6. Türchen - Kookuck
Content Warnung: Tod eines Nebencharakters, Suizid, Drogenmissbrauch (Alkohol, Marihuana)
_______
Im Gelblicht
Eine Neuinterpretation von Charles Dickens Weihnachtsgeschichte
Seokjins Mutter hat immer gesagt, im Stehen zu pinkeln sei eine Sünde. Keine Pointe. Im Stehen zu pinkeln ist eine Sünde, aber Seokjin ist zu hinüber, um die Schwere seiner Taten fassen zu können.
Er muss sich an die Badezimmerwand stützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und an rauschende Wasserfälle denken, um weiterpinkeln zu können. Man könnte meinen, wenn man dringend aufs Klo muss, fällt es einem leicht zu pissen, aber Seokjins Gedanken wandern irgendwie ständig zu der Pizza, die im Wohnzimmer serviert wird — und zu pissen während man an Essen denkt, zählt nicht zu Seokjins Stärken.
Genaugenommen zählt nichts zu Seokjins Stärken.
Kann man stärkenlos Leben, ohne daran zu Grunde zu gehen? Wenn man keine einzige Stärke hat, liegt man dann noch auf dem Durchschnitt oder schon darunter? Oder auch darüber. Ist keine Stärke zu haben an sich eine Stärke?
Seokjins Kopf schmerzt. Er muss aufhören zu denken – und Gin Tonic zu trinken – und hätte sich nicht überreden lassen sollen herzukommen, sondern hätte, wie ein normaler Mensch, den 24. mit der Familie feiern müssen. Bah, absoluter Schwachsein. Scheiß Familie und ihre...
Ah, genau! Seokjins Stärke ist es, nicht intelligent zu sein! Richtig geil.
Mühselig hievt er seinen Hosenladen hoch und schließt den Knopf. Nachdem er sich kurz stabilisiert hat und sich im Geiste hoch und heilig geschworen hat, nie wieder Alkohol zu trinken, geht er zum Waschbecken. Er schreckt kurz zurück, weil es Weihnachten dieses Jahr tatsächlich geschafft hat ihn fürchterlich aussehen zu lassen. Klar, er wird bald dreißig. Seine Haut hat ihre jugendliche Elastizität schon vor Langem verloren und seine Züge sind kaum mehr frisch und aufgeweckt, aber er ist immer noch hübsch. Nun ja, zumindest an anderen Tagen. Heute hängen ihm die Haare verschwitzt ins Gesicht (nicht auf die sexy Art und Weise), mehrere Unreinheiten und eine Rasierverletzung nehmen ihm die Illusion von perfekter Haut und seine Augen wirken dermaßen stumpf, dass Seokjin glatt wegsehen muss.
Er wäscht sich die Hände und will zurück ins Wohnzimmer – zurück zur Pizza – kehren, aber dann hört er etwas. Ein leises Plantschen. So als würde jemand seine Füße in einen See baumeln lassen oder in ein Schwimmbecken voller Gin Tonic mit Eiswürfeln flanieren. Ein wirklich großes Bad, mit so viel Alkohol drin, dass man damit eine ganze Universität zum Einsturz bringen könnte.
Übelkeit steigt in Seokjin auf. Er muss aufhören an Gin Tonic zu denken.
Anstatt dessen versucht er sich auf seine Umgebung zu fokussieren. Das Bad, in dem er sich befindet, ist lang und schmal. Direkt beim Eingang, dort wo er steht, befindet sich das Waschbecken und ein Spiegelschrank. Ganz hinten hängt die Kloschüssel an der Wand und zu Seokjins Linken erstreckt sich eine Badewanne längs dem Raum entlang. Der Duschvorhang – ein grässlich gelbes Exemplar mit quietsch-bunten Badeentchen darauf – ist geschlossen, sodass die Badewanne selbst nicht sichtbar ist.
Seokjin starrt ihn ein paar Sekunden (oder Minuten?) an. Wenn er sich lange genug konzentriert, beginnen die Entchen damit sich zu bewegen und die gelbe Farbe wird...
Da ist es wieder! Ein leises Plantschen, dass hinterm Vorhang ertönt. Vorsichtig tritt Seokjin vor. Sein Herz pocht ihm laut in der Brust und sein Körper schüttet ihm unnötig viel Adrenalin in die Blutbahnen. Seine Finger zittern als er die Hand ausstreckt und es erneut bereut kein normaler Mensch zu sein, der Heiligabend mit seiner Familie verbringen kann, bevor er den Atem anhält und in einem Schwung den Vorhang zur Seite reißt.
Sofort blicken ihn vorwurfsvolle Augen an. Sie sind braun und stechend und Seokjin ist sich sicher, dass sie in der Lage sind jemanden geräuschlos umzubringen.
„Es ist unhöflich fremde Leute anzustarren", sagt der Mann in der Badewanne. Während seine Gesichtszüge scharf, seine Schultern kantig und sein Ausdruck jähzornig ist, klingt seine Stimme überraschend angenehm. So eine wie die, die man für Kinderhörbücher oder Radiosendungen engagieren würde.
„Du starrst doch auch", antwortet Seokjin das erst Beste, was ihm in den Sinn kommt.
Der Badewannen-Mann trägt einen dunkelblauen Pullover und etwas, das durch das Wasser hindurch wie schwarze Jeans aussieht. Sein Körper ist klatschnass, denn die Badewanne ist bis zum Rand mit Wasser gefüllt, aber sein Gesicht und seine Haare sind trocken.
„Guter Punkt", sagt er und wendet den Blick ab. Seokjin kann weit und breit kein Getränk sehen und lallen tut der Badewannen-Mann auch nicht, aber einen besonders nüchternen Eindruck macht er nicht.
„Bist du high?", fragt Seokjin.
„Vielleicht", sagt der Bademannen-Typ.
Seokjin nickt. Er sollte den Moment des Schweigens nutzen und die Flucht ergreifen. Im Wohnzimmer wartet Pizza und Gin Tonic – hat er gerade Gin Tonic gesagt? Er meint natürlich Wasser! – und eine Party voller Leute. Tolle Leute! Seokjin kennt nur einen einzigen von ihnen, aber er wettet, die anderen sind genauso toll. Sehr toll. Bestimmt. Wie alles in seinem Leben. Hiphip-Hurra.
„Kannst du den Vorhang wieder zuziehen?", fragt der Badewannen-Mann und sieht zu Seokjin auf. Die Geste löst einen Kurzschluss in Seokjins Gehirn aus, denn noch bevor er darüber nachdenken kann, streift er sich die Schuhe ab, schiebt den Vorhang weiter zur Seite, steigt gegenüber vom Badewannen-Mann in die Badewanne und zieht den Entchen-Vorhang wie gebeten zu.
Sofort wird alles von einem gelblichen Schein überdeckt. Das Wasser ist lauwarm, eher etwas zu kalt für Seokjins Geschmack, und ein sanfter Limettenduft hängt in der Luft. Seokjin macht sich klein, aber die eins achtzig Badewanne ist nicht lang genug, als dass zwei erwachsene Männer sich berührungslos gegenübersetzen könnten, weswegen ihre Füße in den Tiefen des Zitruswassers aufeinandertreffen. Das Ganze ist intim auf eine äußerst ernüchternde Art und Weise.
„Mhm", sagt der Badewanne-Mann mehr zu sich selbst als zu Seokjin. Dann ist er still und blickt ausdruckslos aufs Wasser. Seokjin verspürt vage das Bedürfnis zu fragen, wie man dazu kommt, allein an Heiligabend in einer Badewanne zu sitzen, aber da sie jetzt zu zweit sind, wäre das wohl nicht mehr angebracht. Also legt er sich nach hinten – so weit es geht, ohne den Badewannen-Mann zu verdrängen – und schließt die Augen. Die Welt dreht sich und wenn er nicht aktiv darüber nachdenkt, dass er in einer kleinen, mit Wasser gefüllten Keramikschüssel sitzt, könnte er glatt glauben, dass er irgendwo auf hoher See in einen Sturm geraten ist. Vielleicht weil er Fischermann oder Pirat ist. Auf jeden Fall hat er als Seemann etwas falsch gemacht, denn er ist über Bord gegangen und droht jetzt in den Tiefen zu ertrinken. Liegt wohl daran, dass er seine Stärke – nicht intelligent zu sein – in jedem Leben mit sich rumschleppt.
„Ich hasse mein Leben", sagt Badewannen-Mann plötzlich. Seokjin ist sich erst nicht sicher, ob er es sich dabei tatsächlich um eine Aussage seines Gegenübers oder um seine eigenen Gedanken handelt, aber als er die Augen öffnet, starrt ihn der Badewannen-Mann direkt ins Gesicht und scheint auf eine Reaktion zu warten.
Seokjin ist zu müde, um adäquat darauf zu reagieren, also sagt er nur: „Könnte schlimmer sein."
„Zum Beispiel?"
Seokjin schließt die Augen wieder und lässt sich von der stürmischen See davontreiben. „Du könntest ein unterqualifizierter Pirat sein, der seine ganze Crew wegen fehlender Intelligenz versenkt hat."
„Ah", sagt der Badewanne-Mann als sei dies durchaus plausibel. Danach ist es still. Seokjin kann in der Ferne das Grölen seiner Seemänner hören – aber vielleicht ist das auch eine Illusion und hat viel mehr mit Pizzaessenden-Partygästen zu tun als mit ertrinkenden Männern. Wenn Seokjin nicht so müde wäre, würde er jetzt aufstehen und sich ein Stück Pizza holen. Wieso nochmal hat er beschlossen sich in diese bescheuerte Badewanne zu setzten?
„Ich hasse mein Leben auch", sagt er aus purem Instinkt. Sein Geist hat vorläufig aufgegeben zu funktionieren. Alles was Seokjin jetzt noch tut basiert auf Primärbedürfnissen der menschlichen Natur.
Der Badewannen-Mann lacht leise. Seokjin öffnet die Augen und ist überrascht, wie losgelöst das Lachen wirkt. Während in neutralem Zustand die hohen Wangenknochen, das spitze Kinn und die stechenden Augen einen anmutigen Eindruck machen, wirkt der Badewannen-Mann lachend wie eine Katze auf Koks. Nein, Seokjin weiß nicht, wie eine Katze auf Koks aussieht, aber er ist sich sicher, dass dieser Mann ein akkurates Ebenbild darstellt. Seine Augen sind zu Schlitzen verzogen und sein offener Mund verzieht all seine Kanten zu Rundungen. Vorhin war er starr und unnahbar, jetzt ist er weich und angenehm. Seokjin muss ebenfalls lächeln.
„Ich bin Jin", sagt er und streckt dem Badewannen-Mann seine Hand entgegen.
Dieser lehnt sich ohne zu zögern vor, umgreift Seokjins Hand mit einem überraschend starken Händedruck und meint: „Minho, freut mich."
„Mich auch. Mit Fremden in Badewannen zu sitzen und über meine Gefühle zu sprechen, ist so etwas wie ein Hobby für mich."
