Der Retter
Mich fröstelte es am ganzen Körper. Ich spürte das Nachthemd an meinem Körper kleben. Es war vollkommen durchnässt. Ich hörte ein Knistern und als ich die Augen Aufschlug erkannte ich ein prasselndes Feuer.
Ich war gerettet! Ich lebte!
Ich sah mich weiter um.
Ein Junge saß über das Feuer gebeugt und briet Maiskolben.
„Rico!", rief ich und wollte aufspringen und ihn umarmen, doch als sich der Junge umdrehte blickte ich nicht in das vertraute Gesicht.
Der, dem ich ins Gesicht sah, war vielleicht zwei oder drei Jahre älter als ich. Er hatte sehr kurze, braune Haare, blasse Haut und war eher schmal gebaut und nicht besonders groß. So wie ich ihn jetzt einschätzte, war er keinen halben Kopf größer als ich, aber er sah dennoch athletisch aus. Wie sonst hätte er dem Fluss entkommen können?
„Ich bin Ivo, Chiara", sagte er und lächelte mich an. Es war ein freundliches, offenes Lächeln, aber ich fand es in diesem Moment einfach abscheulich. Wie konnte er nur so seelenruhig dasitzen, als ob nichts gewesen wäre?
„Wo ist Rico?", fragte ich die Frage, deren Antwort mich am meisten ängstigte. „Und woher kennst du überhaupt meinen Namen?"
„Der Junge, der bei dir war, vermutlich dieser Rico, hat ständig deinen Namen gerufen."
„Wo ist er?", wiederholte ich meine Frage, diesmal um einiges energischer. Dieser Kerl sollte mir augenblicklich antworten.
„Er ist vermutlich ertrunken", entgegnete Ivo mit einer Lässigkeit in der Stimme, die diese vollkommen gleichgültig klingen ließ. Deswegen drang die Bedeutung der Worte auch nur langsam zu mir durch und fraß sich schleichend in mich hinein, bis sie mich völlig unvorbereitet traf.
„Wieso...Was...Warum?" Meine Stimme zitterte. Ich spürte wie die Tränen kamen und dass es keinen Weg gab, um sie aufzuhalten. Langsam rannen sie mein Gesicht herab.
„Ich konnte ihn nicht mehr retten." Ivo klang vorsichtig.
Ich biss mir auf die Unterlippe, um ein Schluchzen zu unterdrücken und begann dann zu beben.
„Du lügst!", schrie ich ihm entgegen. „Ich kenn' dich nicht einmal! Ich weiß nur deinen Namen, mehr nicht! Wieso sollte ich dir Glauben schenken?!"
„Ich kann dir keine Begründung geben. Du hast wohl gewonnen, aber bitte bleib'. Es ist viel zu gefährlich alleine im Wald."
„So gefährlich kann es aber nicht sein, wenn du jeden rettest." Das war ein verzweifelter Versuch, stark zu wirken, aber dies war nicht der Moment um schlagfertig zu sein.
„Wie du siehst, kann ich nicht jeden retten. Vor allem nicht, wenn er selber so dumm ist und sich in den Fluss stürzt."
„Du hast es doch auch getan", erwiderte ich, aber ich klang wie ein trotziges kleines Kind nach einem Tobsuchtsanfall.
Er schwieg und meine Tränen flossen. Stumm betrachtete er mich, wie ich da wie ein Häufchen Elend saß, zitterte (ob vor Kälte oder aufgrund der Emotionen, die an die Oberfläche brachen, konnte ich nicht sagen) und hin und wieder ein Schluchzer meiner Kehle entwich.
Ich zog die Knie an den Körper und umschlang sie fest mit meinen Armen. Meinen Blick richtete ich in die flackernden Flammen, denn ich wollte nicht ihn ansehen.
