27. Die Geburt

Ich bin Jägerin. Vagabund. Nomadin. Habe kein Zuhause, will es auch nicht. Das Heim, aus dem ich komme, war niemals ein freundlicher Ort und solange ich von meiner Beute leben kann, werde ich nicht sesshaft werden. Ich glaube sogar, selbst wenn ich alt und gebrechlich wäre, würde ich mich keiner Gemeinde anschließen. Menschen sind verlogen und gefährlich. Man kann ihnen nicht vertrauen. Es lebt sich besser alleine. Der Krieg? Ach die Sache mit diesem Wahnsinnigen. Bärenstein, oder? Keine Ahnung warum die Menschen diesem Verrückten folgen, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele einer schönen Lüge mehr glauben schenken als einer hässlichen Wahrheit. Warum seinen Verstand einsetzen, wenn die Ignoranz so angenehm ist? Ich halte mich da auf jeden Fall raus. Sollen die sich doch die Köpfe einschlagen. Ich werde meinen eigenen Weg gehen.
Fatima, 21, weiß nichts von den Bärenfallen in ihrem neuen Jagdgebiet

NAVA
Schmerzen! Verdammte Schmerzen. Dieser Satz beherrschte Navas Gedanken seit etwa sechs Stunden. Die Wehen wurden immer stärker und intensiver. Die Abstände zwischen ihnen wurden auch immer kleiner. Killian war mit einem ungeheuerlichen Tempo in das nächstgelegene Dorf gefahren und hatte dort bei mehreren Türen angeklopft bis eine Familie es ihnen gestattet hatte bei ihnen zu bleiben. Es war bereits Ende Herbst und die Nächte zu kühl um das Kind draußen zu bekommen.

Ihre Retter waren ein älteres Ehepaar, das Mitleid mit Killian und seiner hochschwangeren >Ehefrau< gehabt hatten. Nava war es egal gewesen, sie wollte einfach nur ins Warme und diese Schmerzen beenden. Während Killian Wasser kochte und Handtücher bereitete blieb die ältere Frau bei Nava.

"Es wird alles gut. Tief durchatmen.", beruhigend strich die alte Frau, dessen Name Nava bereits vergessen hatte, über ihren unteren Rücken. Die kreisende Bewegung half etwas gegen die Schmerzen. Der Kopf des Kindes lag tief und sahnte ein drückendes Gefühl durch ihren gesamten Bauch. "Ich habe drei Kinder zur Welt gebracht und werde dir da durch helfen.", redete sie unbeirrt weiter.

Nava trug ein altes, cremefarbenes Nachthemd der Frau, stand über einem Stuhl gebeugt da und wünschte sich Killian würde endlich wieder kommen. Sie vertraute der Frau nicht, sie vertraute den Leuten in diesem Dorf nicht und nur mit äußerster Mühe konnte sie ihre Gaben unter Kontrolle halten.

Das Zimmer in dem sie sich befanden war das ehemalige Kinderzimmer. Nun stand darin ein einfaches Gästebett aus Holz, ein Tisch mit zwei Stühlen, ein Radio und ein Kleiderschrank. Alles aus Holz (bis auf das Radio natürlich) und sehr rustikal dekoriert. Das Haus wie auch das ganze Dorf schienen alt und ländlich. Wie durch ein Wunder war es von den Kriegszügen verschont geblieben.

"Hier ist das Wasser.", verkündete Killian stolz und stellte die Schüssel mit warmen Wasser auf den Tisch. Zögerlich trat er zu ihr.

"Wie geht es dir?" Nava schnaubte wütend und griff nach seiner Hand als die nächste Wehe ihren Körper erzittern ließ. Killian grunzte überrascht und biss die Zähne zusammen als Nava seine Hand als Schmerzableiter verwendete. Sobald die Wehe vorbei war, atmeten beide erleichtert auf.

"So schlimm also?", kommentierte Killian und schüttelte seine Hand.