Minho lehnt sich zurück, das Lächeln immer noch im Gesicht und nickt. „Verstehe", sagt er. „Ich sitze normalerweise lieber allein in Badewannen – aber vielleicht kannst du mich ja auf den Geschmack bringen."
Seokjin ist sich unsicher, ob Minho scherzt oder es ernst meint. Er ist gut darin seine Emotionen zu schulen. Selbst mit dem Lächeln auf den Lippen wirkt er gefasst.
„Würde es dir was aus machen, wenn ich etwas warmes Wasser nachfülle?", fragt Seokjin.
„Nur zu", sagt Minho und Seokjin öffnet sofort den Hahn. Das warme Wasser tut gut. Es raubt Seokjin der Vorstellung auf hoher See zu sein und füllt ihn mit Gedanken an eine warme Quelle an einem Vulkan. Es ist eine laue Sommernacht, Vögel zwitschern und es gibt frische Limonade. Niemand ertrinkt und das Schwanken ist viel mehr ein angenehmes Wippen im Bad als ein drohendes Wellenbrechen im Meer.
„Wieso hasst du dein Leben?", fragt Minho nachdem Seokjin den Hahn wieder zugedreht hat.
Seokjin zuckt mit den Schultern. „Einfach so."
Minho schnaubt. „Niemand hasst sein Leben einfach so."
„Woher willst du das wissen?"
„Menschen sind berechenbar."
„Okay", sagt Seokjin. „Wieso hasst du deins?"
„Weil ich müde bin. Und zu viel kiffe. Und in einem Kindergarten arbeite, obwohl ich Kinder hasse."
Für einen Moment weiß Seokjin nicht, ob er lachen oder Mitgefühl zeigen sollte. Minho ist verdammt gut darin den schmalen Grad zwischen Sarkasmus und Ernsthaftigkeit zu gehen und Seokjin ist verdammt schlecht darin zu entziffern, auf welcher Seite er sich gerade befindet.
„Ich habe gelogen. Ich hasse mein Leben nicht", sagt Seokjin. Minho sieht auf und Seokjin seufzt, bevor er zugibt – das erste Mal überhaupt: „Ich hasse mich selbst. Ich bin so brauchbar wie ein Waschlappen und habe weder Freunde noch Spaß an irgendwas."
Minho nickt. Die Reaktion ist äußerst pragmatisch. Dann sagt er: „Ich finde Waschlappen ziemlich nützlich. Hast du schon einmal Kinderkotze wegwischen müssen? Wahrscheinlich nicht. Es ist widerlich. Aber dank Waschlappen ist es erträglich."
Seokjin lacht laut los, lehnt sich zurück und schlägt sich die Hände übers Gesicht. Durch die Bewegung rutschen seine Beine weiter nach vorn, weswegen sich nicht mehr nur ihre Füße, sondern ihre Waden berühren. Aber das ist okay. Sobald man gemeinsam über Kinderkotze gesprochen hat, ist ein bisschen Wadenkontakt kaum mehr der Rede wert.
„Du bist ein scheiß Motivator", sagt Seokjin vernuschelt durch seine Hände.
„Falsch. Ich bin einfach nur scheiße. Punkt. Motivationsreden gehören nicht zu meinem Forte."
„Ach nein?"
„Nein."
„Was gehört denn zu deinem Forte?"
„Bücher."
„Bücher?"
„Ich bin intellektuell. Goethe des 21. Jahrhunderts."
Seokjin hebt die Hände vom Gesicht und rückt sich in der Badewanne zurecht. Die Waden lässt er, wo sie sind, aber den Oberkörper richtet er wieder auf, um Minho ansehen zu können. Und wieder ist Minho dermaßen geschickt darin seine wahren Emotionen zu verbergen, dass Seokjin nicht erkennen kann, ob er tatsächlich Goethe des 21. Jahrhunderts ist, oder ob er schamlos hochstapelt.
„Okay."
Minho lacht. „Okay?"
„Keine Ahnung. Ich hab' zu viel Gin Tonic intus, um klare Schlüsse zu fassen."
„Du wirkst ziemlich nüchtern."
„Ich..." Seokjin ist sprachlos. Wie betrunken muss man sein, um betrunken zu wirken? Hat sein Schwanken mehr mit Alterserscheinung zu tun als mit Alkohol? Ist Seokjin gar nicht wegen Gin sondern wegen Unfähigkeit, wie ein normaler Mensch zu funktionieren, müde und schlaff? Seokjin will endlich ein Stück Pizza essen und nachhause schlafen gehen, aber die warme Quelle des Vulkans hält ihn fest im Bann.
„Kennst du Charles Dickens Weihnachtsgeschichte?"
Seokjin runzelt die Stirn. „Nein, was soll das sein?"
„Ein Buch."
„Ha!"
„Bahnbrechend, ich weiß", bestätigt Minho. „Es handelt von einem alten Kapitalistenschwein, das ein Arschloch ist und von dem Weihnachtsgeist der Vergangenheit, des Präsens und der Zukunft vorgeführt bekommt, was für ein Arschloch er ist."
„Okay."
Minho lacht wieder und Seokjin beschließt, dass er es mag, wenn er das tut. Es klingt herablassend, aber ist ehrlich und angenehmer als alle Reaktionen, die er sonst im Alltag zu hören bekommt.
„Und was tut er dann?", fragt Seokjin. „Nachdem er weiß, dass er ein Arschloch ist."
„Er ändert sich grundlegend und wird ein guter Mensch", sagt Minho nonchalant.
„Als ob das funktioniert."
„Wir können es ausprobieren."
„Ich bin nicht betrunken genug, um vom Geist der Weihnacht zu halluzinieren."
Minho schmunzelt. Etwas in seinen Augen funkelt und sein Fokus ist einzig auf Seokjin gerichtet. „Schonmal an eine Gedankenexperiment teilgenommen?", fragt er. Seokjin schüttelt den Kopf. „Es ist ziemlich simpel. Alles was du tun musst, ist die Augen schließen und dir Dinge vorstellen."
„Habe ich schon erwähnt, dass es meine Stärke ist, nicht intelligent zu sein?"
Minho schnaubt. „Nein, hast du nicht."
„Nun, es ist meine Stärke..."
„Du brauchst nicht intelligent sein, um daran teilzunehmen. Es geht dabei mehr um die Erfahrung und die Auseinandersetzung mit dir selbst."
Seokjin hält inne. Etwas in ihm sträubt sich davor ja zu sagen. Die Idee ist bescheuert und unnütz und einem Fremden zu erzählen, was er alles in seinem Leben verkackt hat – in der Hoffnung danach ein besserer Mensch zu sein –, ist im besten Fall erbärmlich und im schlechtesten Fall ein weiteres Manko auf seiner bereits befleckten Weste. Auf der anderen Seite ist es gerade angenehm hier, im warmen Wasser, zu liegen und sich mit nichts als einem von Gelb umhüllten Minho zu beschäftigen.
„Okay", sagt er schließlich, „bin dabei."
Minho grinst selbstgefällig. „Sehr schön. Schließ die Augen", sagt er in autoritären Tonfall. Seokjin tut sofort wie ihm gesagt. Darin ist er gut. Dann muss er nämlich nicht denken und kann einfach existieren.
„Stell dir einen weißen Raum vor", beginnt Minho sein Gedankenexperiment. „Er ist quadratisch und hat keine Türen. Es ist niemand außer dir da."
„Du auch nicht?", fragt Seokjin.
„Nein. Nur du selbst."
„Okay. Ist es in dem Raum warm?"
„Nicht speziell. Es ist gerade angenehm genug, dass du keine Jacke tragen musst, aber zu kühl, um im T-Shirt rumzulaufen."
Seokjin stellt es sich vor. Das Schwanken hat vor einigen Minuten aufgehört und das Grölen von Pizza-essenden Partygästen ist leiser geworden. Nass ist es immer noch – duh –, aber wenn Seokjin sich konzentriert, kann er es ausblenden.
„Dieser Raum wird fortan das Zentrum unseres Experiments darstellen. Jede Erinnerung, die wir abrufen, wird von diesem Raum aus betreten und durch diesen Raum wieder verlassen. Verstehst du das?"
„Mh-mh. Weißer Raum, angenehm warm. Sowas wie ne Safe Space."
„Genau", bestätigt Minho. „Und weil es hier drinnen sicher ist, stellt es auch kein Problem dar ehrlich und offen zu sein. Alles was du sagst oder siehst, wird den weißen Raum nicht verlassen."
„Okay", sagt Seokjin.
„Okay", bestätigt Minho. „Als erstes wird dich der Geist der vergangenen Weihnacht besuchen. Du musst dich dafür an deine Kindheit erinnern. Geh sie durch. Jedes Jahr von deiner ersten Erinnerung bis ins Heute. Deine Einschulung, deine Pubertät, deine Emotionen und Bindungen – einfach alles."
Massenweise Bilder schnellen vor Seokjins innerem Auge vorbei. Er als Kind, wie er allein verloren auf dem Pausenhof steht. Das Mädchen aus seiner Parallelklasse, das er wegen einer Challenge auf die Wange geküsst hat. Die großen Partys, die seine Eltern für Firmenkunden geschmissen haben. Die Haushälterin, die ihm jeden Montag eine PostIt-Notiz mit einem Smiley drauf in die Lunchbox gelegt hat. Das erste ungenügende Zeugnis, wegen dem er versetzt worden ist. Die endlos langen Reden, die ihm seine Eltern gehalten haben. Die bedeutungslosen One-Night-Stands, die er zur Ablenkung gehabt hat. Der Sommer, in dem er seinen Vater hat sagen überhört, dass er wünschte, er hätte noch ein weiteres Kind bekommen. Ein besseres.
„Gut", sagt Minho nach was sich wie Stunden angefühlt hat. „Jetzt such' dir die mit Abstand schlimmste raus."
Seokjin muss sich nicht anstrengen. Wie aus der Pistole geschossen kommen ihm Bilder von dem Tag in den Sinn.
***
Das Büro des Direktors ist kalt. Die Fenster sind schlecht isoliert und die Plattenböden roh und unbelebt. Es hängt kein einziges Bild hier drinnen. Nur Dokumente, Diplome und Ordner. So viele Ordner. Wenn man sie aus den Regalen und Schränken entfernen und auf einen einzigen Stapel auftürmen würde, könnte man glatt den Eiffelturm in den Schatten stellen.
„Das muss ein Missverständnis sein", sagt Seokjins Vater aufgebracht. Wie er nach all den Jahren immer noch daran glauben kann, dass Seokjin irgendetwas auf die Reihen bekommt, ist Seokjin ein Rätsel.
„Es tut mir leid, Herr Kim", entgegnet der Rektor. Er hat graues Haar und trägt eine Brille, die die Hälfte seines Gesichtes einnimmt. Die andere Hälfte wird von seinen nach unten gezogenen Mundwinkeln verdeckt. „Ihr Sohn ist in jedem einzelnen Kurs durchgefallen."
Seokjins Vater schnaubt. „Er geht jeden Tag zur Nachhilfe und hat die besten Voraussetzungen. Wir investieren viel Geld und Zeit. Ein ungenügendes Zeugnis kann da noch kaum direkt das Ende bedeuten."
