Kapitel 1 // Zeiten kommen, Zeiten gehen ...
Missmutig ging ich nach unten. Ich war wieder viel zu spät dran, aber das war mir egal. Mir war sowieso alles egal. Irgendwann würde sich dieser griesgrämige Lord auch daran gewöhnen. Ich wäre niemals hier geblieben, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, aber die hatte ich nicht.
"Butler!", erklang wieder die nervtötende Stimme von Lord Telleray. Demnach war es halb neun, wie jeden Tag, wenn ich die Treppe herunterkam. Und wie immer antwortete ich ihm nicht, da er mich sowieso nicht herausschmeißen würde. Selbst wenn er es getan hätte, mir wäre es egal gewesen.
"Butler! Arthur! Ich befehle Ihnen, sofort zu kommen! Butler!" Es war genauso wie gestern und die beinahe tausendzweihundert Tage zuvor. Beinahe jeder Tag, seit Claire fort war, begann so. Und dabei hätte ich eigentlich etwas tun müssen. Es wäre verdammt noch einmal meine Aufgabe gewesen, diese Ferrans-Brüder ins Gefängnis zu bringen. Doch ich war kein Detective mehr und würde nie wieder einer werden. Sie schafften es einfach immer wieder, mit Mord davonzukommen.
"Arthur! Komm Sie sofort hierher! Ich erwarte mein Frühstück in zwei Minuten, sonst sind Sie gekündigt! Los! Mister Hill! Bitte kommen Sie, Mister Hill!" Endlich reagierte ich und ging in die Küche. Vielleicht war es ein wenig gemein, dass ich meine unstillbare Wut an ihm ausließ, aber bei seiner Überheblichkeit konnte ich einfach nicht nett sein.
Ich nahm ein Laib Brot, zwei Teller und eine Papiertüte mit Salami und lief damit in den Speisesaal. Die riesige Tafel war absolut nicht geeignet für zwei Personen, aber sonst wohnte niemand in dieser Burg. Egal, wen aus dem Dorf ich auch einlud, nur um mich hier nicht ewig wie das einzige menschliche Wesen in der Umgebung zu fühlen, es kamen nur Absagen. Niemand wollte mit gleich zwei vermutlichen Mördern in einem so alten Gebäude auch nur eine Minute verbringen. Ich konnte es ihnen nicht verübeln, früher hätte auch ich einen großen Bogen um Burg Telleray gemacht. Doch auch wenn man ihn des Mordes verdächtigte, er war leider der letzte Mensch in England, der mir nicht so gut wie möglich aus dem Weg ging.
Mit Schwung schleuderte ich den zweiten Teller und das Brot und die Salami, nachdem ich mir etwas davon genommen, über die lange Tafel bis zum Lord.
"Sie sollen das Essen bringen und nicht werfen", kam sofort der vorwurfsvolle Kommentar.
"Ich will aber nicht so weit laufen."
"Was Sie wollen, interessiert hier niemanden. Hier ist nur meine Meinung gefragt."
"Sind Sie da sicher? Nur Sie hören sich selbst zu." Damit war die Unterhaltung beendet.
Nach dem Frühstück wollte ich hinauf, um wie jeden Tag zwei Stunden lang vorm Fenster zu sitzen und zu darauf zu warten, dass alles besser wird. Dazu kam es aber nicht. Zum ersten Mal im ganzen Jahr klopfte jemand. Es war der Postbote, der schon fortgerannt war, bevor ich die Tür öffnen konnte. Ein Brief lag auf dem Boden. "An Lord Charles Telleray und Detective Arthur Hill"
Ich wunderte mich, wer diesen Brief geschrieben haben konnte, denn seit eineinhalb Jahren hatte ich nur noch mit der Gemischtwarenladenverkäuferin und dem Lord geredet. Dass er überhaupt jemals vernünftig mit einer Person geredet hatte, zweifelte ich komplett an.
"Post ist da!", rief ich und schleuderte den Brief durch den Eingang zum Speisesaal und Lord Telleray direkt an den Kopf.
"Können Sie nicht ein einziges Mal aufpassen, Butler?" Er hob widerwillig den Brief auf.
Ich stand schon auf der ersten Treppenstufe, als es in der Küche laut krachte. Auf dem Absatz hetzte ich zurück. Der Stuhl war umgekippt und der Lord stand leichenblass vor der Tafel. Seine Finger zitterten und der geöffnete Brief war ihm aus den Händen gefallen. Panik spiegelte sich in seinen Augen wieder. "Verschließen Sie das Tor, Mister Hill. Ziehen Sie die Zugbrücke hoch. Verriegeln Sie die Hintertür und die Fenster im Erdgeschoss und lassen Sie Wasser in den Burggraben laufen. Bitte. Es ist wichtig."
Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, während Lord Telleray panisch wurde. Ein sonst so gefasster und berechenbarer Mensch ließ sich nur durch eine Katastrophe aus der Ruhe bringen. Ich rannte sofort los, um alles zu erledigen. Erst nach einiger Zeit kam ich in die Küche zurück, wo er immer noch zitternd dastand. Vorsichtig hob ich den Brief hoch und sah ihn mir an.
Ich taumelte rückwärts, als ich die Signatur las. Bill und Louis Ferrans. Angst stieg in mir hoch. Das konnte einfach nicht wahr sein!
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