"Bald ist es vorüber. Die Wehen liegen schon sehr nahe beieinander. Ich werde noch eine Kleinigkeit zu essen holen." Damit verabschiedete die alte Frau sich und schloss die Tür hinter sich. Sofort zog Nava Killian zu sich.

"Ich will hier weg!", zischte sie und überraschte damit Killian offensichtlich.

"Was wieso? Das ist das beste was wir finden konnten. Außerdem sind Bert und Sybille wirklich nette Leute."

"Ich traue ihnen nicht. Wer lässt schon Fremde einfach so bei sich übernachten." Killian schüttelte traurig den Kopf.

"Hilfsbereite Menschen. Vertrau mir, Nava, ich habe das Haus gecheckt und auch die Umgebung. Wir sind in einem Bergdorf im hintersten Hinterland. Niemand wird uns finden und sobald das Kind da ist, können wir verschwinden, aber ich mag den Gedanken nicht, in der Nacht herumzufahren. Ganz zu schweigen davon, dass keiner von uns wirklich eine Ahnung hat was bei einer Geburt so abgeht. Sybille könnte uns da zumindest ein paar Tipps geben."

Unwillig schüttelte Nava den Kopf.

"Was ist wenn du dich irrst?" Große Angst schwang in ihrer Stimme und angestrengt setzte sie sich an die Bettkante. Nicht nur Angst vor ihren Gastgebern war es die ihr die Kehle zuschnürten und die Welt furchtbar erscheinen ließ. In wenigen Stunden würde sie ein Kind in den Armen halten, ihr Kind. Und zu den Schmerzen in ihrem Bauch gesellten sich nun auch die Schmerzen in ihrem Kopf. Bilder, Erinnerungen, Gefühle alles wirbelte durcheinander. Killian setzte sich vorsichtig neben sie und umfasste ihr Gesicht mit seinen rauen Händen.

"Ich weiß du hast Angst, das habe ich auch. Aber bald ist es vorbei und denk nur an dein kleines Mädchen. Bald ist sie da und wir werden sie kennenlernen können."

Er war so sanft, geduldig, mit geschickten Händen band er ihr schweißgetränktes Haar zusammen und drückte einen Kuss auf ihren Nacken. Tränen stiegen Nava in die Augen, als sie in sein Gesicht sah. Killians grüne Augen lächelten sie an. Nein, Moment, das war falsch.

Killian hatte keine grünen Augen. Dieses Grün gehört zu jemand anderem. Bevor Nava den Gedanken zu Ende denken konnte, überrollte sie eine Wehe. Einen hellen Schrei unterdrückend klammerte sie sich an Killian. Die Tür zu ihrem Zimmer wurde aufgestoßen und Sybille trat ein.

"Ich denke es wird Zeit zu pressen, Liebes." Dasselbe Gefühl hatte auch Nava, sie wollte pressen, musste es. Ihr gesamter Körper schien danach zu verlangen.

"Möchtest du dich hinlegen?", fragte Sybille fachmännisch und erhielt als Antwort einen fragenden Blick der werdenden Eltern.

"Nun man kann in vielen Positionen gebären. Ich habe es im Stehen gemacht und meine Schwägerin sogar auf allen vieren. Das kommt darauf an was dir am besten gefällt. Du kannst dich natürlich auch aufs Bett legen.", erörterte sie weiter. Ohne zu reden legte Nava sich auf das Bett. Killian setzte sich hinter sie und unterstützte damit ihren Rücken. Sybille positionierte sich am andere Ende des Bettes und drückte Navas Beine auseinander.

"Okay. Dann mal los, meine Kleine. Pressen." Und Nava presste, sie presste bis sie keine Luft mehr bekam und sich geschwächt gegen Killian lehnte. Aber es war nicht genug. Sybille und Killian ermutigten sie weiter, drängten sie weiter.