Der Rektor sieht aus, als würde er gleich die Geduld verlieren. „Hören Sie, Herr Kim, unsere Universität schätzt den Aufwand ihres Sohnes sehr, aber wir werten hier leider nicht den Stundeneinsatz von unseren Studenten, sondern ihr Können."
„Behaupten Sie mein Sohn sei dumm?" Seokjins Vater wird lauter. Nicht etwa, weil ihn die Worte erschüttern, sondern weil er nicht damit assoziiert werden will. Die Tage an denen er seinen Sohn, wie eine Trophäe, stolz auf Anlässen herumgezeigt hat, sind schon lange vorüber.
„Das habe ich mit keinem Wort gesagt. Alles was ich vermitteln will, ist dass die Wirtschaft kein Bereich ist, in dem ihr Sohn seine Stärken hat – und da wir ausschließlich Wirtschafts-Studiengänge anbieten, er hier keine Zukunft hat."
„Wir haben Geld investiert", beharrt Seokjins Vater und die Mundwinkel des Rektors senken sich noch weiter nach unten.
„Und wir sind dankbar für ihre großzügige Spende, Herr Kim. Aber als sie uns die Empfehlung und das Geld geschickt haben, sind wir davon ausgegangen, dass dem betroffen Schüler lediglich ein paar wenige Qualifikationen fehlen. Dass er trotz Bemühen in allen Kursen durchfällt – und das nicht gerade knapp, wohl angemerkt – ist bedauerlich, aber Tatsache. Es tut mir leid, Herr Kim, aber mir sind die Hände gebunden. Ihr Sohn hat keine Zukunft in der Wirtschaft. Vielleicht können Sie ihn ja an einer... Kunstschule anmelden."
Seokjins Vater verspannt sich neben ihm und wäre er ein weniger angesehener Mann, der keinen Wert auf sein Image legt, würde er dem Rektor wohl an die Gurgel gehen. Wie ein Löwe, dessen eigen Fleisch gestohlen worden ist und sich nun Rache schwört. Aber Seokjins Vater ist nicht so ein Typ. Im Gegenteil. Er legt Wert darauf stehts das Kinn hochzuhalten und Herr der Situation zu sein. Also tut er nichts dergleichen, erhebt sich von seinem Stuhl und bedankt sich bei dem Rektor für seine Zeit.
„Komm, Seokjin", befiehlt er seinem Sohn, während er Richtung Ausgang schreitet – und Seokjin kann dem Tonfall bereits entnehmen, dass es jetzt vorbei ist. Kim Seokjin hat seine letzte Chance verbraucht. Jetzt gibt es keinen Ausweg, keinen Umweg und keine Trickserei mehr, die ihn magischerweise zu dem Sohn machen kann, den seine Eltern gerne hätten. Er wird weder ihre Firma übernehmen, noch das Familienerbe weiterführen.
Seokjin ist erst zwanzig, aber er hat sein Leben bereits verspielt. Jetzt gibt es nichts mehr, was ihn noch retten kann.
***
„Du sagt, der Rektor bestünde zur Hälfte aus Brille und zur anderen Hälfte aus Schnute – ich bin mir nicht sicher, ob ich mir das akkurat vorstellen kann."
Etwas des Gewichts der Erinnerung verfliegt dank der Frage. Es ist absurd, dass sich Minho ausgerechnet auf dieses Detail der Geschichte konzentriert, aber Seokjin ist insgeheim dankbar.
„Wie ein zerquetschtes Quadrat. Auf der oberen Seite hat es zwei große, schwarze Kreise, auf der unteren wird es von faltigen Lippen zu einer Sichel verzerrt."
„Mhm", sagt Minho nachdenklich, so als stelle er es sich gerade bildlich vor. „Wirklich faszinierend."
„Ja, ehm, kann ich die Augen wieder öffnen?"
„Nein." Minho richtet sich, den plätschernden Geräuschen nach zu urteilen, auf. „Wir sind noch nicht fertig. Ich will, dass du dir die Situation gut einprägst."
Seokjin stöhnt.
„Keine Widerrede. Es ist schon eine Weile her, seit es passiert ist, also lass sie nochmals Revue passieren. Nicht nur bildlich, erinnere dich auch an die Emotionen, die du verspürt hast und die Taten und Aktionen, die dich dort hingebracht haben."
„Willst du, dass du ich meine scheiß Prüfungen rezitiere?"
„Nein, es sei denn das hilft dir? Es geht weniger um exakte Erinnerungen und mehr um Zusammenhänge. Wieso du die Prüfungen verkackt hast und wieso es überhaupt so weit gekommen ist."
„Hab' ich doch schon gesagt: es ist meine Stärke nicht intelligent zu sein."
Minho schiebt langsam einen Fuß vor, sodass sein Unterschenkel gegen Seokjins presst. Die Berührung hat etwas Erdendes. Wie ein Anker, tief im Wasser, der Seokjins schwankende Person an Ort und Stelle hält.
Diesen Anker hätte er früher gebraucht. Damals, als er noch geglaubt hat, er könne es schaffen. Klar, er hat sich nie für die Firma seines Vaters interessiert und demnach keine Motivation gehabt zu lernen, kombiniert mit einem Gehirn, das unfähig ist die korrekten Verknüpfungen herzustellen – weil wieso zum Fick sollte es ihn interessieren, wie er An- und Verkauf am besten koordiniert, um Gewinn zu machen? – und das Ganze kann nur zum Scheitern verurteilt sein. Aber vielleicht, wenn ihn etwas geerdet und unterstützt hätte und er sich mehr angestrengt...
Wen lügt er hier an? Seokjin hätte sich nie zu dem Sohn verbiegen können, den seine Eltern so gerne gehabt hätten. Weder in der Grundschule, noch in der Oberstufe und schon gar nicht in der Uni hat ihn der Unterrichtsstoff interessiert. In einer Reihe aufgestellter Tische zu sitzen und synchron mit allen anderen die korrekten Antworten niederzuschreiben, liegt ihm nicht.
Schade eigentlich.
Vielleicht wäre es tatsächlich besser gewesen, wenn sein Vater noch ein zweites Kind bekommen hätte. Oder noch besser, direkt beim ersten Mal ein anderes. Seokjin schmunzelt, weil die Ironie weh tut und lachen einfacher ist als weinen. Hundert Millionen Spermien hat sein Vater in seiner Mutter vergraben – und ausgerechnet Kim Seokjin hat es bis ans Ziel geschafft.
Er ist der eine von hundert Millionen und doch ist er der Falsche.
„Kehr zurück zum weißen Raum", sagt Minho in sanfter Stimme.
Seokjin versucht die Erinnerungen loszulassen und sich den weißen Raum vorzustellen. Seine Wände sehen noch genau gleich aus, aber irgendwie haben sie ihren anfänglichen Glanz verloren. Das Experiment ist nicht so lustig, wie Seokjin es sich vorgestellt hat.
„Lass dich von seiner Wärme und Reinheit umhüllen. Es gibt nichts und niemand, der dir hier drinnen etwas anhaben kann", fährt Minho fort. „Deine Vergangenheit verklingt in deinem Gedächtnis und du kehrst zurück ins Jetzt. Der Geist der vergangenen Weihnacht verlässt dich. Öffne die Augen."
Seokjin blinzelt die Augen auf und blickt direkt in Minhos Gesicht, das Selbiges tut. Minho lächelt sanft. Es steht im Kontrast zu seinem spitzen Gesicht und seinen stechenden Augen und wirkt dennoch, als hätte es nie wo anders hingehört. Seokjin beschließt in diesem Moment, dass sein Leben besser verlaufen wäre, wenn er nach jedem Rückschlag dieses Gesicht hätte ansehen dürfen, um sich zu beruhigen.
Bloß dumm, dass es dafür jetzt schon zu spät ist.
„Ich hasse mein Leben immer noch", sagt Seokjin scherzend, um die aufgeladene Stimmung zu durchbrechen.
Minho stupst ihm mit dem Fuß gegen die Wade. „Sind wir schon fertig? Nein, also hör auf zu jammern."
„Wieso?", fragt Seokjin. „Fremde vollzujammern ist sowas wie mein Talent."
„Füll noch etwas warmes Wasser nach", wechselt Minho abrupt das Thema. „Ich bin zu nüchtern, um mir einzureden, dass es hier drinnen warm ist."
Seokjin tut wie ihm gesagt, wobei ihm bei den Worten auffällt, dass auch er den Höhenpunkt seines Weihnachts-Saufens überstanden hat. Seine Gedanken sind klarer als zuvor und er hat weder das Gefühl auf hoher See noch in einer heißen Quelle zu hocken. Außerdem sammelt sich langsam Druck hinter seinen Augenhöhlen an, der ihm einen üblen Kater verspricht.
Das neue Wasser umhüllt die beiden in frischer Wärme und hilft Seokjin sich zu entspannen. Er lehnt sich zurück und rutscht tiefer in die Badewanne. Die zuvor künstlich hergestellte Berührung zwischen ihren Unterschenkel ist nun unvermeidbar. Ihre Beine pressen gegeneinander und – obwohl es aufgrund der nassen Jeans kaum angenehm ist – mag Seokjin die Nähe. Er hat schon lange nicht mehr außerhalb des Kontexts von Sex jemanden berührt. Manchmal vergisst man wie essenziell menschliche Nähe für das Wohlergehen der Seele ist.
„Bist du bereit?", fragt Seokjin.
„Nein", antwortet Minho, schließt jedoch die Augen. „Irgendwie habe ich gehofft, dass mein High länger anhalten würde, also schieß los, bevor ich es mir anderes überlege und dich hier allein zurücklasse."
Seokjin lächelt leise und schließt ebenfalls die Augen. Er repetiert die Vorgehensweise, die Minho auch bei ihm angewandt hat. Ausführlich beschreibt er ihm den weißen, perfekten Raum, sagt ihm einmal mehr als notwendig, dass er darin sicher ist und trägt ihm dann auf, dass er sich an seine Vergangenheit erinnern soll. Minho liegt still vor ihm und tut wie ihm gesagt, erst als Seokjin ihn dazu auffordert, von seiner schlimmsten Erinnerung zu erzählen, zuckt er einmal unbehagen zusammen.
***
Egal zu welcher Jahres- oder Tageszeit, egal ob am Wochenende oder montags, egal ob in den Sommerferien oder während der Prüfungsphase, bei den Lees zuhause stinkt es immer.
Es ist Minho vor ein paar Wochen aufgefallen, als ihm jemand in der Schule gesagt hat, dass sein Sportshirt schon vor dem Sportunterricht mieft. Minho ist seinen Kleiderschrank durchgegangen und hat, ohne Erfolg, versucht eine Ursache dafür zu finden. Ein paar Tage später ist er erst spät nachhause gekommen. Er hat in der Schulbibliothek für einen Aufsatz gearbeitet – da das Abi naht, hängt er sich rein und nutzt jede freie Minute, um zu lernen. Seine Eltern und Geschwister haben in dieser Nacht bereits geschlafen, denn es ist spät und Minho hat ihre heruntergekommene Dreizimmerwohnung seit fast 24 Stunden nicht mehr betreten. Als er also die Tür öffnet und das erste Mal seit langem Fuß über die loddrige Türschwelle setzt, schlägt es ihm wie ein Baseball ins Gesicht.