Ich hasste mich dafür, was ich getan hatte. Meine Familie war gestorben und ich war weggelaufen, weil ich zu feige war, um mich dem zu stellen. Ich dachte, ich könnte davor weglaufen, trauern zu müssen und mir meine eigene Wahrheit schaffen. Wie naiv ich war. Ich hatte doch nur alles besser werden lassen wollen und hatte dabei alles zerstört. Ich hatte Rico mit in den Mahlstrom gezogen, der in mir wütete und jetzt war er für immer fort. Und es war allein meine Schuld.
Ich weinte und weinte und irgendwann waren meine Tränendrüsen leer und es gab keine Träne mehr, die ich vergießen konnte. Alles war leer. So dachte ich zumindest. Aber in mir wütete immer noch der Sturm an Gefühlen, der dabei war, mich innerlich zu zerreißen und es gab keinen Grund, ihn wieder zu verdrängen. Das hatte schon jemandem das Leben gekostet und ich durfte diesen Fehler nicht wiederholen. Ich musste mich mir selbst stellen. Ich wusste noch nicht, wie ich das jemals bewältigen sollte, aber irgendwie musste es gehen. Schon viele Menschen waren gestorben und ich hatte noch nie jemanden gesehen, der daran vollends und unwiederbringlich zerbrochen war.
Es gab nur einen Weg, der mir einfiel, um es irgendwie zu bewältigen. Und das war, damit leben zu lernen, auch wenn es Zeit kostete. Und ich find am besten jetzt damit an.
„Danke, Ivo."
„Wofür?", fragte er.
„Dafür, dass du mich gerettet hast. Das bin ich dir schuldig."
Er hielt mir eine Schale mit einer heißen, dünnen Brühe hin und ein Stück sehr hartes Brot. Ich nahm es dankend entgegen. Ich wusste nicht wie viel Uhr es war, aber es war eine Ewigkeit her, dass ich zuletzt gegessen hatte. Ein ganzes Menschenleben. Ricos Leben.
„Wie hast du es geschafft gegen die Strömungen anzukommen?", fragte ich Ivo. „Es ist doch völlig unmöglich da jemanden wieder herauszuziehen, geschweige denn, dass man sich selbst retten kann."
Er schüttelte den Kopf. „Nicht, wenn man darauf vorbereitet ist, dagegen anzukämpfen und die nötige Kraft und Übung hat."
„Woher hast du dann diese Kraft, die du brauchtest um mich zu retten?"
„Meine Geschichte erzähle ich dir später, jetzt möchte ich deine hören."
Ich nickte. Eigentlich wollte ich ihm nichts erzählen. Ich kannte ihn nicht, er war merkwürdig und er lebte alleine im Wald, obwohl er eigentlich zu Hause bei seinen Eltern hätte sein sollen. Vielleicht sah er auch einfach jünger aus, als er war.
„Meine Geschichte ist nicht sehr lang", begann ich und versuchte Worte zu finden, die es mir ermöglichten alles zu erzählen. „Gestern Morgen hörte ich Schreie aus dem Wohnraum. Ich nahm mein Brüderchen aus seiner Wiege und ging nachsehen, was war. Etwas riss mir den Kleinen aus den Armen und dann sah ich meine tote Familie."
Ich schaffte es nicht weiter. Ich weinte wieder, schluchzte, und Ivo legte mir den Arm die Schultern und ich stieß ihn nicht fort.
„Wer war es?", flüsterte er in mein Ohr. Er klang eindringlich und plötzlich machte er mir Angst. Der Tonfall in seiner Stimme war so kalt. Eiskalt.
„Ei...Ein Sch... Sch... Sch... Ein Schatten!", presste ich hervor.
Ich spürte wie sein Atem immer schneller ging.
„Erzähle bitte weiter, Chiara", bat er.
„Ich kann nicht!", schluchzte ich. „Ich kann das nicht noch mal erzählen. Verstehst du nicht?"
„Doch...aber... es interessiert mich..."
„Wieso?", hauchte ich.
„Weil dieser Wald groß ist und voller Gefahren. Der perfekte Ort für einen Schatten, um sich versteckt zu halten."