"Nur noch ein paar Mal. Ich liebe dich, Nava, du machst das so gut.", flüsterte er in Navas Ohr und schluchzend machte sie weiter. Die Zeit verging, das Pressen, die Schmerzen gingen weiter. Nava hörte nur Killians tiefe Stimme, spürte seinen Körper an ihrem. Alles andere verflog, ihr Verstand war wie weggefegt.

Und dann.

Ein Schrei.

Der Schrei eines neuen Lebens.

Und mit dem Schrei kam das Wissen.

Stockend geriet ihr Herz ins Schleudern und vor ihrem geistigen Auge sah sie all die Erinnerungen, die sie verloren oder tief in sich vergraben hatte. Sie sah ihre Mutter und ihren Vater, liebevoll und fürsorglich. Ihr Bruder, dessen Leben so eng mit ihrem Verbunden gewesen war. Die kleine Schwester, die Lachen in ihre Kindheit gebracht hatte. Nava konnte ihre Liebe spüren, fühlte sie in jeder Faser ihres Körpers. Wärme breitete sich in ihr aus und breit lächelnd genoss sie die glücklichen Erinnerungen ihrer Kindheit. Es waren so viele.

Doch mit dieser Liebe kam der unendliche Schmerz über ihren Verlust. Sie erinnerte sich an ihr Gespräch mit Magenta. Der Moment der ihr die geliebte Familie genommen hatte. Sie fühlte die Wut und die Trauer. Ein Riss in ihrem Herzen, denn sie mit Aggressivität und Gleichgültigkeit zu reparieren versucht hatte.

Jedoch hatte dieses Verhalten nur zu mehr Kummer geführt. Kasimirs Tod, ihr erster Mord und all die anderen von ihr begangen Taten. Endlich erkannte sie was sie wirklich gewesen waren. Verbrechen. Mit dieser Erkenntnis kamen furchtbare Schuldgefühle. Alles brach über ihr zusammen, wusch über sie hinweg wie eine große Welle. Nava glaubte in den Gefühlen zu ertrinken.

Doch etwas schützte sie, half ihr durch das Unwetter in ihrem Verstand. Zwei grüne Augen lächelten sie aus einem freundlichen Gesicht heraus an. Sein Name. Sie kannte seinen Namen wieder. Der Gedanke an ihn schuf Ordnung und Ruhe. Er dämpfte die Gefühle bis sie sie verstand und mit ihnen umgehen konnte. Langsam normalisierte sich ihr Herzschlag und die Schmerzen verschwanden. Zurück blieb die bittere Erkenntnis über sich selbst. Lachend hielt Sybille das Neugeborene hoch und zeigte es Nava stolz.

"Ein gesundes Mädchen. Ich durchschneide noch die Nabelschnur." Mit einer scharfen Schere schnitt sie die biologische Verbindung entzwei und drückte Nava das nackte, zitternde Wesen an die Brust. Diese atmete zittrig ein und besah sich ihre Tochter in bittersüßer Pein. Die Gefühle gespalten als sie in das winzige Gesicht sah. Das Kind war so schrumpelig, winzig klein und lila. Killian strich liebevoll über den Kopf des Babys und über Navas Arme.

"Das hast du toll gemacht.", meinte er gerührt und dankte Sybille für ihre Hilfe.

"Wir werden das Kind noch Waschen und auch deine Frau säubern. Dann könnt ihr euch für den Rest der Nacht ausruhen."Killian nickte einverstanden, doch Nava blieb still. Alles hatte sich verändert.

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Eine halbe Stunde später lag Nava mit dem Baby im Arm auf einem frisch überzogenen Bett. Sie trug auch ein neues Nachthemd mit Knöpfen vorne. Sybille hatte es ihr mit der Bemerkung gegeben, dass es besser für das Stillen sei. Nava hatte nicht protestiert, auch als das Baby gewaschen wurde hatte sie nichts gesagt. Jedes Wort das aus ihrem Mund kommen wollte, schien falsch, unwürdig. Auch Killian konnte sie nicht ansehen.