Es ist nicht sein T-Shirt, das stinkt, es ist sein ganzes Leben.
Die Wohnung, die sich seine Eltern gerade so leisten können, stammt noch aus einem anderen Jahrhundert. Die Wände sind ständig feucht und die Dielen modrig. Egal wie oft man lüftet, der beißende Würzgeruch von Instant-Ramen will einfach nicht weichen. Er hängt zwischen den Möbeln und Gegenständen und hat sich dort festgefressen. Gemeinsam mit Instant-Ramen, Zeitungsschnipseln, alten Socken, Flyer von Ferien, die sie nie machen werden, und noch mehr Instant-Ramen. Minhos Mutter ist Putzfrau, sie ist gut darin und arbeitet über 50 Stunden die Woche, aber bei ihnen zuhause ist es irgendwie immer schmutzig.
Minho starrt in seinen Karton voller Instant-Ramen. Sein Bruder sitzt breitbeinig neben ihm. Er ist 15 und hat gerade das Gefühl, ihm gehört die ganze Welt. Seine Schwester sitzt auf seiner anderen Seite. Sie ist erst sechs – und existiert bloß, weil sich Minhos Eltern eine Abtreibung nicht leisten können – und stochert wild in ihrem eigenen Karton herum. Eigentlich hätten sie Teller. Sie könnten damit essen und so tun, als wären sie gesittete Menschen – aber das kostet Zeit und Aufwand und das Wasser für den Abwasch ist nicht gratis.
Irgendwo tief in Minho stirbt etwas, weil er seit einer Woche nichts als Instant-Ramen gegessen hat und sein Körper endlich genug hat.
Seine Eltern sitzen auf der anderen Seite des Tisches. Schulter an Schulter kauern sie vor der Küchenzeile. Die Küche ist kaum groß genug, um zu kochen, geschweige denn, um zu fünft darin zu essen – aber was will man tun? Beten? Die Hoffnung aufgeben? Sich in den Han-River stürzen?
Minho wird es schlecht. Er kriegt keinen Bissen mehr von dem versalzten Fraß runter, egal wie hungrig er ist. Er sieht es deutlich vor sich, wie er genau wie seine Eltern endet. In irgendeinem verranzten Loch, weil er sich alles andere nicht leisten kann. Mit undankbaren Kindern, die er nicht mag und Träumen, die nicht existieren.
Fuck. Wieso stinkt es bloß so stark hier drinnen?
Minho stellt den Karton auf den Tisch, neben den Aschenbecher, die Klatschblätter, die alten Papiertaschentücher, die leeren Verpackungen, das Feuerzeug, die Einkaufszettel vergangener Wochen (Monate?), die...
„Ehm, ich hab' mir überlegt...", sagt er und vier paar Augen heften sich sofort auf ihn, während er sich im Kopf zusammenschustert, wie er sich am besten ausdrücken soll. Seine kleine Schwester zieht an seinem abgetragenen Pullover herum und sein Vater blickt uninteressiert von seinen Ramen hoch. Er fährt sieben Tage die Woche Taxi und schläft kaum, weswegen er meistens mehr ein Schatten seiner Selbst, als ein wirklicher Mensch, ist.
„Ich habe mir überlegt", wiederholt Minho, „dass ich studieren gehen möchte."
Seine Mutter und sein Bruder lachen. Sein Vater wirkt, als wären die Worte gar nicht bis zu ihm durchgedrungen. Als sie merken, dass er nicht scherzt, verstummen sie.
„Du meinst das ernst", sagt seine Mutter. Etwas der klebrigen Ramen-Sauce hängt ihr am Kinn.
„Ja", sagt Minho.
Seine Mutter schüttelt den Kopf. „Und wer bezahlt das Ganze?"
„Ich..."
„Hast du das Gefühl du kriegst ein Stipendium?"
Ja, das hat Minho. Er lernt Tag und Nacht und hat fast nur Einsen. Bis zum Abschluss kriegt er die restlichen Noten noch hoch. Dann braucht er nur noch ein frisches T-Shirt, das nicht stinkt, und kann sich vorstellen gehen. Wenn er will, kann er charmant sein und sich gute Chancen einräumen.
„Diese Leute geben einen Scheiß auf Leute wie uns."
Du gibst einen Scheiß auf Leute wie uns, fügt Minho im Kopf hinzu. Sein Bruder sagt: „True Story", als hätte er den Sinn des Lebens begriffen.
„Ich kann es schaffen", sagt Minho, denn er glaubt daran. Täte er dies nicht, hätte er keinen Grund mehr morgens aufzustehen. „Ich werde Finanzwesen studieren und in einer Bank arbeiten – dann kann ich euch ein besseres Leben bieten."
Seine Mutter schnaubt. Es ist dermaßen degradierend, dass es glatt wehtut. Eigentlich würde Minho gerne Literatur studieren, aber er hat gedacht, die Aussicht auf einen Bankangestellten Sohn würde seine Mutter weichkochen.
„Sei nicht lächerlich", sagt sie. Sein Bruder schneidet Fratzen und tut so, als wäre er ein zurecht gegeelter Bankangestellter, der zu viel Geld hat. „Selbst wenn sie dir eine Chance geben, wer denkst du, wird dich weitere Jahre durchfüttern? Du musst arbeiten gehen, so schnell wie möglich. Jieun kommt nächstes Jahr in die Schule und braucht Geld für Bücher. Das bist du uns schuldig."
Minho sieht seine kleine Schwester an, wie sie reißend an ihm hängt und genau so wenig Bock auf Instant-Ramen hat, wie sie alle anderen auch. Manchmal, wenn Minho sie ansieht, wünschte er sich, dass das Kondom seiner Eltern nicht gerissen wäre. Sie hätte es besser. (Minho hätte es besser.) Danach hasst er sich für ein paar Stunden und redet sich Mantra-artig ein, dass eines Tages alles besser wird.
Aber das tut es nicht, oder?
Minho blickt in seinen kalt gewordenen Ramen-Karton und sieht keinen Ausweg. Wenn er nicht studieren gehen darf und sein Geld zuhause abgeben muss, wird er nie einen besseren Ort finden.
Noch am selben Abend, als alle anderen schlafen, schleicht er sich zur Tür raus. Er geht zu Changbin, der einzige Typ aus seiner Klasse, den es nicht juckt, dass Minho ständig stinkt und nie mitkommen darf, wenn die anderen auf Klassenfahrt gehen.
Changbin macht ihm die Tür auf. Er lässt Minho ohne Anstalten rein, fragt bloß, ob seine Stiefmutter – Minho hat ihm erzählt, dass sein Vater eine reiche Ausländerin geheiratet hat, die ständig Probleme macht und die koreanische Kultur nicht verstünde – wieder nervt. Minho bejaht und folgt ihm auf sein Zimmer. Es ist größer als Minhos ganze Wohnung, aber Minho lässt sich nichts anmerken.
„Ich hab' mir eben 'nen Joint gedreht", Changbin hält ihn hoch. „Bock?"
Es ist Sonntagnacht, Morgen ist Schule, das Abi naht und Minho lebt nach dem Grundsatz, dass Drogen schlecht sind. Aber während Changbin ihn erwartungsvoll anstarrt und sich die Unmengen an Instant-Ramen in Minhos Magen schmerzhaft zusammenziehen, beschließt Minho, dass seine Grundsätze egal sind. Denn egal was er tut, das was er wirklich will, wird nie von Bedeutung sein.
„Klar", sagt Minho also.
Changbin grinst und zieht ihn zu sich aufs Bett. Sie kiffen sich die Birne weg, bis Minho sich so leicht und unbeschwert wie noch nie zuvor in seinem Leben fühlt. Danach küssen sie sich bis die Sonne aufgeht und tauchen erst nachmittags in der Schule auf. Die Lehrerin schimpft mit ihnen, aber Minho beschließt, dass es ihn nicht interessiert.
Er schließt das Abi mit drei Zweiern, zwei Dreiern und einer Fünf ab. Seine Eltern sprechen ihn nicht darauf an. Minho bewirbt sich in einem Restaurant und beginnt dort Teller zu waschen.
Alles ist wie immer.
***
„Du bist zurück, im weißen Raum", sagt Seokjin mit rauer Stimme. Es kostet ihn viel Kraft, nicht aufzustehen, Minho an den Schultern zu packen und ihn in den Arm zu schließen. „Er schützt dich, vor all den Dingen da draußen. Hier drinnen bist du sicher."
Minho seufzt leise und Seokjin öffnet die Augen, um ihn ansehen zu können. Wenn man nur flüchtig hinsieht, könnte man meinen Minho schlafe. Er wirkt friedlich und ruhig – obwohl alles an der Situation falsch ist. Seokjin hat nicht gefragt, aber Minho ist definitiv jünger als er. Vielleicht Anfang oder Mitte zwanzig. Auf keinen Fall alt genug, um die Hoffnung aufgegeben zu haben.
(Vielleicht ist das Seokjin auch nicht. Aber es ist meistens leichter Missstände bei anderen zu entdecken als bei sich selbst.)
„Öffne die Augen", sagt Seokjin und beobachtet wie Minho genau das tut. Das Scharfe, Stechende ist aus seinem Blick verschwunden. Jetzt ist da nur noch Sanftmut. Minho weicht Seokjins Blick aus. Er spielt unter dem Wasser mit dem Stoff seiner nassen Jeans und wirkt verloren.
„Du kannst nichts..."
„Lass uns weitermachen", unterbricht Minho, bevor Seokjin ihn bemitleiden kann. „Es wird langsam spät und wir sind noch nicht Mal beim Weihnachtsgeist der Gegenwart angekommen."
Im Wohnzimmer dröhnt nach wie vor laut Musik und Seokjin bezweifelt, dass die Party demnächst vorbei sein wird. Aber er wird Minho nicht davon abhalten, das Thema zu wechseln. Nicht wenn er es offensichtlich braucht.
„Okay", sagt Seokjin und fügt dann scherzend hinzu: „Aber sei gewarnt. Mein gegenwärtiges Leben ist ein einziger Witz."
„Ich mag Witze. Hast du gewusst, dass die ersten Aufzeichnungen von Humor im Antiken Griechenland stattgefunden haben? Sogenannte „schlagfertige Männer" haben in öffentlichen Bereichen Passanten verspotteten und es als Humor bezeichnet. Später haben die großen Philosophen gemeint, dies wäre unkultiviert und gefährlich. Sie haben die Zähmung des „groben Lachens" angeordnet und verlangt, den feineren Witz und zivilisiertere Ironie einzuführen."
Zivilisierte Ironie.
Seokjin schüttelt lachend den Kopf. „Nein, das habe ich nicht gewusst."