„Denkst du er ist hier?"
„Nicht direkt hier. Hier ist es sicher, dessen bin ich mir absolut sicher. Und wenn doch etwas passiert, bin ich in der Lage, dich zu beschützen."
„Verstehe schon", murmelte ich und wieder vergaß ich Rico für wenige Augenblicke. Es war als würde Ivo mich mit einem guten Zauber belegen. Es tat gut, aber ich bekam auch ein schlechtes Gewissen.
Ich dachte so wenig nach. Vor kurzer Zeit hatte ich in diesem Jungen nichts gesehen, als einen Menschen, der es sich herausnahm zu entscheiden, wer leben und wer sterben durfte. Jetzt unterhielt ich mich mit ihm, als wäre nichts geschehen. Es war gruselig. Alles in mir war durcheinander, und doch fand ich die richtigen Worte, wenn ich welche brauchte.
Er ist nicht normal, dachte ich immer wieder, und doch war es mir völlig egal. Ich wollte nur mit diesen Erinnerungen leben können.
Nichts weiter.
Der Rest des Tages und die Nacht vergingen wie im Flug. Ivo weckte mich, als es schon längst hell war, vermutlich schon fast Mittag. Ich war Müde gewesen, ohne Zweifel. Diesmal hatte ich es auch zugegeben.
„Du brauchst Ruhe", hatte Ivo gesagt und mir sein Schlaflager angeboten.
Ich hatte das Angebot angenommen. Ich war zu müde gewesen, um abzulehnen.
Bei dem Lager handelte es sich um einen winzigen Unterschlupf aus Stöcken, Laub und Heu. Es roch gut, war warm, aber auch stockfinster, nachdem die Sonne untergegangen war.
Ivo war draußen am Feuer geblieben. Er hatte nicht geschlafen und gewacht. Bei diesem Punkt war ich mir sicher. Aber eine hundertprozentige Gewissheit hatte ich nicht, denn ich hatte geschlafen. Ziemlich lang sogar.
Als ich die Augen geöffnet hatte, hatte er mich angelächelt. Ich hatte das Lächeln erwidert und hatte mich zu ihm gesetzt. Seine pure Nähe war wie Medizin für mich. Das flaue Gefühl in meiner Magengegend verschwand sofort.
„Erzählst du mir jetzt etwas über dich?", war mein erster Satz an diesem Tag gewesen.
Er hatte mich wieder angelächelt. „Wenn du gegessen hast."
Bereitwillig hatte ich ein Stück Brot gegessen und nun saßen wir auf einem umgestürzten Baumstamm und er begann zu erzählen.
„Ich wurde in einem Clan geboren, der sich schon seit über hundert Jahren die Waldgeister nennt. Sie hatten magische Kräfte in sich entdeckt und diese weiter ausgebildet. Sie konnten die Bäume verstehen; alle Pflanzen... Auch ich wurde der Magie bekannt gemacht, doch die Art, wie mein Volk damit umging – und es auch heute noch tut – ist ungerecht und auch brutal."
Bei dem Wort brutal zuckte ich unwillkürlich zusammen. Ivo ließ sich davon nicht beirren und erzählte weiter.
„Ihrer Anführerin, Padma, eine Nymphe, die wie alle anderen ihrer Art unsterblich ist und nicht mehr altert, ignorierte meine Klagen. Sie führt den Clan schon seit hundertfünfzig Jahren und nutzt dies aus. Wären da nicht Unsterblichkeit, Schönheit und Dominanz, wären schon längst viele andere Anführer der Waldgeister gewesen."
Der Hass in seiner Stimme machte mir Angst. Es schien wirklich schrecklich zu sein. Vielleicht schlimmer, als bei mir.
Ich ahnte schon, was als nächstes kommen würde.
