Epilog

Stille. Kein Wort, kein Schritt, nur das Rauschen des Windes. Das Schloss lag dort, in Stille und in Dunkelheit. 

Die Türme wurden vom Nebel verschluckt und die Tore waren allesamt verschlossen. Verlassen und verfallen blickte es von außen betrachtet drein. Verlassen und aufgegeben. Doch war es wirklich so? 

Das Zuhause von Lord und Lady Telleray of Newcastle upon Tyne schien von außen so verloren wie dessen Besitzer. Nur das parkende Automobil vor dem Schloss, das beinahe die Mauer berührte, bewies, dass jemand anwesend sein musste. 

Niemand, wenn denn jemand draußen stehen würde, hätte geahnt, dass das Schloss nicht annähernd so leer und verlassen war, wie es schien. Drei Menschen waren anwesend, darunter auch beide Herrschaften Telleray of Newcastle upon Tyne. 

Innen hallten leise Schritte durch den Flur, nur ein Hauch eines Geräusches doch dank der Stille klar wahrzunehmen. Der Lord schritt in der Eingangshalle auf und ab, ein undurchschaubares Gesicht so wie immer. Auch sein aufrechter und doch verkrampfter Gang hatte sich kaum geändert. Es schien wie jeder einsame und hoffnungslose Tag in Newcastle, nur dass nicht alles war, wie es den Anschein hatte. 

Tatsächlich war es seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht vorgekommen, dass mehr als zwei Menschen sich in dem heruntergekommenen Gebäude befanden. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Die Menschen hatten sich verändert. Und selbst Newcastle hatte sich letztendlich auch geändert. Es hatte eine neue Chance gegeben, vielleicht würde ein Neubeginn auch bald vorkommen. Alles hatte sich geändert und doch war es keine Veränderung, die man wirklich bemerken konnte. 

Nervös drehte Lord Telleray den Ring an seinem Finger hin und her. Schon viel Zeit war vergangen, seit dem Tag, an dem sie zurückgekehrt waren. Beinahe wäre alles vorbei gewesen. Es hätten nur Sekunden gefehlt. Noch immer schauderte er, wenn er daran zurückdachte. 

Wie gut nur, dass fast alle überlebt hatten. So perfekt der Plan auch gewesen war, fast wäre er schiefgegangen. Noch immer warf er sich vor, dass er alles besser hätte überdenken müssen. Wie konnte er nur die Verlobte von Louis vergessen haben? Auch wenn Arthur letztendlich doch überlebt hatte, so hätte er auch diese Gefahr mit einkalkulieren müssen, dachte er sich. 

Lady Telleray hüpfte mit großen Schritten die Treppe hinunter. Beinahe verhedderte sie sich mit dem Kleid am Geländer, was sie jedoch nicht sonderlich störte. "Und? Was ist los?" 

"Nichts, Caroline, es ist nichts." Lord Charles Telleray wandte den Kopf zu ihr und blickte sie nachdenklich an. Viel zu viele Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. 

"Nichts? So wirkst du aber nicht. Du machst dir Sorgen, nicht wahr?" Sie seufzte. Auch sie war nicht so fröhlich, wie sie es vorgab. Zu viele Fragen standen noch offen. Dennoch ließ sie sich davon nicht niederdrückten. Nein, schlechte Gedanken brachten ihr nichts, da sie auch so nichts an dem ändern konnte, wie es kommen würde. 

"Natürlich nicht." Er wanderte weiter durch die Eingangshalle, die Haltung aufrecht und die Lippen eng zusammengekniffen. 

"Natürlich doch, meintest du wohl." Sie grinste. Sie war es längst gewohnt, dass er ein und dasselbe meinte, jedoch das komplette Gegenteil sagte. 

"Sicherlich." Auch er lächelte kurz, wurde aber sofort wieder ernst. Noch immer ließ er sich nicht von den quälenden Fragen ablenken. 

Draußen parkte währenddessen ein anderes Automobil. Kaum dass der Motor erstickt wurde, wurde es kurzzeitig wieder still. Lord und Lady Telleray waren in der Halle erstarrt. Das Schloss lag für einige Minuten im Dunkeln da, als würde es gar nicht existieren, bis sich die Autotür öffnete. Dieses leise Klacken zerriss die Stille, sodass beide Herrschaften sich erwartend zum Tor drehten. Niemand wurde erwartet, niemand sollte kommen. Und doch war der mysteriöse Gast im Begriff, das Schloss Telleray aufzusuchen. Wer war er nur? 