Minho lächelt ebenfalls schwach und Seokjin verflucht sogleich jeden einzelnen Idioten, der Minho verweigert hat sein Potential zu entfalten.
***
Seokjin liegt in seiner großzügigen Vierzimmerwohnung im zehnten Stockwerk auf dem Sofa und starrt die Decke an. Sie ist weiß. Reinweiß. Perfekt gestrichen und ohne eine einzige, noch so kleine, Verfärbung. Alles, was ihm seine Eltern zur Verfügung stellen ist so. Unbefleckt und hochwertig. Kein Luxus und keine Extrawürste, aber mehr als genug, um je auf die Idee zu kommen sich zu beklagen.
Morgen ist Weihnachten. Seine Eltern haben ihn nicht eingeladen. Sie haben ihm ein Paket per Post zustellen lassen und ihm eine kleine Karte dazugelegt.
Lieber Seokjin,
wie du vielleicht weißt, läuft das Geschäft fabelhaft. (Oder auch nicht, du liest ja nie die Zeitung.) Seit wir Min Yoongi eingestellt haben, boomt die Firma förmlich. Er ist in deinem Alter, aber hat bereits zehn Jahre Arbeits- und Führungserfahrung. Es ist noch zu früh, um definitive Schlüsse zu fassen, aber wenn er so weiter macht, werden wir ihm wohl eines Tages die Firma vererben. So wird sie sicherlich in...
Seokjin liest den Brief nicht zu Ende, sondern überfliegt ihn nur. Wie sie hoffen, dass es ihm gut ginge (Lüge) und ob er nicht ein Auslandjahr auf ihre Kosten (damit er weit, weit weg ist und ihnen nicht in die Quere kommen kann) machen möchte. An Weihnachten solle er sich bitte fernhalten. Sie haben diesen Yoongi eingeladen und möchten nicht erklären müssen, dass sie einen geheimen Sohn haben.
Seokjin fragt sich, ob zehn Uhr morgens zu früh für Alkohol ist und was man tun muss, dass die perfekt reinweiße Decke schmutzig wird. Die Tür zu seinem Schlafzimmer öffnet sich in dem Moment und ein junger Mann stolpert hinaus – Seokjin kann sich vage an ihn erinnern – und lächelt verlegen. Er ist klein und schlank und eigentlich so gar nicht Seokjins Typ.
„Ehm, hi", stottert er. „Darf ich, vielleicht, ehm, duschen?"
Seokjin macht eine undefinierte Geste Richtung Badezimmer. „Nur zu."
Der Junge lächelt, sagt: „Danke", und verschwindet im Badezimmer. Es ist ein großes, ordentliches Badezimmer. Mit weichen Handtüchern und feinen Duftkerzen und–
Wenn man eine Flasche Alkohol nehmen und sie mit voller Wucht an die Decke schmeißen würde, hinterließe sie dann einen Fleck?
Seokjin muss hier raus. Ohne sich um den Jungen in der Dusche zu kümmern, steht er auf, packt sich seine Schlüssel und seine Jacke und verlässt die Wohnung. Er trägt Trainerhosen und ein Schlafshirt, aber er hat aufgehört sich zu kümmern. Das Ding ist doch, wenn niemand etwas von einem erwartet und man keinen Grund hat, von selbst aus etwas zu tun, ist so ziemlich alles egal. Ob man nett oder unhöflich ist. Ob man sich kümmert oder sich gehen lässt. Ob man lebt oder stirbt.
Seokjin landet in einem Park und setzt sich dort auf eine Bank. Es liegt kein Schnee – der Klimawandel lässt grüßen –, aber es ist eisern kalt. Ein paar Artisten stehen auf der Wiese und jonglieren mit kegelförmigen Wurfobjekten in akrobatischen Posen. Es sieht schmerzhaft und anstrengend aus und während Seokjin sie beobachtet, wird er sich wieder einmal schmerzlich bewusst, wie talentlos er doch ist.
Er zieht sein Handy hervor und wählt die erst beste Nummer. Namjoon nimmt nach dem zweiten Klingeln ab.
„Hey, Jin. Was gibt's?"
„Sag mir, du hast Morgen eine Party im Blick", gibt Seokjin ohne Begrüßung zurück. Er und Namjoon sind sich nicht sonderlich nahe. Sie feiern bloß hin und wieder miteinander und haben eine ungeschriebene Regelung, die besagt, dass sie sich gegenseitig auf Feiern einladen, wenn sie etwas im Blick haben. Nicht mehr, nicht weniger.
Namjoon zögert und Seokjin kneift die Augen zusammen. Einer der Jongleure macht gerade – während dem Jonglieren – einen Salto.
„Du hast etwas geplant", stellt Seokjin fest.
Namjoon seufzt durch die Leitung. „Vielleicht."
„Bin ich dir nicht mehr gut genug?", fragt Seokjin.
„Das ist es nicht."
„Nein?"
„Ich hab' so nen Typen kennengelernt. Verdammt hübsch. Definitiv nicht meine Liga. Er hat mich auf ne Studentenparty eingeladen – er ist jünger als wir."
„Du willst nicht, dass ich dich blamiere", überlegt Seokjin. Einer der Jongleure macht den Spagat und Seokjin würde ihm am liebsten das Handy an den Kopf werfen. Können diese Arschlöcher nicht irgendwo anders perfekt sein?
„Ja", sagt Namjoon und fügt nach einer kurzen Denkpause: „Sorry", hinzu.
„Schon okay", meint Seokjin. „Ich sag dir was: wieso sendest du mir die Adresse nicht einfach aus Versehen. Ich gehe unabhängig von dir dort hin und sollten wir uns über den Weg laufen, tun wir so als würden wir uns nicht kennen."
Namjoon überlegt einen Moment, dann sagt er: „Das könnte klappen. Ich sende dir gleich die Adresse."
„Sehr schön."
„Mh-mh", Namjoon fummelt hörbar mit seinem Handy herum, dann sagt er stolz: „Verschickt."
„Danke, Joon. Du bist der beste."
„Für dich doch immer."
Gerade als Seokjin aufhängt, springt einer der Jongleure auf und macht eine Hechtrolle, bevor er all seine Wurfobjekte graziös fängt und sich verbeugt.
Es ist jetzt elf Uhr, und somit offiziell spät genug, um mit dem Trinken zu beginnen.
Seokjin steht auf und verschwindet in dem nächstgelegenen Pub, das er findet.
***
„Du bist Alkoholiker", stellt Minho süffisant fest.
„Ich könnte aufhören, wenn ich wollte."
„Aber du willst nicht."
„Ich...", Seokjin bricht ab. Nein, tut er nicht. Er ist zwar fest davon überzeugt, dass er auch ohne Alkohol könnte, aber es herausfinden will er trotzdem nicht. „Befinde ich mich nicht im weißen Raum", wechselt er das Thema. „Sollte ich mich hier nicht sicher fühlen?"
Minho schnaubt. „Jammerlappen."
Seokjin kickt ihn halbherzig gegen das Bein. „Du bist ein miserabler Weihnachtsgeist."
„Ich bin ein miserabler Mensch", sagt Minho, „das hatten wir doch schon."
„Fürchterlich", stimmt Seokjin zu, wobei er dabei lächeln muss. Es passiert ganz natürlich. Irgendetwas an Minho ist anders. Normalerweise mag Seokjin Menschen nicht. Sie stehen alle immer mitten im Leben, haben Familie und Freunde, einen gut bezahlten Job, Ziele und Träume. Seokjin fühlt sich daneben einfach nur schlecht; noch mehr wie der Versager, der er ist – und das ohne, dass je zur Sprache kommt, dass er seit zehn Jahren arbeitslos ist und den ganzen Tag nichts macht als blöd rumsitzen. Minho hingegen spricht es offen an und beleidigt ihn deswegen – und ist dennoch sympathischer als alle anderen zusammen.
„Weißt du", sagt Seokjin, „ich glaube, du kannst kaum reden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du mehr als genug kiffst."
„Tatsache", bestätigt Minho. „Aber ich leugne es auch nicht."
„Nein?"
Minhos Mine verfinstert sich. „Nein."
***
Wenn Minho sich ganz stark fokussiert und das Mädchen vor sich lange genug anstarrt, sieht sie definitiv aus wie Jieun. Damals, als Jieun noch sechs gewesen ist und geglaubt hat, die Welt sei ein schöner Ort.
„Herr Lee?", fragt das Mädchen, das wie Jieun aussieht.
Minho kichert, denn es ist wirklich witzig. Hätten sie Geld für ordentliche Kleidung und frisches Wasser gehabt, hätte Jieun wirklich so aussehen können wie sie. Hübsch und ordentlich und geliebt von ihren Eltern.
Minho greift nach einer Haarsträhne des Mädchens. Sie ist geschmeidig und weich – wie Kaschmir – und glänzt im künstlichen Licht des Kindergartens. Die anderen Kinder sind am Malen, aber das Mädchen, das aussieht wie Jieun, scheint keine Lust zu haben. Was lächerlich ist. Jeder mag doch malen. Minho würde sofort etwas malen, wenn er dürfte. Ein Palast oder ein Luftschloss, mit Wolken aus Zuckerwatte. Fuck, hat er Bock auf Zuckerwatte. Er hat noch nie welche gegessen – das ist, laut seiner Mutter, zu teuer und unnütz. Aber jetzt verdient er Geld. Er könnte sich welche kaufen. In allen Farben. Bis sich ein Regenbogen aus Zucker durch sein Leben zieht und er damit Bilder malen könnte.
Ob das Jieun gefallen hätte? Sie war ein widerspenstiges Kind, aber Zucker hat sie immer gemocht. Schade eigentlich, dass sie sich gestern umgebracht hat.
***
„Minho!", keucht Minhos Mutter ins Telefon. Minho ist noch nicht ganz wach – es ist kurz nach zwei Uhr morgens und er hat bereits geschlafen – weswegen er nicht registriert, wie aufgelöst seine Mutter klingt.
„Was?", fragt er halb genervt und halb im Schlaf.
„Es... es geht um Jieun. Du musst unbedingt herkommen."
„Jieun?", fragt Minho. Er stellt seine Nachttischlampe ein und reibt sich mit der freien Hand den Schlaf aus den Augen. Seine Wohnung ist klein. Sie besteht aus nur einem Raum, der Schlafzimmer, Küche und Wohnzimmer zugleich ist. Aber sie ist sauber und aufgeräumt und kein einziger Karton Instant-Ramen ist darin zu finden.
„Sie hat... sie..."
„Was ist los?", fragt Minho wacher. Irgendetwas stimmt nicht. Seine Mutter klingt fürchterlich.
„Sie hat sich... da ist überall Blut... ich kann nicht..."
Minhos Herz sinkt. Er steht auf und geht Richtung Tür, um sich die Schuhe überzustreifen. „Du musst einen Arzt rufen. Ich komme so schnell ich..."
„Es ist zu spät", unterbricht seine Mutter Minho. „Es ist zu spät."
Minho kriegt sie nicht dazu ihm genauer zu erklären, was sie meint, aber das muss sie auch nicht. Sobald Minho sein Kindheitszuhause betritt, versteht er, was sie hat sagen wollen.