Was sie ihm angetan hatte. Die Gefangenschaft, die Folter. Das Ausmaß ihrer Verbrechen ihm gegenüber erdrückte jedes andere Gefühl. Wie konnte er überhaupt in einem Raum mit ihr sein? Wie konnte er sie mit diesem liebevollen Blick ansehen?

"Sie ist wunderschön.", flüsterte Killian, der Blick gefesselt von dem neugeborenen Mädchen. Tränen rannen über Navas Wangen und ein schluchzen trat aus ihrer Kehle.

"Und so unschuldig." Killians Blick wanderte zu ihr.

"Warum weinst du?", fragte er zunehmend beunruhigt. Zärtlich strich er über ihr schweißnasses Haare und drückte ihre zitternde Hand. Vorsichtig setzte Nava sich auf und brachte mehr Abstand zwischen sie.

"Es ist nichts, vermutlich nur Hormone. Hast du eine Idee wie sie heißen soll?" Er konnte nicht wissen, was passiert war. Sie war noch nicht bereit für ihre Taten gerade zu stehen. Noch nicht. Noch für kurze Zeit wollte sie seine Nähe haben. Killian lachte leise und sah sie verwirrt an.

"Ich? Sie ist deine Tochter. Hast du dir keine Gedanken gemacht?" Schief lächelnd schüttelte Nava den Kopf.

"Nein. Ich dachte wenn die Zeit kommt, werde ich es schon wissen, aber... Vielleicht ein Name mit einer Bedeutung? Etwas das sie daran erinnert, woher sie kommt." Es sollte ein Name sein, den ihre Tochter niemals vergessen würde. Ein Name besonders und mit Liebe erfüllt. Killian sah sie hingebungsvoll an und Nava empfand diese Hingabe für ihn, doch genau dies machte ihre Schuldgefühle noch schlimmer. Wie konnte sie seine Liebe in dem Wissen annehmen, dass sie ihm so furchtbare Dinge angetan hatte. Es war nicht recht.

Dies war nicht die Moral die ihre Eltern sie gelehrt hatten. Sie durfte diese Liebe nicht länger ihr eigen nennen. Musste sie verdrängen und Vergessen. Das Atmen fiel ihr schwer und neue Tränen sammelten sich in ihren rot umrandeten Augen.

Vorsichtig setzte er sich zu ihr auf das Bett und blickte neugierig auf das kleine Mädchen in ihren Armen. Ohne darüber nachzudenken, hielt Nava ihm das Kind hin und behutsam nahm Killian sie in seine starken Arme. Er schien vollkommen gefangen von dem Kind. Die Augen groß und fürsorglich.

"Das wird nicht leicht. Ich kenne nicht sehr viele Namen mit Bedeutung. Ich weiß, dass Chloe so etwas wie Frühling bedeutet. Gefällt dir der Name?" Navas Gesicht verzog sich und sie schüttelte widerwillig den Kopf. Killian seufzte theatralisch und dachte lange nach.

"Sie hat ganz schön was mitgemacht. Ich meine, die kleine hat schon Gefangenschaft und eine Flucht hinter sich. Gar nicht schlecht für jemanden der gerade mal eine Stunde alt ist."

"Wird sie davon traumatisiert sein?" Killian schüttelte lächelnd den Kopf.

"Nein, sieh sie dir doch mal an! Sie ist zäh und stark.", plötzlich erhellte sich sein Blick, "Zosia. So soll sie heißen." Überrascht dachte Nava über den Namen nach. Er war wunderschön. Einzigartig.