Schritte hämmerten über den Asphalt. Lauter und lauter, näher und näher. Der Besuch schlug zweimal mit seiner Faust an das Tor, dann war es wieder still. Verwirrt, schon beinahe panisch blickte Charles Caroline an, nicht wissend, was zu tun war. Wer würde dieses verlassene Schloss freiwillig aufsuchen? Welche Absichten konnte derjenige von dem Tor nur haben? Endlose Fragen. 

Caroline nickte ihm zu, sodass Charles sich zögernd auf den Weg machte, das Tor zu öffnen. Mit jedem Schritt wurde er langsamer, als wollte er den Moment herauszögern, dem Gast gegenüberzustehen. Doch schon stand er dort und drückte die Bronzeklinke hinunter, woraufhin das Tor aufschwang. 

Unter dem ohrenbetäubenden Quietschen des Tores trat eine Gestalt ein, die sie kannten, jedoch nicht wiedererkannt hätten. Im fahlen Licht der Kronleuchter und in der von draußen förmlich eindringenden Dunkelheit kam ein Mann herein, der eher einem Gespenst als einem Menschen ähnelte. Ein schwarzer, leicht zerfledderter Anzug betonte das magere Erscheinungsbild und graue, verwuschelte Haare die eingefallenen Wangen. Beinahe hätte man annehmen können, man hätte einen gebrechlichen Greis vor sich, der kaum einen Schritt vor den anderen setzen konnte. Einzig und allein die Stimme passte nicht zu ihm. 

"Guten Tag." Die schlichten Worte schrie er schon beinahe, was Charles zusammenzucken ließ. Er lief unbeirrt durch den Saal und die Treppe hinauf. Caroline stand verwundert da, auch wenn sie den Besuch jetzt erkannt hatte. Was machte er hier nur? 

Nur Sekunden und einen Blick später stürmten auch Lord und Lady Telleray hinterher. Längst war der Gast aus dem Blickfeld in eins der Zimmer verschwunden. 

"Arthur. Schön, dass ich dich hier antreffe." Der Besucher setzte sich auf den Stuhl neben dem Fenster. Arthur Hill saß aufrecht auf dem Bett, die Arme verschränkt und ein Gesichtsausdruck, der sich in Sekunden von überrascht zu glücklich, dann zu wütend und letztendlich zu verwirrt umänderte. 

"Was machst du hier, Albert?" Seinen ehemaligen Chef hätte er hier nicht erwartet. Einerseits war er ihm dankbar, dass dieser ihm das Leben gerettet hatte, doch den Freundschaftsbruch hatte er noch längst nicht vergessen. 

"Es ist aus, Arthur, es ist aus." Seine tiefe Stimme dröhnte nur so durch den Raum. 

"Aus?", krächzte Arthur. Er hatte es zwar verstanden, konnte es dennoch nicht wahrhaben. "Haben wir ... gewonnen?" 

"Ja!" Er strahlte. Niemals vorher hätte Chief Inspector Albert Garvey glauben können, dass er diesen Fall gewinnen könnte. Alle waren an diesen beiden Verbrechern gescheitert, nur dieses Mal war es endgültig vorbei. 

"Toll." Arthur war nicht ganz so erfreut. Fragen über Fragen rasten dennoch durch seinen Kopf. Fragen, die ihm niemand beantworten konnte, nicht einmal er selbst. War eine Verhaftung wirklich Gerechtigkeit? Hätte er doch lieber schießen sollen? Würden sie nicht erneut eine Möglichkeit finden, an die Freiheit zu kommen? War es wirklich vorbei? 

"Ja!" Caroline kam hineingestürmt und hüpfte auf und ab. Vergessen waren all die Sorgen, Ängste und Fragen, wenigstens für einen Moment. Vergessen war die Verzweiflung, die Tränen, die Hoffnungslosigkeit. Sie wollte jubeln und tat es auch. 

Hinter der Lady of Telleray trat Charles in den Raum. Auch auf seinem Gesicht lag ein Lächeln, doch überschattet von Sorgenfalten. Er war niemand, der sich dem Glücksgefühl einfach so hingab. Er konnte und wollte es nicht glauben, dass es ein Morgen geben könnte. Alle Zeiten waren grauenhaft gewesen, würden grauenhaft sein, wieso waren sie es also nicht im Moment? Er stellte sich selbst dieselben Fragen wie Arthur und auch er wusste keine Antwort. 