Der sonst so hartnäckige Geruch von Instant-Ramen, der wie Farbe an den Wänden klebt, ist nur schwach zu vernehmen. Viel deutlicher hängt ein metallischer Geruch in der Luft. Minhos Mutter weint in einer Ecke. Sein Vater scheint gerade Taxidienst zu haben und sein Bruder knallt sich wahrscheinlich in irgendeinem Loch die Birne mit Koks weg.
„Es tut mir leid", jammert seine Mutter, aber Minho beachtet sie nicht. Er steigt über den Krimskrams, der wie immer im Flur steht, und betritt das Bad.
Es ist eine Weile her, seit er seine zwölfjährige Schwester das letzte Mal gesehen hat. Vielleicht zwei oder drei Monate. Sie hat damals nicht gut ausgesehen. Dünner als sonst, verlorener als sonst, aber vor allem auch unglücklicher als sonst.
Scheint es wäre wirklich besser gewesen, sie wäre nie geboren worden. Das Kondom nicht gerissen. Das Geld für eine Abtreibung vorhanden.
Sie hat sich die Handgelenke aufgeschlitzt. Weder präzise noch gekonnt. Ihr ganzer Unterleib ist voll Blut, so als hätte man sie anmalen wollen. Eine neue Jieun. Ein neues Mädchen.
„Wir haben gestritten", jammert Minhos Mutter. „Sie wollte neue Kleider für die Schule – du weißt wir haben nicht genug Geld – und ich habe..."
„Ich rufe den Notarzt", unterbricht Minho und tritt an seiner Mutter vorbei zurück auf den Flur.
„Aber sie ist... sie ist tot."
„Exakt. Willst du, dass sie hier liegen bleibt, bis sie verfault? Jemand muss sie abholen."
Minhos Mutter weint und weint und weint und Minho ist sich am Rande bewusst, dass er gerade äußerst rational handelt, aber er kann es sich nicht leisten zusammenzubrechen. Noch nicht.
Er ruft den Notarzt, drückt seiner Mutter ein Glas Wasser in die Hand und gibt der Polizei eine ausführliche Aussage darüber, was geschehen ist. Keiner hinterfragt ihn oder seine Mutter und keiner versucht näher darauf einzugehen. Ein armes Mädchen aus einer armen Familie für die sich niemand interessiert ist gestorben. Passiert halt.
Sobald die Polizei weg ist, verabreicht er seiner Mutter eine Schlaftablette und legt sie ins Bett. Dann geht er nachhause. Es ist kurz vor sechs und er weiß, dass es ein Fehler ist – in zwei Stunden muss er auf der Arbeit erscheinen –, aber er kann nicht anders. Er braucht es. Normalerweise, damit er den ewigen Trott seines unnützen Daseins vergessen kann. Heute, weil nichts und wieder nichts an der Situation fair ist. Für Jieun, weil sie in jeder x-beliebigen Familie hätte glücklich werden können. Für ihn selbst, weil er den Rest seines Lebens als Schatten dessen leben wird, wofür er eigentlich Potential hätte.
Er zieht die Schuhschachtel mit seinem Marihuana-Vorrat unterm Bett hervor und dreht sich mit gekonnten Handgriffen einen Joint. Noch bevor er überhaupt begriffen hat, was los ist, steckt der Joint zwischen seinen Lippen und brennt und noch bevor er registrieren kann, was er tut, begrüßt er so high wie das Empire State Building seine Kinder im Kindergarten.
***
„Sind Sie krank, Herr Lee?", fragt das Mädchen, das wie Jieun aussieht. Sie wirkt besorgt, so als hätte sie Angst um ihn.
„Ja", antwortet Minho belustigt. Es ist so witzig, dass sich dieses Mädchen um ihn sorgt. Jieun hat das nie getan. Seine Mutter hat es nie getan. Niemand hat es je getan. Aber dieses Mädchen schon. Weil sie naiv und jung ist und nicht sieht, was an ihm alles kaputt ist.
Er ist krank, aber es ist kein natürliches Leiden. Es ist ein Fluch, der auf ihm liegt und, genau wie der Geruch von Instant-Ramen, nie von ihm weicht. Er kann kiffen, um die Symptome zu mindern, aber der Ursache kann er nicht entkommen. Denn er ist er selbst und Lee Minho ist geboren worden, um zu leiden.
***
Seokjin sitzt starr in der Badewanne. Er sollte die Diskussion zurück zum weißen Raum führen. Er sollte Minho beipflichten, dass alles okay ist. Er sollte ein funktionsfähiger Geist der gegenwärtigen Weihnacht sein. Aber wie immer ist Seokjin unfähig. Wie kommt es, dass er geglaubt hat, dass es ihm selbst schlecht geht, wenn Menschen wie Minho existieren? Es scheint nicht fair oder logisch oder...
„Komm her", sagt Minho.
Seokjin öffnet die Augen und blickt direkt in Minhos. Trotz all dem, was er gerade erzählt hat, hat er ein Lächeln auf den Lippen und die Hände nach Seokjin ausgestreckt. Es wirkt echt, aber Seokjin ist schlecht darin Gesichtsausdrücke zu deuten. Es könnte aufgesetzt und falsch sein, aber Seokjin will das nicht wahrhaben, also beschließt es so zu deuten, wie er mag. Minhos Sanftmut ist echt. Punkt.
Steif von dem langen Sitzen löst Seokjin sich aus der Badewanne. Das Wasser plätschert an ihn herab und hinterlassen nichts als Kälte. Auf wabbeligen Beinen durchquert er die Länge der Badewanne, dreht sich um und setzt sich zwischen Minhos Beine. Erst als sie sich berühren – Seokjins Rücken an Minhos Brust und dessen Arme um Seokjins Körper geschlungen –, bemerkt Seokjin, dass er zittert. Nicht weil er kalt hat, sondern...
Nun, das weiß er nicht so genau.
Er legt seine Hände über Minhos auf seiner Taille und entspannt sich so gut er kann. Es ist nicht besonders bequem; ihre nassen Kleider kleben wie eine zweite Haut auf ihnen und aneinander. Wenn man sich bewegt, reiben sie unangenehm auf der Haut, aber wenn man still bleibt, kann man darüber wegsehen. Minhos Atem trifft in regelmäßigen Abständen auf Seokjins Nacken und seine Daumen fahren, als könnten sie Seokjin Unbehagen spüren, in kleinen Kreisen über Seokjins nassen Pullover.
„Es tut mir leid", murmelt Seokjin.
Minho lacht schwach – und das Geräusch befindet sich so nah an Seokjins Ohr, dass dieser schaudert. „Mir auch", sagt Minho als würde er scherzen. Es ist noch schwieriger Minho zu deuten, jetzt da Seokjin ihn nicht mehr sehen kann. Sein ganzes Blickfeld besteht nur noch aus gelben Badeentchen und weißem Badewannenporzellan.
„Ich meine es ernst", sagt Seokjin also.
„Ich auch", bestätigt Minho.
„Aber..."
„Es ist ein paar Monate her, seit das passiert ist. Ich habe es Großteiles überwunden. Immerhin sind Jieun und ich uns nie nahgestanden und um ganz ehrlich zu sein, bin ich froh, dass sie einen Ausweg gefunden hat."
„Makaber."
„Ich hab' doch gesagt, ich bin ein schlechter Mensch", seufzt Minho und legt seinen Kopf gen Seokjins Nacken. Seine nächsten Worte sind leise, aber ganz nah. „Ich meine: meine Schwester stirbt und meine größte Sorge ist es, dass meine Familie dazu verdammt ist zu leiden. Dass, egal was ich tue, es keinen Ausweg gibt."
Dieses Gefühl hat Seokjin auch. Bei ihm ist es weniger krass – niemand ist Tod, alle haben genug Essen und Geld zum Leben, aber manchmal, also eigentlich immer, hat er das Gefühl, dass es keinen Ausweg gibt. Einen Ausweg aus seiner Dummheit. Einen Ausweg aus seiner unveränderten Blase des Selbstmittleids. Seokjins Leben befindet sich in Kryostase und er kann nichts dagegen tun.
(Oder?)
„Was würde der Geist der zukünftigen Weihnacht dazu sagen?", fragt Seokjin und Minho lacht so dicht bei ihm, dass etwas von Seokjins Angst abfällt. Er kuschelt sonst nie. Freunde hat er nicht, Arbeitskollegen ebenfalls und Fremde fickt er nur. Einfach daliegen und sich an jemandem festhalten ist ihm fremd. Vielleicht liegt darin das Geheimnis, dass alle anderen erfolgreich macht.
„Er würde uns sagen, dass wir Idioten sind", beantwortet Minho. „Dass wir beide einsam und versauert enden werden. Ich mit Hass auf alles und unfähig den Tag zu überstehen, ohne mich zu bekiffen, um meinem Selbstmittleid zu entfliehen. Du ohne Plan und Ziel, gefangen in einem ewigen Kreislauf aus nichts und wieder nichts. Wir werden beide allein sterben – ich werde dem Beispiel meiner Schwester folgen und du wirst an einer Alkoholvergiftung verrecken."
Seokjin umgreift Minhos Arme fester in seinen, so als müsse er sich vergewissern, dass er noch da ist und ihm nicht aus Versehen entrinnt.
„Du sagst das so trocken."
„Ist es doch auch", meint Minho.
Und dann fällt es Seokjin wie Schuppen von den Augen. All seine Erinnerungen ziehen an ihm vorbei. Seine verkackte Schulzeit, seine schlechten Noten, seinen Rauschmiss, die endlosen Partynächte, die er seither gefeiert hat... alles knäult sich zusammen und schlägt sich auf ihn nieder. Er hat mit zwanzig beschlossen, dass er sein Leben verspielt hat, aber was das bedeutet, hat er nie begriffen. Er hat es einfach hingenommen, weil er geglaubt hat, er habe es verdient. Das hier ist alles, was sein Leben je sein wird. Trocken.
„Ich mag diesen Charlie Dick nicht."
„Charles Dickens", korrigiert Minho. „Und die Geschichte ist auch noch nicht zu Ende. Das Kapitalistenschwein findet Glück, schon vergessen?"
„Richtig, er begreift, dass er ein Arschloch ist und hört auf eins zu sein."
„Simpel", stimmt Minho zu und Seokjin glaubt ihm. Beinahe.
„Und wie würde so eine Zukunft aussehen?", fragt Seokjin.
„Mhm", überlegt Minho. „Ich weiß nicht. Es gibt viele Möglichkeiten. Hast du nicht vorhin erwähnt, dass deine Eltern dir ein Auslandaufenthalt aufbrummen möchten?"
Seokjin erinnert sich vage an den fürchterlich degradierenden Weihnachtsbrief, den er gestern von seinen Eltern bekommen hat und nickt.
„Du könntest das Angebot annehmen. Nach Europa ziehen und ein neues Leben beginnen. Mhm, vielleicht wirst du Maler. In Frankreich. Du kaufst ein kleines, loddriges Häuschen mit einem Rosengarten und knarrenden Dielen und malst Bilder."