"Er bedeutet Weisheit. Es ist der Name meiner Großmutter. Eine taffe Frau, sie hat in ihrem Leben viel erlebt, aber niemals aufgegeben. Krieg, Hunger, ein weite Flucht nichts davon hat sie in die Knie zwingen können. Und das alles mit zwei Kinder im Arm. Meine Geschwister und ich haben sie sehr geliebt. Ich finde er passt zu der kleinen. Sie hat auch schon viel durchgestanden, wie ihre Mutter. Was sagst du?"

Killian grinste von einem Ohr zu anderen, ohne Zweifel sehr stolz auf seine Idee. Nava konnte nicht anderes als weinend zu lächeln. Die Tränen rannen mit ihren Gefühlen über die erhitzte Haut und fielen wie Regentropfen auf den Kopf des Kindes. Welcher Name würde besser passen, als einer mit so viel Liebe und Geschichte. Ihre Tochter würde wissen zu wem sie gehört.

"Möge sie die Weisheit haben, ihren Weg besonnen zu gehen.", zärtlich strich Nava über den Kopf der Neugeborenen und flüsterte: "Ich liebe dich, Zosia."

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Die ganze Nacht lag Nava wach während Killian mit Zosia im Arm seelenruhig schlief. Er wurde zwar jedes Mal wach, wenn die Kleine nach Nahrung verlangte, schlief jedoch sofort wieder ein nachdem Nava ihren Teil erfüllt und das Kind zurück in seine Arme gelegt hatte. Schlafen schien für Nava keine Option. Zu viele ihrer neuen oder besser alten Erinnerungen wollten erneut erlebt werden und ihre Aufmerksamkeit erlangen.

Außerdem war da die Frage wie es nun weiterging. Was würde sie Killian sagen, wenn die Sonne aufging. Minute um Minute, Stunde um Stunde kroch dahin bis schließlich die ersten Sonnenstrahlen des Tages ihren Weg durch das Fenster in ihr Zimmer fanden.

Nava spürte sie auf ihrem Gesicht, freute sich darüber wie stark das Gefühl nun war. Als hätte Zosias Geburt eine Truhe in ihrem Geist geöffnet und alles befreit. Selbst die Fähigkeit wahrhaftig zu fühlen. Auf einen Schlag erkannte sie ihren Weg. Den einzigen Weg. Es war das Beste für Zosia und für Killian. Dieser wurde von den Sonnenstrahlen geweckt und sah sie verschlafen an.

"Guten Morgen, Nava. Du bist schon wach?"

"Ich konnte nicht schlafen." Behutsam um das Kind in seinen Armen nicht zu wecken setzte Killian sich auf.

"Alles in Ordnung? Hast du Schmerzen?" Sein Gesicht war sorgenvoll verzogen. Nava schüttelte den Kopf.

"Nein. Alles gut. Ich hab nur...ich..."

"Nava, bitte was ist los. Du machst mir langsam Angst." Sie atmete zittrig ein und rief sich zur Ruhe. Sie musste stark sein. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, nun musste sie danach handeln.

"Ich kann mich erinnern." Verständnislos zog Killian die Augenbrauen zusammen.

"Was meinst du?"

"An alles. Ich kann mich an jeden Moment meines Lebens erinnern und ich weiß was ich in ihnen gefühlt habe. Meine Familie, die Akademie, meine Zeit im Krieg. Alles. Ich weiß alles."

Das letzte Wort hauchte sie und wartete dann geduldig auf Killians Reaktion. Diese war deutlich fröhlicher als es Navas Erinnerungen waren. Killian rückte näher, er wollte alles wissen. Sie spürte seine Neugierde und zum ersten Mal wollte sie alles erzählen, wollte ihr Herz frei machen.

"Ich höre dir zu.", flüsterte er kaum hörbar. Ruhig, doch von Kummer beseelt erzählte sie ihre Geschichte. Jedes Detail, alle Grausamkeit und die furchtbaren Taten, die sie begangen hatte. Nichts ließ sie aus und als sie schließlich, eine Stunden später verstummte, schwieg auch Killian.