Kaum dass Caroline mit dem Jubeln aufgehört hatte, herrschte jedoch wieder Stille. Keiner der drei Männer im Raum war sich sicher, was zu sagen war. Zu viel in Wut und Verzweiflung Gesagtes, zu viel in Angst und Unsicherheit Ungesagtes. Zu viel zwischen ihnen und doch zu viel, das sie verband. 

"Ich nehme an, ich sollte dir danken." Arthur fiel es schwer, sich dazu hinreißen zu lassen. Ein wirklicher Dank war es nicht, doch er wollte nicht so tun, als wäre alles vergeben und vergessen. Er war seinem alten Freund zu echtem Dank verpflichtet, dass er genau in dem Moment dagewesen war, als es nötig gewesen war und doch war er mit ihm in Wut verbunden für all die Jahre, in denen Albert nicht zu ihm gehalten hatte. Er wusste selbst nicht, was zu fühlen, denken oder sagen war. 

"Kein Problem. Wirklich, ich hätte längst reagieren sollen. Ich hätte sofort aufbrechen sollen, als ich deinen Brief mit allen Beweisen und Vermutungen erhalten habe. Ich hätte gar nicht erst so schnell aufgeben sollen. Ich hätte ...", meinte er, dann brach er ab. Er hätte vieles, sollte oder gar musste vielleicht, doch es brachte nichts, die Vergangenheit tausende Male zu überdenken. Es gab nichts mehr zu ändern. Es gab kein 'ich hätte' mehr. 

"Ist gut." Vielleicht hätte er 'ja, das stimmt' sagen sollen? Vielleicht hätte er 'nein, das war nicht nötig' sagen sollen? Doch Arthur entschied sich für die Wahrheit. Es war gut. Es war vorbei. Es gab vieles, das hätte anders laufen sollen, doch nur eine Zukunft vor ihnen. 

"Naja ... Auf jeden Fall kommen sie so schnell auf dem Gefängnis nicht mehr heraus. Erst deine Beweise, dann Lord Tellerays ... Es wird keine Möglichkeit mehr für sie geben, alles zu ihren Gunsten zu drehen. Wir haben gewonnen." 

"Gewonnen." Arthurs Worte klangen wie ein schwacher Hall. Er gab sein Bestes, an ein 'Gewonnen' zu glauben, doch war es wirklich so einfach? Wieder sah er den Moment vor sich, als er auf der Flucht war. Quellington tot, nur wenige Meter entfernt von ihm. Charles und Caroline, die rennen, ihn zurücklassen. Theodor Kelling, der seine Hände eng und Arthurs Hals schließt, bevor diesem schwarz vor Augen wird und Albert Garvey mit einer Handvoll Polizisten erscheint, die nicht einmal wissen, was sie dort machen. Ein Bild, an das sich niemand der Beteiligten gerne erinnern würde und das sich doch ewig ins Gedächtnis eingebrannt hatte. 

"Ja, gewonnen. Und wehe einer von euch Idioten kommt jetzt auf die Idee, mit Zweifeln mir meine gute Laune zu verderben. Keine Widerrede, keine Meckereien und vor allem keine Beschuldigen, Entschuldigen und der ganze Kram mehr. Alles wird wieder gut, wenn auch nicht unbedingt perfekt." 

"Alles wird wieder gut, wenn auch nicht unbedingt perfekt", widerholte Arthur. Die Worte, die Claire immer gesagt hatte. Und wie oft hatte sie damit Recht gehabt. Ein Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück. Alles würde wieder gut werden, da war er sich sicher. 

"Alles wird wieder gut, wenn auch nicht unbedingt perfekt", wiederholte Charles. Sein Lächeln wurde breiter und er schob die Fragen für einen Moment zur Seite. Hoffnung. Solange es Hoffnung gab, konnte alles noch gut werden. Es würde gut werden, ganz bestimmt. 

Das Schloss lag da, in der Dunkelheit, fast vollkommen von Stille umhüllt. Nebelschwaden, die sie um die Türme wickelten und kein Geräusch, das diese Idylle zerstören könnte. Fast wie ein verfallenes und verlassenes Schloss, das nur auf seinen Untergang wartete. Doch so war es nicht. Zum ersten Mal seit langer Zeit gab es wieder Hoffnung. Es würde ein Morgen geben. Es würde wieder gut werden, wenn auch nicht unbedingt perfekt. 

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