen war.
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