Sein Gesichtsausdruck war neutral, doch Nava sah seine Gedanken rasen. Nur zu gerne hätte sie gewusst, was er dachte. Schließlich räusperte er sich und nickte langsam.

"Ich habe mir schon gedacht, dass du viel durchgemacht hast, aber das Ausmaß....Wow. Bärenstein hat sich da ein paar erstklassige Psychopathen geholt.", grob fuhr er sich über das länger werdende Haar, "und dein Freund. Es tut mir so leid um ihn. Bärenstein hat da echt eine wahnsinns Nummer an dir abgezogen."

"Das schlimmste ist, das es mir zu dem Zeitpunkt vollkommen egal war. Ich wusste, dass ich mich veränderte, aber das war mir gleich. Alles war egal, nur er nicht."

"Er hat dich wirklich geliebt." Nava nickte.

"Er war etwas Besonderes..." stockend atmete sie ein, "nur dank ihm bin ich nicht gänzlich verrückt geworden. Aber ich werde ihn nie wieder sehen. Sein Lächeln, seine Güte, diese wunderschönen grünen Augen. Alles von ihm ist fort. Da ist nichts mehr übrig. Genauso wenig wie von mir."

"Sag das nicht."

"Aber es ist wahr!", kummervoll biss sie sich auf die Unterlippe, "ich hab mich verloren und ich bin dir unendlich dankbar, denn du hast mir die Teile meiner selbst zurückgebracht, aber zusammenfügen muss ich sie alleine."

"Du willst gehen? Wohin? Aber was ist mit Zosia? Sie ist da draußen nicht sicher." Traurig sah Nava auf das kleine Mädchen in seinen Armen. Sie hatte leichtes blondes Haar und sah sie aus braunen Augen an. Hektisch atmend flüsterte sie:

"Ich...ich kann sie nicht bei mir behalten. Das wäre....nicht fair. Sie verdient jemand besseres."

"Du bist ihre Mutter.", versuchte Killian die Pain seiner Liebsten zu verringern. Entschieden drückte er ihre Hand. Nava sah ihn an und Killian erkannte, dass sie ihre Entscheidung längst gefällt hatte.

"Sie braucht jemanden, der sie lieben kann. Ohne Furcht und ohne Schuldgefühle. Ich bin dieser jemand nicht. Vielleicht werde ich es irgendwann sein, aber nicht jetzt und nicht heute."

Das Kind begann zu schreien und ohne zu zögern, beugte Killian sich über sie, streichelte sie, beruhigte sie.

"Sch, sch, Zosia. Ich bin da. Papa ist da.", beruhigte Killian das kleine Mädchen und wusste um die schwerwiegende Entscheidung die er mit diesen einfachen Worten getroffen hatte. Er würde das Mädchen großziehen, würde ihm Vater und Mutter ersetzen. Überwältigt sah Killian auf und blickte in Navas tränennasses Gesicht.

"Du bist der Richtige. Du warst es von Anfang an." Deshalb war da Grün in seinen Augen gewesen. Etwas in ihr hatte immer gewusst, dass Killian der einzige war. Der einzig Richtige.

"Ich will dich nicht verlieren. Bitte bleib bei uns. Wir können immer noch nach Ohama gehen. Wir können ein neues Leben anfangen." Langsam schüttelte sie den Kopf.

"Ich kann nicht. Ich bin nicht gut für euch." Nicht gut genug.

"Nava. Ich liebe dich.", drängte Killian verzweifelt. In seinen Augen schimmerten Tränen, sein Kiefer war angespannt. Langsam fuhr die Frau vor ihm mit der Hand über ihre langen Haare und färbte sie mit dieser Geste blond. "Ich bin nicht Nava. Der Name hat nie zu mir gehört. Und du wirst die Richtige finden. Genau wie Zosia wirst auch du jemanden finden, der zu dir gehört. Nur ich bin das leider nicht." Killian schniefte und lachte leise.