„Ich hielt mich aus allen Angelegenheiten heraus, und das war mein Fehler. Padma hieß das gut. Sie beachtete mich nicht weiter. Sie sah es als Sieg über mich an
Eines Tages sollte ich zu ihr kommen. In einer strengvertraulichen Angelegenheit. Sie bewunderte meine Gabe mit Tieren umzugehen und wollte diese für die Jagd nutzen, um diese anzulocken und dann einfach abzuschlachten.
Das ging mir gegen den Strich. Das war nicht das, wofür die Waldgeister eigentlich stehen wollten. Ich verließ unsere Siedlung und wanderte planlos umher, bis ich auf Maron traf."
Dass Ivo aus freien Stücken gegangen war überraschte mich. Ich hatte erwartet, dass diese Padma ihn persönlich vertrieben hätte.
„Er war von meiner Geschichte fasziniert. Er selber hatte die Magie schon lange versucht zu erforschen und versuchte auch meine Gabe zu erweitern. Mit Erfolg. Seitdem kann ich Tiere wirklich verstehen. Oder wie man es auch nennen mag. Es ist anders als mit Menschen zu kommunizieren.
Als Padma davon erfuhr wurde sie wütend. Das mag jetzt ziemlich offensichtlich klingen, aber Padma wird nie wütend. Nie verliert sie die Beherrschung. Nie.
Maron versuchte sie zu beruhigen, doch erst als er ihr versprach ihr Land zu verlassen und mich ihr zu überbringen, wurde sie gerecht.
Ich war also wieder Gefangener meiner eigenen Heimat. Ich versuchte möglichst viele Regeln zu brechen. Padma ignorierte das anfangs, doch nach einiger Zeit musste auch sie einsehen, dass ich frei sein sollte. Sie ließ mich gehen und seitdem irre ich hier herum. Mir wurde ein kleines Areal zur Verfügung gestellt, wo ich meine eigenen Regeln aufstellen konnte."
„Befinden wir uns in diesem Teil des Waldes?", unterbrach ich seine Erzählungen.
„Nein, ich habe es verlassen und lebe hier auf neutralem Gebiet. Es ist kein wirklich schöner Teil des Waldes."
Ich nickte.
„Jetzt habe ich dir so gut wie alles erzählt", schloss er unerwartet die Geschichte.
„Nein, ich habe noch einige Fragen", versuchte ich ihn zum weiter erzählen zu bewegen.
Er seufzte.
„Na gut. Du hast mir schließlich auch alles erzählt..."
„Wie sieht diese Padma aus?"
„Sie ist groß", sagte Ivo. „Ihr Haar ist lang und silbrig, ihre Augen sind schwarz. Ihre Gesichtszüge sind sehr scharf und trotz einiger Makel hat es eine extreme Wirkung. Es wirkt beinahe hypnotisch. Es blendet einen und man kann nichts anderes mehr wahrnehmen. Es bietet vollkommene Ablenkung."
„Oh. Ist es deshalb so schwer seinen eigenen Weg zu gehen?"
„Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke schon", sagte er. „Es hat aber keinerlei magische Wirkung auf dich und so hast du einen gewissen Freiraum in den du dich zurückziehen kannst."
„Das hört sich an wie Erpressung", murmelte ich gedankenverloren.
„Nicht wirklich", antwortete Ivo. „Erpressung ist etwas ganz anderes, sie umgarnt dich eher, bezirzt einen."
Wieder einmal nickte ich.
„Bleiben wir hier?", fragte ich nach einigen stillen Sekunden.
„Nein", meinte Ivo trocken. „Die Waldgeister würden uns finden und mich und sicher auch dich gefangen nehmen."
„Sie haben keinen Grund dazu", sagte ich leise.
Ohne den Blick von mir abzuwenden antwortete Ivo mir: „Den haben sie. Es reicht ihnen, dass du mit mir hier bist. Mehr brauchen sie nicht über dich zu wissen, um dich für gefährlich zu halten."
„In Ordnung." Ich schwieg.
Wir saßen noch eine Weile nebeneinander. Auf einmal regte Ivo sich.
„Komm mit, Chiara. Ich möchte dir jemanden vorstellen."
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