„Ich kann nicht malen", widerspricht Seokjin rasch, bevor er sich diese Zukunft vorstellen und sich Hoffnung machen kann. Ob er Spaß in der Natur hätte? Auf ewig weiten Wiesen, so weit entfernt von Korea, dass ihn seine Eltern nicht einmal in Gedanken etwas anhaben können.
„Du könntest eine Bäckerei aufmachen", schlägt Minho weiter vor. „In einem kleinen Dorf irgendwo im Süden. Anfangs bist du schlecht darin und dein Brot schmeckt fürchterlich, aber die Einheimischen sind entzückt von deinem Akzent und deinem Gesicht und haben Geduld mit dir."
Seokjin schnaubt, aber Minho lässt ihn nicht gewähren.
„Du hast immer noch chronisch das Gefühl zu nichts zu gebrauchen zu sein, aber du lernst damit umzugehen. Immerhin vergeht von da an kein Tag mehr, an dem niemand deine Brötchen möchte."
***
„Ah, Jinnie", grüßt der alte Jules Seokjin wie jeden Morgen. Er ist klein und dick, trägt jeden Tag ein anderes Karohemd und hat stets ein Lächeln im Gesicht. Seine Haut ist von der Sonne gebräunt und seine Schultern sind entspannt – was hier in Südfrankreich normal ist. Verspannte Schultern existieren hier nicht.
„Jules, wie geht es dir?", fragt Seokjin in seinem gebrochenen Französisch, während er, wie jeden Morgen, Jules ein Sauerteigbrot und zwei Croissants einpackt.
„Wie soll es mir gehen? Ich muss heute die Ziegen verschieben."
„Du... schiebst die Ziegen?", fragt Seokjin. Französisch ist schwer, er ist sich oft unsicher, ob er selbst schwer von Begriff oder die Franzosen schlicht wahnsinnig sind. Es würde ihn nicht überraschen, wenn heute noch ein Fest stattfände, an dem die Dorfältesten je eine Ziege mitbrächten und diese in einem Wettlaufen über den Dorfplatz schöben.
„Ich bringe sie auf eine neue Weide. Ich verschiebe sie. Ist super mühsam, weil die Dinger dumm wie Brot sind."
Seokjin sieht auf das eingepackte Sauerteigbrot, das er in den Händen hält. Dann blickt er im selben Moment wie Jules wieder auf, der Wohl den gleichen Gedanken gehabt haben muss. Sie sehen sich einen Moment lang an, bevor sie in Gelächter ausbrechen.
Hier in Südfrankreich wirkt alles schwerelos und Seokjin ist sich sicher, dass wenn einer Meister im Ziegenschieben wäre, dann definitiv Jules.
***
„Mutig von dir anzunehmen, dass ich je in der Lage sein würde Sauerteigbrot zu backen", scherzt Seokjin.
„Mutig von dir zu denken, dass diese Zukunftsvision nächstes Jahr spielt", entgegnet Minho. „Du bist dort schon weit über vierzig und hast die Leichen tausenden Brotlaiben auf dem Gewissen."
Seokjin schnaubt. Er bezweifelt, dass es je dazu kommen wird, aber es ist dennoch schön, es sich vorzustellen. Bislang hat Seokjin alles immer abgeschrieben, weil er so oder so nicht auf die Reihe bekommen hat und sein Vater ständig nur enttäuscht gewesen ist. Aber vielleicht, wenn er sich wirklich reinhängen würde, könnte er etwas lernen. Etwas finden, das ihm Spaß bereitet und dann solange dranbleiben, bis er gut darin ist. Auch wenn es bis spät in seine vierziger dauert.
Der Gedanke macht Seokjin Angst. Es ist als könnte er seinen Vater bereits hören, wie er dasteht und seine Arbeit degradiert und für unzureichend erklärt.
„Was würdest du tun, wenn du etwas ändern müsstest?", fragt Seokjin, um die Gedanken weg von sich selbst zu lenken. „Literatur studieren?"
Minho seufzt in Seokjins Nacken. „Nein, ich glaube nicht. Mal abgesehen davon, dass ich weder das Geld noch die Noten dafür habe, gehört dieser Traum einem anderen Minho. Einem, der vor Jahren gestorben ist."
„Mh-mh", Seokjin lässt sich die Worte durch den Kopf gehen. Die Metapher wirkt treffend. Auch wenn Seokjin es nie als solches angesehen hat, ist damals, als er aus der Uni geflogen ist, ebenfalls ein Seokjin gestorben. Ob nochmals ein Seokjin sterben muss, damit er nach Frankreich ziehen und Sauerteigbrot backen kann?
„Welcher Traum hat denn der neue Minho?", fragt Seokjin weiter.
Minho überlegt kurz, bevor er sagt: „Meinen Job kündigen?" Seokjin lacht und Minho zwickt ihm in den Bauch. „Ich meine es ernst. Wenn ich noch einen Tag länger in diesem scheiß Kindergarten arbeiten muss, geh ich an die Decke."
„Wieso hast du überhaupt dort angefangen, wenn du es so sehr hasst?"
„Hat sich halt so ergeben", Minho zuckt mit den Schultern. „Ich hab' im Restaurant gegenüber Teller gewaschen und eines Tage im Fenster eine ausgeschrieben Stelle gesehen. Die Arbeitszeiten sind angenehmer und die Bezahlung besser, also habe ich mich beworben. Und es ist auch nicht nur schlecht. Mit dem extra Geld konnte ich ausziehen und mir Abstand von meiner Kindheit verschaffen. Es ist nur...", Minho verliert sich in seinen Gedanken und Seokjin wartet, bis er sich wieder fängt, aber es passiert nicht.
Also fragt Seokjin: „Und wenn du einen Job aussuchen könntest? Unabhängig von Geld und Qualifikationen?"
Minho überlegt kurz. Dann lächelt er und sagt: „Ich würde natürlich mit nach Frankreich reisen", als wäre dies offensichtlich.
„Ach ja?", fragt Seokjin überrascht.
„Mh-mh. Immerhin muss sich jemand über dein fürchterliches Französisch lächerlich machen."
„Wer sagt, dass ich schlecht in Französisch wäre?"
„Wärst du nicht?"
„Nicht der Punkt", meint Seokjin und ist überrascht, dass es ihn nicht stört, dass Minho nicht an seine Sprachbegabung glaubt. Denn entgegen seinem Vater tut Minho es nicht aus Bosheit, sondern um Seokjin zu necken. Und unabhängig davon, ob Minho Recht behält oder nicht (er behält Recht), sind die Emotionen, die dies in Seokjin auslöst durch und durch positiv.
„Ich würde eine Zeitung gründen", sagt Minho.
„In Frankreich?", fragt Seokjin.
„Jep. Denn entgegen dir werde ich die Sprache mühelos lernen und meine Begabung nutzen. Ich werde ausschließlich sarkastische Artikel über", Minho hält kurz inne, bevor er sagt: „Ziegen-Schieb-Wettbewerbe schreiben und nach meinem Tod den Nobelpreis aufgrund Bahnbrechender Literatur gewinnen."
„Goethe des 21. Jahrhunderts", raunt Seokjin Minhos Worte zu Beginn ihres Treffens nach. Er ist sich nach wie vor nicht sicher, ob Minho hochstapelt oder tatsächlich begabt ist – aber es ist ihm sowas von scheiß egal.
Wieviel Zeit ist seither vergangen? Es fühlt sich wie Jahre der Zweisamkeit an, die alles, was Seokjin in vergangener Zeit erlebt hat, in den Schatten stellen.
Seokjin schließt seinen Griff fester um Minhos Hände und schmiegt sich enger an seine Brust. Er schließt die Augen, aber er braucht keinen weißen Raum mehr, um sich sicher zu fühlen. Dann sagt er: „Niemand im Dorf wird deine Artikel mögen."
„Aber sie werden mich alle lieben."
***
Jules verlässt gerade den Laden als Minho eintritt. Sie grüßen sich herzlich und reden in vernuschelt schnellen Sätzen, sodass Seokjin kein Wort versteht. Er ermahnt sich Minho später deswegen aufzuziehen und ihm zu sagen, er sei ein schlechter Freund...
***
„Ich bin dein Freund?", fragt Minho überrascht.
„Natürlich", gibt Seokjin irritiert zurück. „Als ob ich irgendjemand, der nicht der schönste Mann im Dorf ist, daten würde."
***
...und nicht immer mit seinem Französisch angeben solle. Sobald Jules verschwindet, setzt sich Minho, wie jeden Morgen, an die Bar neben der Verkaufstheke und wartet auf seinen Kaffee, den ihm Seokjin nur widerwillig serviert.
„Jules hat mir gezwitschert, dass du gerne Ziegen herum schiebst."
Seokjin stellt ihm mit bitterem Lächeln den Kaffee vor die Nase. „Jules ist ein mieser Lügner."
„Er ist ein Held."
„Croissant?", fragt Seokjin. Minho nickt und Seokjin grinst siegesscher. „Zu blöd aber auch. Leider sind die gerade ausgegangen."
Minho blickt pointiert zum vollen Blech Croissants, das zentral in der Theke liegt, aber Seokjin lässt sich nichts anmerken. Er wischt die Kolbenmaschine sauber und arrangiert die Ruchbrote neu, während Minhos Blick wie Dolche auf seinem Rücken heftet. In einem vergangenen Leben hätte ihn das verunsichert, aber in diesem füllt es ihn mit Freude.
Sein Leben hier ist simpel und unspektakulär und nebst Neckereien mit Minho und französischen Missverständnissen passiert den lieben langen Tag nicht viel. Aber das braucht es auch nicht. Seokjin hat immer geglaubt er müsse in die Fußstapfen seines Vaters treten, um glücklich und erfolgreich zu werden, dabei reicht es vollkommen...
***
Die Badezimmertür geht auf. Sofort dringt laut die Musik aus dem Wohnzimmer in den engen Raum und prallt schrill an den glatten Plattenwänden ab. Schritte stolpern ungeschickt hinein. Sie stammen von mehreren Personen, vielleicht zwei oder drei, die allesamt betrunken sind. Jemand kichert und jemand anderes schließt die Tür. Seokjin hält unterbewusst den Atem an und dann: „Fuck, Hyunjin, du bis' so..."
Das Kichern ertönt wieder und jede Zelle in Seokjins Körper gefriert. Die Stimme gehört Namjoon. Zu einhundert Prozent. Seokjin hat schon genug Zeit mit ihm verbracht, um jede Phase seiner Trunkenheit zu erkennen. Gerade ist er ziemlich betrunken und ziemlich horny – und hat er nicht erwähnt, dass sein Date verdammt hübsch sei und definitiv nicht in seiner Liga spielt?
Das ist böse. Das ist verdammt böse. Seokjin und Minho werden hier nicht mehr rauskommen, bevor die Sonne untergeht.
„Schließ ab", sagt Namjoon nur halb kohärent. „Nich' des jemand reinkommd."