"Dummkopf. Du weißt anscheinend nicht was Liebe heißt. Geh wenn du denkst, dass es dir helfen wird. Aber ich werde warten, genauso wie Zosia. Wir werden ein Zuhause bauen und wenn du bereit bist, kommst du zu uns zurück."

Die Hoffnung strahlte hell in seinen Augen und Nava konnte nicht anders als ihm zu glauben. Vielleicht wenn sie wirklich bereit war, wenn sie für ihre Sünden gebüßt hatte, wäre er der sichere Hafen, der ihr Frieden geben konnte.

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Sie verließen das Haus noch bevor ihre Gastgeber erwachten, schlichen sich durch das erwachende Dorf und verschwanden so schnell wie sie gekommen waren. Killian saß am Steuer und sah stur auf die Straße. Zum einen wollte er sichergehen, dass ihm im Straßenverkehr nichts entging, zum anderen konnte er Nava einfach nicht ansehen.

Unendlich zärtlich hielt sie das Kind an ihre Brust und sang etwas. Es hörte sich furchtbar an. Sie hatte einfach keine Singstimme, doch in diesem Moment hätte Killian ihr ewig zuhören können.

Er liebte sie so sehr. Der Gedanke sie zu verlieren schmerzte, doch er konnte nicht behaupten ihre Motive nicht zu verstehen. Natürlich konnte er sie nachvollziehen, besonders nachdem sie ihm ihre gesamte Lebensgeschichte erzählt hatte. Und egal wie sehr er sich wünschte, sie bei sich behalten zu können, würde ihm eine traurige, von Schuldgefühlen zerfressene Nava nicht gefallen.

Für Zosia wäre es noch schlimmer. Sie würde nicht verstehen können, warum ihre Mutter diese Schuld mit sich trug. Auch wenn er es nicht zugeben wollte, waren ihre Motive ehrlich und selbstlos. Manchmal musste man einander loslassen um zueinander zu finden. Erst wenn Nava frieden fand, würden sie ein gemeinsames Leben beginnen können. An einer Straßengabelung hielt er an. Das Herz schlug wild und sein Körper wollte sich nicht bewegen.

"Ab hier ist sind es nur noch ein paar Kilometer nach Ohama. Ich werde mit Zosia gehen. Du kannst das Auto haben und die Vorräte. Du wirst sie sicher brauchen."

"Danke", hauchte Nava. Bekümmert sah er zu wie sie ihrer Tochter einen letzten Kuss gab. Das Kind schien zu spüren was es verlor und begann zu schreien. Killians Beschützerinstinkt folgend griff er nach der kleinen und drückte sie an seine Brust. Sofort beruhigte sie sich wieder.

"Euch wird es gut gehen?" Nava hatte es wohl als Feststellung aussprechen wollen, doch der fragende Ton offenbarten Killian Zweifel. Er könnte sie überreden, könnte sie drängen, könnte ihr ein schlechtes Gewissen machen und sie damit zwingen bei ihnen zu bleiben. Versucht sah er in ihre großen braunen Augen, stahl sich einen letzten Kuss und stieg aus. Die Würfel waren gefallen.

"Es wird uns gutgehen." Damit drehte er sich um und verließ die Liebe seines Lebens. Ihr Kind in seinen Armen. Während er am Straßenrand entlang seinen Weg nach Ohama ging, dachte er an die schönen Momente. Er wollte das Bild von Navas Lächeln nicht verlieren, wollte in der Lage sein Zosia von ihr zu erzählen. Wer wusste schon, wie lange sie getrennt sein würden.

"Alles wird gut, Zoscha. Wir kriegen das schon hin.", murmelte er seiner neuen Tochter zu.

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Die Nacht kam sehr viel schneller als sie es erwartet hatte. Die Tage wurden bereits deutlich kürzer und mit ihnen ihre Möglichkeit zu jagen. Es würde ein harter Winter werden. Eingewickelt in zahllose Decken versuchte sie sich warm zu halten und endlich einzuschlafen. Seit Tagen wehrte sich ihr Körper gegen den dringend benötigten Schlaf. Immerhin hatte sie vor kurzem ein Kind auf die Welt gebracht. Sie war erschöpft.

Körperlich wie Emotional. Aber schlimmer noch, sie war alleine. Unruhig sah sie in den Himmel hinauf, blickte dem sturen Mond entgegen und wünschte sich ihre Familie, ihre Freunde zurück.

Wünschte sich Killian zurück. Nur langsam nahm sie der Schlaf mit ins Traumland. Als sie die Augen aufschlug, erkannte sie eine vertraute Umgebung. Es war die Blumenwiese auf der sie Green das erste Mal begegnet war. Hinter den Bäumen am Wiesenrand sah sie die blutrote Sonne untergehen. Ein leichter Wind riss die blonden Haare mit und ließ ihr schwarzes Kleid flattern.

Dieser Ort war der Beginn ihrer Reise gewesen, der Reise zurück zu sich selbst. Es war passend das sie hier enden würde. Von weitem schon konnte sie Green erkennen. Gemütlich schlenderte er auf sie zu und gab ihr damit Zeit sich auf den Abschied vorzubereiten. Ihr alter Freund trug eine Jeanshose und ein schlichtes weißes Tshirt.

Mit jedem Schritt wurde ihr Herz trauriger. Schließlich stand er dicht neben ihr, ein gutmütiges Lächeln auf den Lippen.

"Kannst du mir den Namen deines Kindes verraten?", fragte er mit einem Blick auf ihren flachen Bauch. Er entsprach keineswegs der Wahrheit, aber ihre Tochter war nicht mehr in ihr und das spiegelte sich in ihrem Unterbewusstsein wieder. Sie schüttelte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe.

"Viel lieber würde ich dir meinen Namen sagen.", meinte sie und Kummer riss ihr fast das Herz aus der Brust. Greens Gesichtsausdruck blieb friedlich, besonnen lächelte er sie an. Wartete auf ihre wichtigen, einfachen, schmerzenden Worte. Sie atmete tief durch und ließ los.

"Ich heiße Kyrilla Henotello. Kyrie. Und du...du bist Zeus. Der Mann, den ich geliebt habe. Der Mann, den ich getötet habe."

"Der Mann, der dir vergibt.", flüsterte Green und umarmte sie fest. Kyrie spürte seine Wärme, seine Nähe und wusste auch, dass dies alles nur ihr Unterbewusstsein war. Nichts davon war real, egal wie echt es sich anfühlte. Ihre Tochter besaß wohl heilende Fähigkeiten und hatte während der Schwangerschaft angefangen Kyries geistige Verletzungen zu heilen. Green oder auch Zeus war ein Produkt dieser Heilung, ein Mittel um sie dazu zu bringen ihren Gefühlen, ihrer Schuld und der Trauer entgegen zu treten.

Es hatte funktioniert, denn als sie in Greens Gesicht sah, wurde ihr bewusste, wie sehr Zeus sie geliebt hatte und sich wünschen würde, sie hätte ein friedvolles Leben. Er würde ihr nicht die Schuld geben, nur sie selbst gab sich die Schuld. "Es tut mir leid."  Green küsste sie auf die Stirn.

"Ich bin froh, dass du es wieder weißt. Was wirst du nun tun?", fragte er freundlich und begann langsam zu verblassen. Kyrie schniefte und wischte sich die Tränen von den Wangen.

"Ich weiß es nicht.", flüsterte sie.

Anmerkung der Autorin: Ich habe so lange an diesem Kapitel gearbeitet. Ich wollte die Spannung, die Qual und Kyries Gefühle perfekt beschreiben. Ich hoffe so sehr, dass es mir gelungen ist.

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