„Shit", meint die zweite Stimme. Sie klingt angenehm und weich und ähnlich hinüber wie Namjoon. Seokjin fühlt sich mit einem Mal nüchterner denn je.
Das Schloss knackst und dann ist es, als würde jemand zwei hungrige Raubtiere aufeinander loslassen. Seokjin hat noch nie so aufmerksam zwei Personen beim Knutschen zugehört – und er wünschte, es wäre dabeigeblieben. Namjoon stöhnt und der andere Typ – Hyunjin? – wimmert als hinge sein Leben davon ab. Seokjin wird Namjoon nie wieder in die Augen sehen können. Er versucht sich seine lecker dufte Bäckerei in Frankreich vorzustellen, aber es gelingt ihm nicht. Alles was er hört sind die schmatzenden Lippen der beiden Turteltauben und das leise Schmunzeln von Minho, direkt neben seinem Ohr.
„Was meinst du", flüstert er kaum hörbar. „Findest du nicht auch, dass das die perfekte Pointe für unser scheiß Leben ist?"
Seokjin jammert innerlich und will Minho widersprechen, aber wenn er ehrlich mit sich selbst ist, behält Minho höchstwahrscheinlich – ziemlich sicher – Recht.
„Wir sind zu ewigem Leid verdammt", flüstert Seokjin zurück.
„Halleluja", scherzt Minho und drückt ihm, maskiert unter Namjoons zunehmend besorgniserregend werdenden Schmatzereien, einen Kuss auf den Nacken.
Halleluja. Ja, so kann man es wahrlich ausdrücken.
***
Wer hätte gedacht, dass der erste Arbeitstag im neuen Jahr dermaßen beschissen laufen kann? Minho nicht – wobei es ihn auch nicht besonders überrascht. Es scheint als hätten alle Kinder über Weihnachten puren Unfug gefuttert – zu allen drei Mahlzeiten am Tag – und dies heute einzig und allein an Minho ausgelassen. Er hat Fingerfarbe in den Haaren, den vagen Geschmack von Kotze in der Nase und einen leichten Tinnitus, der erfolgreich das Geschrei von 20 Fünf- und Sechsjährigen imitiert, im Ohr. Alles tut ihm weh. Er hat die ganzen Ferien über nichts getan als im Bett oder auf Partys rumzuliegen und sich zu zukiffen. Es ist als hätte sein Körper in den zwei Wochen Weihnachtszeit komplett vergessen was es bedeutet, eine Horde Kinder im Zaun zu halten.
Gott, er will einfach nur nachhause gehen und sich selbst vergessen.
„Minho?", ruft Hajoon, seine Vorgesetzte, durch die leeren Räumlichkeiten. Die Kinder sind weg, aber es muss noch aufgeräumt werden. Minho versucht schon seit zehn Minuten zuvor erwähnte Kotze vom Badzimmerspiegel zu kratzen.
„Huh?", ruft er zurück. Wenn sie ihm jetzt auch noch aufbrummt, dass er den Rest allein putzen muss, brennt er irgendetwas nieder.
„Da ist jemand für dich."
Minho runzelt irritiert die Stirn, während Hajoon ins Bad tritt und die Stimme senkt. „Da ist so ein merkwürdiger Mann, der sagt er kenne dich und würde gerne seine Tochter hier anmelden."
„Und du glaubst ihm?"
Hajoon zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht. Es ist mir aber auch eigentlich egal. Er wirkt reich und wir können das Geld gebrauchen, also geh und rede mit ihm. Ich mach' dafür das hier", sie nickt gen Kotze, „für dich fertig."
Minho seufzt, reicht ihr den Lappen und tritt ins Spielzimmer. Niemand in seinem Bekanntenkreis hat Kinder, geschweige denn ist reich. Obwohl – wann hat er Changbin das letzte Mal gesehen? Ist es möglich, dass der Typ direkt nach dem Abi jemand geschwängert und eine Tochter bekommen hat, die jetzt im Kindergartenalter ist?
Nee. Sie hatten damals zwar nur noch wenige Monate nach dem Abi Kontakt, bevor sich ihre Wege getrennt haben, aber Changbin ist noch weniger der Typ für Kinder als Minho selbst. Steht der überhaupt auf Frauen? Minho versucht es sich vorzustellen, aber...
„Jin?"
Seokjin dreht sich zu Minho um. Er hat eben noch eine der grässlichen Kinderzeichnungen, die hier im Eingang hängen, betrachtet, blickt jetzt aber direkt in Minhos Gesicht. Er trägt einen langen Mantel – der tatsächlich ziemlich teuer aussieht –, hat sein schwarzes Haar in einer eleganten Welle aus dem Gesicht geföhnt und macht einen ordentlichen Eindruck. Würde Minho nicht wissen, wie verloren und einsam er ist, hätte er die Vorsicht in seinen Bewegungen übersehen und die Andeutung von Augenringen auf die schlechten Lichtverhältnisse geschoben.
„Minho", sagt Seokjin. Seine Stimme ist sanft und lässt tausende Fragen durch Minhos Kopf schwirren. Wie hast du mich gefunden? Bist du real? Geht es dir gut? Bitte sag mir, dass du Namjoon die Hölle heiß gemacht hast. Hat er sich entschuldigt? Möchtest du nochmals mit mir ein Bad nehmen?
Was er ausspricht, ist: „Bitte sag mir, dass du keine Tochter hast."
Seokjin lacht überrascht und schüttelt den Kopf. „Nope."
„Gut."
„Gut?" Seokjins Blick heftet sich auf Minhos Haar – dorthin, wo rote Fingerfarbe eintrocknet – und Minho sieht peinlich berührt zur Seite. „Ich mag keine Kinder", sagt er.
Seokjin nickt. „Ja, ich weiß."
Minho sieht ihn wieder an, aber sobald ihre Augen aufeinandertreffen, blickt Seokjin weg.
Fuck ist das awkward.
„Dann willst du niemanden hier anmelden?", sagt Minho. „Ich frage nur, weil, ehm, meine Chefin putzt gerade Kotze vom Spiegel, die eigentlich ich reinigen müsste und..." Seokjin verzieht das Gesicht und Minho bricht kopfschüttelnd ab. „Ja, ich weiß. Ekelhaft. Aber was will man tun? Das Leben ist nun mal kein Charles Dickens Buch."
Seokjin nickt erst, bevor er es sich anders überlegt und den Kopf schüttelt. „Deswegen bin ich hier", sagt er.
„Charles Dickens?"
„Ja. Nein? Der Typ ist mir ziemlich schnuppe..."
„Er ist einer der wichtigsten und einflussreichsten Schriftsteller des 19. Jahrhundert."
„Okay."
„Okay?", lacht Minho und fühlt sich zurück in die Nacht von Heiligabend versetzt. Mag sein, dass sie sich seither nicht gesehen haben und Minho davon ausgegangen ist, dass sie dies auch nie wieder tun werden. Das ändert nichts an der Tatsache, dass ihre gemeinsame Nacht das wohl Echteste ist, was Minho je erlebt hat. Und das nur, weil er versucht hat einen besoffenen Typen mit Literaturgelaber zu vergraulen. Wer hätte gedacht, dass aus Überheblichkeit solch eine fundamentale Verbundenheit erblühen kann?
„Ja, vielleicht. Ach, fuck", labert Seokjin und greift in seine Manteltasche. „Es wird nicht mehr besser", fügt er mehr für sich selbst als für Minho hinzu. Dann streckt er den Arm aus und drückt Minho zwei Tickets in die Hand. Flugtickets. Nach Paris. Nächste Woche.
Minho reißt den Kopf so schnell wieder hoch, dass es sich anfühlt, als hätte er sich einen Muskel gezerrt.
Seokjin lächelt verlegen. „Ist kein Dorf in Südfrankreich, aber ich hab' gedacht, wir könnten einfach Mal hinfliegen und dann vor Ort sehen, wo es uns hintreibt."
Minho ist sich nicht sicher, ob er halluziniert oder ob das hier gerade wirklich passiert. Er sticht sich unauffällig mit dem Fingernagel in den Handrücken – shit, tut das weh – und verwirft den Gedanken wieder.
„Wieso?", fragt er und Seokjin zuckt nonchalant mit den Schultern.
„Kann sein, dass ich Angst vorm Geist der zukünftigen Weihnacht habe." Er leckt sich über die Lippen und fügt dann zögernd hinzu: „Kommst du mit?"
Minho geht Schritt für Schritt alle Momente durch, die ihn zu diesem Punkt geführt haben – wieder und wieder –, aber es ergibt keinen Sinn. Nichts, was er je getan hat, rechtfertigt diesen Ausgang. Er ist verdammt geboren, hat verdammt gelebt und wird verdammt sterben – aber irgendwie steht hier dennoch ein hübscher Mann mit verzweifelten Augen, der ihm einen Ausweg bietet.
Minho traut sich kaum auch nur daran zu denken ja zu sagen. Nie hat er etwas einfach so bekommen, nie hat es nicht irgendwo noch einen Haken gegeben. Und jetzt wird es ihm schlicht und ohne Hintergedanken auf dem Silbertablett serviert?
Minho möchte weinen. Er hat seit Jahren nicht geweint, aber jetzt, hier in diesem nach verfickter Kotze riechenden Kindergarten, möchte er flennen als gäbe es kein Morgen. Anstatt dessen schluckt er die Tränen runter und sagt: „Ja. Ja, verdammt, ich möchte mitkommen."
Ihre Blicke treffen aufeinander und im exakt gleichen Moment breitet sich auf beiden Gesichtern ein breites Grinsen aus. Noch bevor Minho das Geschehen verarbeiten kann, tritt er auf Seokjin zu und schließt ihn fest in den Arm. Er riecht nach Limette, genau wie das Badesalz in Hyunjins Wohnung, und nach Möglichkeiten. Einer ganzen Welt voller Möglichkeiten, die Minho mit einem Mal offenstehen.
Das Kapitalistenschwein begreift, dass er ein Arschloch ist und hört auf eins zu sein – simpel.
Ob Charles Dickens sich das so gedacht hat oder ob noch mehr dahintersteckt bleibt wohl ein Rätsel, aber Minho wird ihm fraglos auf ewig dankbar sein, dass er „A Christmas Carol" geschrieben hat. Er glaubt nicht an Geister und hat noch nie in seinem Leben Weihnachten gefeiert, aber das hier ist wahrlich ein Wunder.
(Ein Weihnachtswunder?)
(Vielleicht.)
ENDE
© November 2021
Toni alias Kookuck
______❣︎______
In unserem nächsten Türchen erwartet euch:
Jeden Tag bleibt dieser knuffige Kerl vor dem Schaufenster stehen und betrachtet sehnsüchtig die Auslage.
Yoongi wüsste zu gern, was genau er sich ansieht... bis er sich endlich ein Herz fasst und nachfragen geht. Das hat er zumindest vor,wenn der junge Mann ihn nur nicht so aus dem Konzept bringen würde!
Nun. Er kann es ja morgen nochmal versuchen, denn dann steht Jimin ganz bestimmt wieder dort und schaut zu ihm in den Laden.
(bunnykattiii)
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top